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No 668

“In der letzten Woche wurde bekannt, dass die amerikanische Philosophin Nancy Fraser ihre im Rahmen der Albertus-Magnus-Gastprofessur vorbereiteten Vorlesungen und Seminare an der Universität zu Köln nicht halten darf. Es geht also um die Aberkennung einer akademischen Ehrung, zugleich um einen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. Denn die Rücknahme der Ehrung wurde mit ihrer Unterschrift unter den umstrittenen Brief „Philosophers for Palestine“ im November 2023 begründet, der in der Tat einen „Genozid“ an den palästinensischen Arabern beklagt und einen Boykott staatlicher israelischer akademischer und kultureller Institutionen fordert (allerdings explizit kein Ende des Dialogs mit israelischen Kulturschaffenden und Intellektuellen). Der Rektor der Kölner Universität befand sich, als diese Ausladung bekannt wurde, in Israel.[…]
Die nun ausgesprochene Ausladung und das faktische Auftrittsverbot widersprechen der Wissenschaftsfreiheit, die vom Grundsatz wissenschaftlicher Autonomie ausgehen. Es geht nicht einfach um den Eingriff in das Gut der Meinungsfreiheit – denn tatsächlich kann jede Institution bestimmen, ob sie es opportun findet, dass diese oder jene Meinung bei ihr auch propagiert wird. Es geht hier um das Verbot einer wissenschaftlichen Betätigung, um das Verbot, Argumente auszutauschen, die der Wahrheitsfindung dienen. Dass dieses Verbot eine Autorin jüdischer Herkunft trifft, verleiht dem Vorgang eine besondere Note. […]
Sie verkennen, dass Wissenschaftsfreiheit genauso wie die Kunstfreiheit als verfassungsrechtliche Grundfreiheiten Abwehrrechte gegen den Staat beinhalten und gerade diejenigen schützen, die gesellschaftlichen Erwartungen nicht entsprechen. Es sind körperschaftliche Privilegien, für die lange gekämpft wurde. Wer meint, dass die Inhaber von Freiheitsrechten gelegentlich vor der Inanspruchnahme ihrer Freiheit bewahrt werden müssen, sollte sich überlegen, ob und wie lange ein Gemeinwesen diesen abschüssigen Pfad entlangschlittern kann, ohne sich dabei die Knochen zu brechen.”

(Ulrich van Loyen, Medientheoretiker – Der Fall Nancy Fraser: Ist das noch Carl Schmitt oder schon betreutes Denken?, der Freitag, 12.4.2024)

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No 667

“Welt: >>Was genau hat Ursula von der Leyen denn zerstört?<<
Sonneborn: >>Sonneborn: Wo soll man da anfangen? Als wir zuletzt im EU-Wertekatalog geblättert haben, ist uns kaum eine Position begegnet, gegen den die Kommission von der Leyen noch nicht verstoßen hätte. Das beginnt mit ihrer blanken Arbeitsverweigerung auf dem Gebiet der Diplomatie, übrigens eine europäische Erfindung aus dem 13. Jahrhundert. Zum Verrat am europäischen Friedensgedanken gesellt sich jener an unserem gesellschaftlichen Grundgerüst – von Aufklärung und Liberalismus keine Spur, stattdessen zahllose Autoritarismen, Grundrechtseingriffe bis hin zu Chatkontrolle und biometrischer Massenüberwachung. Das zieht sich weiter über die in den Verträgen nicht vorgesehene Übernahme politischer Gestaltungsbereiche, die im Kompetenzbereich der EU-Mitgliedsstaaten (nicht der Kommission) liegen: Gesundheitspolitik, Militär und Rüstung, Medien- und Informationsregulierung, Datenhandel, angeschweißte Milchtütendeckel. Und es geht weiter mit den Versprechungen von der Leyens, Demokratisierung und Transparenz in der EU voranzutreiben, die sich als glatte Lüge erwiesen haben: nie war die EU intransparenter, undemokratischer, prinzipieninkonsistenter als sie es heute ist, nie hat sie den unbedingten Vorrang des Rechts und ihre eigenen Rechenschaftspflichten dreister missachtet als unter von der Leyen. Es endet schließlich mit einer bis über beide Ohren verschuldeten EU, die ihren siebenjährigen Haushalt nicht nur zur Halbzeit schon ausgegeben, verplant, verbraucht, verjuxt und verplempert hat, sondern ihren ebenfalls in der Kreide sitzenden Mitgliedstaaten nun eine Austeritätspolitik aufzwingt, die zum weiteren Verfall der Infrastrukturen und zur weiteren Verarmung der Mittel- und Unterschichten führen muss. Genügt das?<<“

