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„NAIRU“ – ein irreführendes Konzept besonders in Krisenzeiten

Dieser Beitrag wurde auf Makroskop im Oktober erstveröffentlicht und ist hier nun frei zugänglich.

Auf Basis dieses theoretischen Konzepts wird in der EU Politik gemacht. Die theoretischen Mängel dieser Theorie tun ihrer Nützlichkeit keinen Abbruch. Sie eignet sich ausgezeichnet, eine gezielte Nachfrage- und Investitionspolitik zu unterlassen und auf diese Weise den nötigen Druck in Richtung „struktureller Reformen“ aufzubauen.

Es gibt einen Lieblingsausdruck im vorherrschenden ökonomischen Denken, der in ganz entscheidender Weise die europäische Wirtschaftspolitik und damit zugleich die Zukunft von hunderten Millionen Menschen bestimmt. Nein, hier ist nicht der Begriff  „Wettbewerbsfähigkeit“ gemeint. Auch dieser liefert natürlich ein Frame, das die Gedanken in weiten Teilen der politischen Elite auf sehr effektive Weise formiert und den Bevölkerungen ein Bild vor Augen führt, durch das sie teils massive Lohn- und Sozialkürzungen hinnehmen, da ja die „Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ in der bekannt wenig rücksichtsvollen und einseitigen Variante für unausweichlich erklärt wird. Gemeint ist hier jedoch eine Art ideologischer Cousin der „Wettbewerbsfähigkeit“, der gern in Adjektivform auftritt, nämlich in Form des Wörtchens „strukturell“.

Er findet sich etwa in den Ausdrücken „strukturelle Reformen“, „strukturelle Verschuldung“ oder „strukturelle Arbeitslosigkeit“ und erzeugt dabei immer wieder die gleichen Bilder in vielen (und v.a. politisch entscheidenden) Köpfen. Was erst einmal als ökonomischer Problemgegenstand mit dem Adjektiv „strukturell“ belegt wurde, bei dem braucht man gar nicht mehr über die Abhängigkeit von makroökonomischen Rahmenbedingungen nachzudenken, vielmehr muss gleich tief in die Konstitution des jeweiligen Gegenstandes (Arbeitsmarkt, Rentensystem, Sozialsystem etc.) eingegriffen werden. Das ist dann nicht nur – das zeigte die Erfahrung der letzten Jahrzehnte – mit teils massiven Nachteilen für die Betroffenen verbunden, bedeutet den Bruch bisheriger Erwartungen, tut weh und ruft Widerstand hervor, sondern soll am Ende eben auch der einzig erfolgreiche Weg gewesen sein (egal ob er es nun war oder nicht). Mit diesen Bildern arbeitete die Agenda 2010, so wurde die Troika-Krisenpolitik durchgesetzt und so werden auch die „Schuldenbremsen“, die ja die „strukturellen Defizite“ in den EU-Mitgliedsstaaten bekämpfen sollen, als Tugendlehre und Zukunftsprogramm ausgewiesen. Dass etwa die „Schuldenbremsen“ zunehmenden Druck in Richtung Abbau öffentlicher Beschäftigung ausüben in einer Zeit, in der der Bevölkerungsbedarf größer wird, öffentliche Investitionen verhindern in einer Zeit, in der die Infrastruktur zukunftsfest gemacht werden muss und Geld zum Negativzins zu haben wäre, oder eben „sichere Anlagehäfen“ für den Sparwunsch vieler Menschen blockieren in einer Zeit, in der die Ausprägungen der gesamtwirtschaftlichen Finanzierungssalden akute Probleme bereiten, scheint man in den oberen politischen Entscheidungsetagen nicht zur Kenntnis zu nehmen.

„Strukturelle Arbeitslosigkeit“: überall und doch schwer erkennbar

Bleiben wir jedoch beim Begriff der „strukturellen Arbeitslosigkeit“, der auch eine wichtige Rolle bei der „Schuldenbremse“ spielt, wie am Ende noch kurz erläutert wird. Hört man das Konzept „strukturelle Arbeitslosigkeit“ kann man sicherlich plausible Assoziationen dazu haben, wie diverse Bedingungen auf einem Arbeitsmarkt sich negativ auf das Beschäftigungsniveau auswirken können. So ist z.B. eine mangelnde Passung zwischen Anforderungen offener Stellen einerseits und den Qualifikationen Arbeitssuchender andererseits denkbar. In der vorherrschenden wirtschaftswissenschaftlichen Literatur werden gern Faktoren herangezogen wie die Höhe und Dauer des Arbeitslosengeldes, das Ausmaß des Kündigungsschutzes, der Grad der Gewerkschaftsbindung, Mindestlöhne etc. In welcher Richtung derartigen Faktoren eine Wirkung zugesprochen wird, kann sich leicht ausmalen, wer den Zeitgeist kennt. Es ist somit unschwer erkennbar, welch hohes Missbrauchspotential dieses populäre Konstrukt mit sich bringt.

