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No 272

“Mathematische Modelle haben den Anspruch, abstrakte, idealisierte Abbilder der von ihnen beschriebenen Aspekte der Wirklichkeit zu sein. Die hier betrachteten volkswirtschftlichen Modelle werden diesem Anspruch nicht gerecht: Es handelt sich bei ihnen nicht um Abstraktionen oder Idealisierungen, sondern um Spezialfälle, die fälschlich für das Ganze genommen werden: Von mehreren Möglichkeiten (fallende, konstante oder steigende Grenzkosten, fallende, konstante oder steigende Arbeitsangebotsfunktion usw.) wird diejenige als gegeben postuliert, die gerade in die eigene Sichtweise und Argumentation passt, ohne Rücksicht auf ihre tatsächliche Bedeutung. Dass sich auf diese Weise keine Erkenntnisse über den Untersuchungsgegenstand gewinnen lassen, die über die eigenen Vorurteile hinausgehen, ist evident. […]
Auch ihren Urhebern können diese Fehler kaum verborgen geblieben sein. Ein Harvard-Professor, der mit einem Modell die angeblich zu hohen Tarif- und Mindestlöhne als schuldig an der Arbeitslosigkeit ausmacht, weiß natürlich oder sollte jedenfalls wissen, dass er hundertzwanzig Seiten vorher im selben Buch die Annahmen eben dieses Modells bereits widerlegt hatte. Der Eindruck drängt sich auf, dass ein solches Vorgehen nicht einfach fehlerhaft ist, sondern absichtsvoll: Es geht weniger darum, Erkenntnisse zu gewinnen, als vielmehr bestimmte vorgefasste Sichtweisen zu vermitteln, nämlich die einer Harmonielehre des Marktes, der >>Gleichgewichtsidee<<. Man muss keine besonders strengen Maßstäbe anlegen, um dieses Verfahren als unwissenschaftlich und ideologisch zu charakterisieren.
Es wäre deshalb schon viel gewonnen – und kritischen LeserInnen von wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbüchern allemal zu empfehlen -, würde man jedem Modell einen >>Beipackzettel<< anheften, auf dem festgehalten ist, auf welchen Annahmen es beruht und unter welchen Bedingungen es anwendbar ist, also z. B. >>Unter Bedingungen industrieller Massenproduktion nicht geeignet<<. Da dann allerdings die Mehrzahl der einführenden Lehrbücher vom Markt genommen werden müsste, ist dieser Vorschlag nicht besonders realistisch. Einen praktikableren habe ich jedoch nicht.”

(Claus Peter Ortlieb, Professor für mathematische Modellierung an der Universität Hamburg – Methodische Probleme und methodische Fehler der mathematischen Modellierung in der Volkswirtschaftslehre, Januar 2004)

Jascha Jaworski

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