(Martin Sonneborn, EU-Abgeordneter und Humanist – Interview mit der Welt aus dem Februar 2024, Twitter-Kanal von Martin Sonneborn, 7.4.2024)

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No 666

“[Journalist:] Und Sie zitieren den israelischen Präsidenten, den Ministerpräsidenten, den Verteidigungsminister und einige Spitzenmilitärs. Das sind aber nur Zitate, die aus Reden oder anderen Zusammenhängen stammen. Ich würde Sie gern fragen, ob Sie ein durch die Regierungs geschriebenes Dokument mit der klaren Absicht Völkermord zu begehen, haben?
[Francesca Albanese:] Denken Sie, dass in Ruanda und in Bosnien-Herzegowina irgendein Regierungsvertreter ein Dokument geschrieben hat, in dem geschrieben stand: >>Ich will Völkermord begehen<<? Haben Sie irgendetwas dieser Art gesehen? Ich werde Ihnen diese Frage beantworten: Nein! So funktioniert das nicht. Jene Aussagen sind nur die Spitze des Eisbergs, weil ich eine Wortbegrenzung in meinen Berichten habe, die sehr streng ist. Ansonsten könnten wir eine Enzyklopädie verfassen zu dem, was gesagt und getan wurde. Und ich sagte es und ich meine es. Wenn der internationale Strafgerichtshof es ernst meint mit der Untersuchung dessen, was Israel in Gaza seit dem 7. Oktober begangen hat, allein seit dem 7. Oktober, dann wird er beschäftigt auf Jahrzehnte sein.”

(Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete – Q&A with Francesca Albanese, Special Rapporteur on the occupied Palestinian territory, Pressekonferenz in Genf am 27.3.2024, YouTub-Kanal UN Human Rights Council, 27.3.2024, Übers. Maskenfall)

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No 665

“Deutschland ermächtigt sich selbst zu Kriegen und militärischen Interventionen – auch für wirtschaftliche Interessen. Der grüne Wirtschaftsminister Habeck gibt die Marschrichtung bei der Grundsteinlegung einer neuen Munitionsfabrik klar vor: »Wir müssen um die Wettbewerbsfähigkeit Europas in der Welt kämpfen. Das schließt ausdrücklich auch den militärischen Komplex mit ein.« Unter Führung der USA begann schon im letzten Dezember der Einsatz »Prosperity Guardian« (Wächter des Wohlstands). Und der Bundestag gab gerade grünes Licht für den Einsatz der Fregatte Hessen im Roten Meer.
Die Welt ist der Kriege müde. Besonders die Menschen im globalen Süden wissen, was imperiale Politik und Militarismus des Westens in den überfallenen Ländern angerichtet haben: Millionen von Toten, Zerstörung und Hass. Glaubt die Bundesregierung allen Ernstes, dass die Staaten und Völker, die europäischen Kolonialismus und US-Imperialismus, samt der damit verbundenen völkerrechtswidrigen Kriege, kennen, auf neokoloniale Abenteuer unter deutscher Führung warten?”

(Georg Rammer, Publizist – Friedenstüchtig werden, Ossietzky, März 2024)

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No 664

“Man kann keine Lösung finden, indem man so einseitig ist, nur ein bestimmtes Problem zu betrachten und 60 Jahre an Gräueltaten wegzuradieren. Die Lösung besteht nicht nur darin, die Geiseln freizulassen. Was ist mit den Siedlungen? Wie sieht es nun mit dem Verhalten der Siedler aus? Es geht täglich weiter! Was ist mit der Enteignung? Ihr Land, ihre Rechte, ihre Würde, ihre Männer, ihre Frauen, ihre Kinder? Sind diese nicht von Belang? Wohin haben wir unsere Menschlichkeit geworfen? Warum diese Heuchelei? Warum diese selektive und ambivalente Haltung gegenüber einer Ethnie und gegenüber der anderen? Liegt es daran, dass sie farbig sind oder einer anderen Religion angehören?”