Welcher Anteil der beobachtbaren Arbeitslosigkeit ist eigentlich „strukturell“? Welche vermeintlich „strukturellen“ Einflüsse sind wirklich relevant, was die Höhe der Arbeitslosigkeit betrifft? Bedeutet „strukturell“, dass sich die damit einhergehende Arbeitslosigkeit nur durch sog. „Strukturreformen“ beseitigen lässt und keinesfalls etwa durch gezielte staatliche Nachfrage- und Investitionspolitik oder sinnvolle, jedoch nicht über den Markt geschaffene öffentliche Beschäftigung (Bildung, Pflege, Wissenschaft etc.)?

Die Glaubensgemeinschaft der Marktfixierten steht hier gern mit Antworten bereit, die sich in der Wirtschaftswissenschaft allzu häufig dadurch auszeichnen, dass sie auf „kreativen“ Annahmen aufbauen, durch eiliges Mathematisieren zu raschen, jedoch zweifelhaften Schlussfolgerungen verarbeitet werden und dabei eher auf einem verhaltenen Abgleich mit der beobachtbaren Welt beruhen. So jedenfalls kann es sich einem darstellen, wenn man so manch gängige Studie zur „strukturellen Arbeitslosigkeit“ zur Kenntnis nimmt (siehe z.B. „Structural unemployment and its determinants in the EU countries“, Economic Papers 445, 2012). Die darin enthaltenen Gleichungen (z.B. S. 3), die die ökonomische Welt abbilden sollen, werden hinsichtlich der mit ihnen verbundenen unzähligen Annahmen nicht nur nahezu nicht erläutert, die zahlreichen Größen werden auch noch in einer Selbstverständlichkeit mathematisch aneinandergereiht, dass dem Leser der Eindruck aufkommen muss, hier hätte man komplexe ökonomische Gegebenheiten ebenso gut durchdrungen wie die Newton‘sche Mechanik, oder man sei ebenso exakt unterwegs wie in einer Physik, die unter Laborbedingungen arbeitet. So wird dann auch nicht einmal mehr für nötig befunden, den geringsten Verweis auf die tatsächliche Gültigkeit dieser scheinbaren Gesetze der ökonomischen Naturwissenschaft zu machen.

Wie aber wird nun „strukturelle Arbeitslosigkeit“ gemessen? Bei dieser handelt es sich schließlich um ein theoretisches Konstrukt, das nicht beobachtbar ist, ganz im Gegensatz etwa zur tatsächlichen Arbeitslosenrate, zum BIP, zur Leistungsbilanz etc. Für die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedsstaaten liegt hier seit langem eine Antwort parat. Sie lautet: „NAIRU“, bzw. „NAWRU“ und blickt auf eine längere, hoch umstrittene Geschichte zurück.