(Anwar Ibrahim, Ministerpräsident Malaysias – Pressekonferenz mit Olaf Scholz in Berlin am 11.3.2024, YouTube-Kanal von Middle East Eye, hochgeladen am 14.3.2024, Übers. Maskenfall)

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No 663

“Dies sind winzige Figuren von Kindern an den Wänden unseres Studios. Eine für nahezu jedes der 12.800 Kinder, die in Gaza nach Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza gestorben sind. Mit der Zahl der Todesopfer kann man, ehrlich gesagt, kaum noch Schritt halten. Luftangriffe und nun auch Unterernährung und Dehydrierung töten sie. Hier ist ein Blick in das Kamal-Adwan-Krankenhaus im Norden des Gazastreifens, wo mehrere Kinder verhungert sind. […]
Yourzhan Al-Kafarnah war gerade 10 Jahre alt, als er am Montag starb. Und einen Tag später schlug UNICEF Alarm. Die Babys Tausender Frauen, die im nächsten Monat im Gazastreifen ein Kind zur Welt bringen sollen, drohen zu sterben. Frühgeburten nehmen zu. Dehydrierte und traumatisierte Mütter haben Schwierigkeiten beim Stillen. Sie können keinen Muttermilchersatz finden. Sie können kein sauberes Wasser finden.
Und ohne Hilfe könnte die Gefahr durch eine Hungersnot jene durch Luftangriffe noch übertreffen. Wie am vergangenen Wochenende in Rafah, bei dem die fünf Monate alten Waseem und Niamhwanda getötet wurden, Zwillinge, auf die ihre Eltern lange gewartet hatten und mit denen diese laut Reuters schließlich elf Jahre nach ihrer Heirat schwanger wurden.
Ihre Mutter Ronya sagte der Nachrichtenagentur: >>Wir haben geschlafen. Wir haben nicht geschossen und wir haben nicht gekämpft. Was ist ihre Schuld? Was ist ihre Schuld? Was ist ihre Schuld?<< […]”1

(Brianna Keilar, CNN-Journalistin – CNN News Central vom 8.3.2024, Twitter-Kanal von Brianna Keilar, 8.3.2024, Übers. Maskenfall)

  1. Anm. JJ: CNN lässt es hier zu, das Leid in Gaza und die Grausamkeit der israelischen Kriegsführung zu erahnen. Deutsche Medien könnten sich ein Beispiel daran nehmen, werden sie jedoch nicht. Und so bleibt nur zu hoffen, dass die übrigen Staaten dieser Welt zunehmend Druck gegen Israel ausüben, um das zu verhindern, von dem der internationale Gerichtshof anerkannt hat, dass es plausible Belege für das Risiko eines Völkermords gibt. Und es bleibt zu hoffen, dass die Mitverantwortlichen aus Politik und Medien hierzulande, wegen der politischen, finanziellen und militärischen Unterstützung Israels, eines Tages strafrechtliche Konsequenzen erfahren werden. Auch Letzteres wird wohl leider nicht so sein. Vielleicht geschehen aber dennoch Wunder, Zeiten ändern sich schließlich rasant. []
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No 662

“DEN HAAG, 1. März 2024. Nicaragua hat heute beim Internationalen Gerichtshof Klage gegen Deutschland eingereicht. Nicaragua erhebt den Vorwurf wegen vermeintlicher Verstöße Deutschlands gegen seine Verpflichtungen aus dem Übereinkommen zur Verhütung und Bestrafung von Verbrechen des Völkermord (die >>Völkermordkonvention<<), die Genfer Konventionen von 1949 und ihre Zusatzprotokolle, als >>unübertretbare Grundsätze des humanitären Völkerrechts<< und andere Normen des allgemeinen Völkerrechts in Bezug auf die besetzten palästinensischen Gebiete, insbesondere den Gazastreifen.
Der Antragsteller stellt fest, dass >>jede einzelne Vertragspartei der Völkermordkonvention nach der Konvention verpflichtet ist, alles Mögliche zu tun, um die Begehung eines Völkermords zu verhindern<< und dass seit Oktober 2023 >>eine anerkannte Gefahr eines Völkermords besteht gegen das palästinensische Volk, die sich vor allem gegen die Bevölkerung des Gazastreifens richtet<<. Nicaragua argumentiert, dass Deutschland durch die Bereitstellung politischer, finanzieller und militärischer Unterstützung für Israel und die Streichung der Mittel für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) >>die Begehung eines Völkermords erleichtert, und in jedem Fall versagt hat in Bezug auf seine Verpflichtung, alles zu tun, um die Begehung eines Völkermords zu verhindern.<<“