„NAIRU“ und „NAWRU“ – Wie man sich eine Größe bastelt

„NAIRU“ steht für „non-accelerating inflation rate of unemployment“ (zu deutsch: „inflationsstabile Arbeitslosenquote“) und handelt von der Idee, dass eine bestimmte Arbeitslosenquote existiert, deren Unterschreitung eine sich beschleunigende Inflation zur Folge hat. Die „NAIRU“ ist ein Konzept, das sich historisch aus der berühmten Phillips-Kurve heraus entwickelt hat. Letztere stellt einen Zusammenhang zwischen der Arbeitslosenquote und der Inflation (bzw. Lohnsteigerung) her, bei dem davon ausgegangen wird, dass eine niedrigere Arbeitslosenquote mit einer höheren Inflation einhergeht. Unter keynesianischer Interpretation des Zusammenhangs wurde hierbei eine erhöhte Inflation im Austausch für eine durch Nachfragesteigerungen gesenkte Arbeitslosigkeit in vielen westlichen Industrieländern der Nachkriegszeit akzeptiert. Die Monetaristen unter Milton Friedman interpretierten den Zusammenhang schließlich um und propagierten, dass allenfalls eine kurzfristige Wirksamkeit von Nachfragepolitik existiert, bei der ein Wirtschaftssystem schließlich immer wieder auf die anfängliche, von Friedman als „natürliche Arbeitslosigkeit“ bezeichnete Rate zurückfällt. Die Monetaristen wollten damit den Glauben an die komplette Wirkungslosigkeit staatlicher Nachfragepolitik „in der langen Frist“ verbreiten. Ein langfristiges Abweichen von dieser als „natürlich“ bezeichneten Arbeitslosigkeit sei allenfalls möglich, so ihre Devise, wenn die Inflationsrate immer stärker und auf unhaltbare Weise zum Steigen gebracht werde (Hintergrund sind Annahmen der Monetaristen über Inflationserwartungen und letztlich einen Arbeitsmarkt als Kartoffelmarkt, siehe z.B. „History and Theory of the NAIRU: A Critical Review“, Espinosa-Vega & Russell, 1997). Es waren später keynesianische Vertreter, die Friedmans Konzept von der „natürlichen Arbeitslosigkeit“ uminterpretierten zu einer unteren Grenze der Arbeitlosenrate, unterhalb derer Nachfragepolitik zur Senkung der Arbeitslosigkeit zwar den Effekt einer sich beschleunigenden Inflation zur Folge hätte, oberhalb dieser Grenze jedoch positive Effekte auf die Arbeitslosigkeit in langfristiger Hinsicht haben sollte.

Die heutige „NAIRU“ ist nicht nur das zweifelhafte Kind dieser Auseinandersetzungen, sondern zugleich eine zentrale Größe in der europäischen Wirtschaftspolitik. Sie ist u.a. Bestandteil für die Berechnungen zu „Potentialwachstum“ und „Schuldenbremse“ und dient der EU-Kommission eben zugleich als Maß für die „strukturelle Arbeitslosigkeit“. Da sie nicht beobachtbar ist und lediglich als Ergebnis aus entsprechenden Modellen resultiert, unterliegt sie einem beachtlichen Maß an Willkür in Hinblick auf die zugrunde liegenden Annahmen und Berechnungsverfahren. Die Berechnung der EU-Kommission bezieht sich als Inflationsmaß dabei auf die Lohnstückkosten (daher wird auch von der sog. „NAWRU“, „non-accelerating wage rate of unemployment“) gesprochen.

Das Modell, aus dem sie abgeleitet wird, betrachtet dabei die Abweichungen der tatsächlichen Arbeitslosigkeit von dieser hypothetischen „NAWRU“ als jenen Faktor, der den eigentlichen Einfluss auf die Lohnstückkosten ausübt. Liegt die tatsächliche Arbeitslosigkeit unterhalb der hypothetischen „NAWRU“, wird davon ausgegangen, dass diese Abweichung einen Einfluss in Richtung Beschleunigung der Lohnstückkosteninflation ausübt. Liegt die tatsächliche Arbeitslosigkeit hingegen oberhalb der hypothetischen „NAWRU“, wird davon ausgegangen, dass die Abweichung einen Einfluss in Richtung einer Dämpfung des Wachstums der Lohnstückkosten ausübt. Bei einer Abweichung von Null wird davon ausgegangen, dass der Anstieg der Lohnstückkosten stabil ist, sich also weder beschleunigt noch verlangsamt.

Die tatsächliche Arbeitslosigkeit wird durch das Modell also zerlegt in eine „NAWRU“-Komponente und eine Komponente, die die Abweichung der tatsächlichen Arbeitslosigkeit von besagter „NAWRU“ angibt. Die teils verwendete Schreibweise lautet:

U(t) = T(t) + C(t)

(U: tatsächliche Arbeitslosigkeit, T: „NAWRU“, C: Abweichung der tatsächlichen Arbeitslosigkeit von der „NAWRU“, alle drei als Funktion der Zeit t)

Der Gedanke dabei ist nun, dass die „NAWRU“ eine Art Trendarbeitslosigkeit widerspiegelt, während die Abweichung zwischen tatsächlicher Arbeitslosigkeit und „NAWRU“ eine durch konjunkturelle Effekte und andere äußere Einflüsse bedingte zyklische Komponente darstellt. Die Ausprägung dieser als zyklisch konstruierten Komponente soll also Auskunft darüber geben, in welcher konjunkturellen Phase sich das Wirtschaftssystem gerade befindet. Ist die tatsächliche Arbeitslosigkeit U(t) größer als die „NAWRU“, ist also C(t) positiv, spiegelt C(t) jenen Anteil der Arbeitslosigkeit wider, der sich durch Konjunkturpolitik beeinflussen lässt. Liegt die tatsächliche Arbeitslosigkeit unterhalb der „NAWRU“, ist also C(t) negativ, würden Versuche, die Arbeitslosigkeit durch Nachfragepolitik zu beeinflussen, gemäß Modell lediglich zu zunehmender (Lohn-)Inflation führen. Arbeitslosigkeit in diesem Szenario ist dann nur noch durch „strukturelle Reformen“ zu bekämpfen, so die weit verbreitete Überzeugung.