(Internationaler Gerichtshof – Proceedings instituted by the Republic of Nicaragua against the Federal Republic of Germany on 1 March 2024, Pressemitteilung, Webseite des Internationalen Gerichtshofs, 1.3.2024, Übers. Maskenfall)

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No 661

“Auch Olaf Scholz dürften absehbare Finanzierungslücken nicht entgangen sein, aber er geht darüber hinweg, um zu verschleiern, wie sehr das Land und seine Bürger für einen Zwei-Prozent-Rüstungshaushalt nicht nur vereinnahmt, sondern zur Kasse gebeten werden. Man kann erwarten oder darf hoffen, dass Scholz 2028 nicht mehr regiert. Aber er stellt jetzt die Weichen und bietet Deutschland innerhalb einer verunsicherten NATO als Führungs- und Frontstaat an, die das dankbar annimmt. […]
Der Ruf nach Frieden und Verhandlungen für die Ukraine hingegen wird trotz deren prekärer Lage nicht nur verworfen, sondern seit nunmehr zwei Jahren systematisch denunziert und verunglimpft. Im Sommer 2022 kam Scholz jede Contenance abhanden, als er bei einer Kundgebung Demonstranten, die gegen fortgesetzte Waffenlieferungen an Kiew protestierten, als >>gefallene Engel<< beschimpfte, >>die aus der Hölle kommen, weil sie letztendlich einem Kriegstreiber das Wort reden<<.
Mit anderen Worten, es hat etwas Diabolisches, der Sorge um den Frieden Ausdruck zu geben, indem verlangt wird, einen Krieg zu beenden, statt ihn immer weiter anzuheizen, sodass Grauen und Zerstörung nicht abreißen. Seit Scholz Friedensaktivisten beschimpfte, sind nicht nur anderthalb Jahre vergangenen, es gibt in der Ukraine, und es gibt auf russischer Seite Hunderttausende von Kriegstoten mehr, einen Verlust an ziviler Infrastruktur im Kriegsgebiet, die für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte irreversibel sein wird.
Ein Regierungschef, der darauf vereidigt ist, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, sollte wissen, was unter diesen Umständen zu tun ist.”

(Lutz Herden, Journalist und Autor – Rüstungsausgaben: Scholz nimmt ein ganzes Land in Haftung, der Freitag, 14.2.2024)

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No 660

“In einer wegweisenden Entscheidung ordnete das Haager Berufungsgericht am 12. Februar 2024 der niederländischen Regierung an, die Lieferung von Teilen für F-35-Kampfflugzeuge an Israel einzustellen, weil >>eindeutige Gefahr<< bestehe, dass schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht (IHL) begangen würden mit den Flugzeugen in Gaza. In ihrer einstimmigen Entscheidung stützten sich die drei Richter auf den Gemeinsamen Standpunkt der Europäischen Union (EU) zu Waffenexporten und den Waffenhandelsvertrag in ihrer Anwendung auf niederländisches Recht, die Kriterien darlegen, anhand derer Militärexporte beurteilt werden müssen, um das Missbrauchsrisiko einzuschätzen. Das Urteil lieferte wichtige Erkenntnisse über die Art dieser Risikobewertungen, die erhebliche Auswirkungen auf künftige Rechtsstreitigkeiten haben können.
[…]
Die von Oxfam Novib, PAX und der Rights Forum Foundation eingereichte F-35-Beschwerde erfolgt vor dem Hintergrund wachsender internationaler Besorgnis über Waffenexporte nach Israel im Zusammenhang mit seinem Militäreinsatz im Gazastreifen. Spanien beispielsweise hat seit dem 7. Oktober 2023 alle Waffenverkäufe und -exporte nach Israel ausgesetzt. Italienische Beamte bestätigten ihrerseits, dass ihre Regierung die Erteilung neuer Exportlizenzen für Waffenverkäufe nach Israel gestoppt hat. Die belgische Regionalregierung Walloniens gab bekannt, dass sie die Genehmigungen für den Versand von Munition nach Israel ausgesetzt habe, seit der Internationale Gerichtshof am 26. Januar seine Anordnung zu einstweiligen Maßnahmen im Fall Südafrika gegen Israel erlassen habe. Diese Aussagen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, da die Lieferungen möglicherweise noch im Rahmen älterer Exportlizenzen und -genehmigungen laufen, die vor dem 7. Oktober 2023 ausgestellt wurden.”