Auf welche Weise nun die Abweichungskomponente C(t) und mit ihr die „NAWRU“ auf der Grundlage von Veränderungen der Lohnstückkosten heraus geschätzt wird, unterliegt natürlich dem Entscheidungsspielraum der Modellkonstrukteure. Das Modell der EU-Kommission bezieht dabei weitere Faktoren ein und setzt C(t) zudem mit sich selbst zu früheren Zeitpunkten in Beziehung (ein somit autokorrelatives Vorgehen). So lässt sich eine „NAWRU“ per Modellbedingungen konstruieren, deren Mittelwert z.B. über eine bestimmte Phase hinweg nahe am Mittelwert der beobachtbaren Arbeitslosigkeit liegt; die ansteigt, wenn die tatsächliche Arbeitslosigkeit ansteigt; und die sich insgesamt somit wie eine geglättete Version der tatsächlichen Arbeitslosigkeit verhält. Man kann den Wunsch, dass die „NAWRU“ einen Trend der tatsächlichen Arbeitslosigkeit widerspiegelt, also in das Modell einfließen lassen.

Dieses Verhalten legt nun auch die per mathematischer Konstruktion abgeleitete „NAWRU“ der EU-Kommission an den Tag. Beispielhaft sei diese für die Eurozone 12 zusammen mit der beobachteten Arbeitslosenquote dargestellt:

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Das eigenwillige Verhalten der „NAWRU“

Eine positive Abweichung C(t), bei der die tatsächliche Arbeitslosigkeit auch dauerhaft höher liegt als die „NAWRU“ und somit eine chronische Unternachfrage anzeigt, ist somit per Modellkonstruktion als Ergebnis vermeidbar. Der größte Anteil der Massenarbeitslosigkeit gilt in dieser (Modell-)Welt dann als hauptsächliches „strukturelles“ Phänomen, das mit gezielter Nachfragepolitik nicht angegangen werden kann. Was nun diese leicht magisch anmutende „NAWRU“-Grenze für die Eurozone 12 anbelangt, unterhalb derer Arbeitslosigkeit sich weitgehend in „strukturelle Arbeitslosigkeit“  verwandelt, so soll sie gemäß EU-Kommission, wie die Grafik zeigt, mittlerweile bei beachtlichen 10% liegen.

Für die großen Länder der Eurozone wird die geschätzte „NAWRU“ für den Zeitraum seit Euroeinführung noch einmal nachfolgend dargestellt:

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Gemäß Berechnungsverfahren der EU-Kommission ist die „NAWRU“ nicht nur auf einem allgemein hohen Niveau, dieses Niveau ist etwa für Frankreich und Italien auch noch einmal deutlich über die Eurokrisenjahre hinweg gestiegen. Für Spanien ist der Anstieg dabei besonders dramatisch. Der Grafik ist etwa zu entnehmen, dass gemäß EU-Kommission mehr als 10%-Punkte der italienischen und über 18%-Punkte der spanischen Arbeitslosigkeit gegenüber staatlichen Nachfrageimpulsen weitgehend neutral sind und als „strukturell“ interpretiert werden.

Es sei hier verwiesen auf eine sehr empfehlenswerte FES-Expertise von Erik Klär, der u.a. die argumentativen Unzulänglichkeiten darlegt, die mit derart hohen „strukturellen“ Arbeitslosenzahlen verbunden sind, deren Merkmal es ist, dass sie über die Krisenjahre nicht nur rasch steigen, sondern auch in Anbetracht staatlicher Kürzungen nichts mit forciertem Nachfragemangel zu tun haben sollen (siehe „Die Eurokrise im Spiegel der Potentialschätzungen“, WISO Diskurs, 2014).