(León Castellanos-Jankiewicz, Wissenschaftler am Asser Institute for International and European Law – Dutch Court Halts F-35 Aircraft Deliveries for Israel, Verfassungsblog.de, 14.2.2024, Übers. Maskenfall)

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No 659

“Für Deutschland gilt das Engagement für Israel als Test dafür, ob das Land seine Nazi-Vergangenheit überwunden hat. Das ist Politik als Psychologie oder besser gesagt als Psychoanalyse. Durch Vorsicht oder die öffentliche Vernunft werden keine Grenzen mehr gesetzt. Die Realität spielt keine Rolle, was zählt, ist die Erlösung. Wie Daniel Marwecki in seinem Werk >>Deutschland und Israel<< argumentiert, dient Israel >>als Verdrängungsobjekt, auf dem unterschiedliche Vorstellungen deutscher nationaler Identität artikuliert werden können.<< Es handele sich um >>eine Form der Versöhnung, die darauf abzielt, Deutschland vom Antisemitismus zu reinigen, der immer wieder in den Blick zu geraten scheint.<< […]
Innerhalb der Traumlandschaft der deutschen Rückkehr und Erlösung und damit auch eines Großteils des Westens gleicht die israelische Traumlandschaft einem kleineren konzentrischen Kreis, dessen Fantasien von der endgültigen Kontrolle über ein heiliges Land sprechen. Wie Daniella Weiss, eine der Anführerinnen der israelischen Siedlerbewegung, es kürzlich ausdrückte: >>Die Siedler müssen das Meer sehen. Das ist eine logische und romantische Forderung.<< Ein israelischer Immobilienmakler bewarb Strandvillen, die den zerstörten Gazastreifen digital überlagerten, mit der Botschaft >>Wach auf, ein Haus am Strand ist kein Traum.<< […]
In der Debatte der letzten Monate haben wir ein erschreckendes Ausmaß an Fantasien erlebt. Ein Fernsehmoderator sagte im Fernsehen, dass es keine palästinensischen Christen gäbe. Ein israelischer Amtsträger fügte hinzu, dass es in Gaza keine christlichen Kirchen gebe. Als der palästinensische Dichter Refaat Alareer bei einem israelischen Luftangriff getötet wurde, startete eine organisierte Online-Aktion, um ihn als Terroristen darzustellen. Alles andere wäre ein narrativer Verstoß. Eine der größten und einflussreichsten Zeitungen Deutschlands behauptete unglaublicherweise: >>Free Palestine ist das neue Heil Hitler.<< Die systematische Zerstörung fast aller Krankenhäuser und Schulen in Gaza wird als notwendig dargestellt, um die Hamas zu besiegen. Das Schweigen über die Tötung so vieler Zivilisten wird nicht aufgezwungen, sondern von denen akzeptiert, denen jede widersprüchliche Tatsache den vollen Genuss der Fantasien verderben würde, in denen der Westen wieder einmal das Böse bekämpft, und dieses Mal hat das Böse keine bewaffneten Divisionen, mit denen es kämpfen könnte zurück. […]
In Fantasien oder Träumen haben andere Menschen keine wirkliche Existenz. Sie sind lediglich Projektionen des träumenden Selbst, und das Ziel besteht darin, eine Welt zu schaffen, in der Wünsche keinen Widerstand von außen finden. In dieser Versuchung liegt eine große Gefahr, die in Israel bereits in Vorschlägen zum Ausdruck kam, zwei Millionen Palästinenser aus Gaza auf den Sinai zu überführen.”

(Bruno Maçães, Autor und ehem. Staatsminister für Europaangelegenheiten von Portugal – Gaza and the End of Western Fantasy, TIME, 10.1.2024, Übers. Maskenfall)