Selbst, wer an das „NAWRU“-Konstrukt glauben möchte, dass also eine „Reservearmee“ an vielen Millionen Arbeitslosen in der EU nötig ist, um die Inflation in Schach zu halten – und dies in Zeiten einer allgemein deflationären Atmosphäre – sollte allerdings spätestens in Anbetracht der Eigenschaften der konkreten Berechnungsergebnisse den Kopf schütteln. Von Prognosezeitpunkt zu Prognosezeitpunkt änderte die EU-Kommission, bzw. die zuständige Output Working Group ihre Ergebnisse für die „NAWRU“ teils dramatisch. Nachfolgend werden für das Beispiel Spanien unterschiedliche Frühjahresprognosen aufgeführt:

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Ging die Frühjahresprognose 2007 vor der Finanzkrise noch von einer Jahr für Jahr sinkenden „NAWRU“ für Spanien aus, wurde im Frühjahr 2010 bereits eine wesentlich höhere und zudem nun rasch steigende „NAWRU“ ausgewiesen. Natürlich spielt hier das Einsetzen der Immobilienblase eine bedeutsame Rolle, doch ist erstens fragwürdig, inwiefern Arbeitslosigkeit in Folge von Spekulationsblasen nicht durch staatliche Konjunkturpolitik abgefedert werden kann, zweitens zeigt die Frühjahresprognose 2013 auf, dass die „NAWRU“ auch im 5. Jahr nach Platzen der Immobilienblase in dramatischer Weise nach oben korrigiert wurde, so dass die EU-Kommission für die Jahre 2014 und 2015 davon ausging, dass sagenhafte 25%-Punkte der Arbeitslosigkeit in Spanien weitgehend „strukturell“ bedingt sind. In der Prognose des Frühjahres 2015 ist die „NAWRU“ dann wiederum nach unten korrigiert worden, einhergehend mit einer sinkenden tatsächlichen Arbeitslosigkeit in Spanien.

Von Prognosezeitpunkt zu Prognosezeitpunkt „umherspringende“ Werte für eine Größe, die grundsätzlich nur per mathematischer Konstruktion abgeleitet werden kann, sind dabei nicht nur auf Spanien beschränkt, sondern ein allgemein verbreitetes Phänomen rund um die „NAWRU“-Berechnungen, was ihre Brauchbarkeit für die Steuerung europäischer Wirtschaftspolitik neben grundsätzlichen konzeptuellen Einwänden auch unter rein methodischen Gesichtspunkten mehr als zweifelhaft erscheinen lässt.

Neben der hohen Instabilität der Werte über die Prognosezeitpunkte hinweg (wenn das Konstrukt existiert, hat es also einen sehr hohen Messfehler), fragt man sich überdies, woraus die teils raschen Anstiege der „NAWRU“ resultieren sollen, außer eben aus dem bloßen Umstand, dass die jeweilige tatsächliche Arbeitslosigkeit in diesen Jahren gestiegen ist (Arbeitslosigkeit und „NAWRU“ sind für jedes Land miteinander hoch korreliert, ein Umstand, der wie angedeutet aus der Konstruktion des Modells zur Bestimmung der „NAWRU“ resultiert).

Wenn die „NAWRU“ also als magische Grenze für die Unwirksamkeit staatlicher Nachfrage- und Investitionspolitik in Hinblick auf Massenarbeitslosigkeit gilt und hierbei als „strukturelle Arbeitslosigkeit“ interpretiert wird, welche „strukturellen“ Merkmale auf dem Arbeitsmarkt sind es dann eigentlich, die sich über die Eurokrisenjahre hinweg in den meisten Ländern der Eurozone teils dramatisch verschlechtert haben und nur durch „Strukturreformen“ angegangen werden können?

Eine Analyse von Heimberger, Kapeller und Schütz von 2016, die eine ganze Reihe etablierter Faktoren der „strukturellen Arbeitslosigkeit“ heranzieht (u.a. Kündigungsschutz, gewerkschaftlicher Organisationsgrad, Mindestlöhne etc.), konnte mit diesem Faktorenbündel jedenfalls kaum eine Beziehung zu den ausgewiesenen „NAWRU“-Werten für 14 EU-Staaten und einen Zeitraum seit 1985 feststellen. (Siehe „What’s ‘structural’ about unemployment in Europe: On the Determinants of the European Commission’s NAIRU Estimates“, ICAE Working Paper Series – No. 47, 2016). Die Autoren kommen einerseits zu dem Ergebnis, dass die meisten Faktoren, mit denen die „NAWRU“-Unterschiede erklärt werden sollen, in Regressionsrechnungen entweder gerade in die unerwartete Richtung zeigen, statistisch unbedeutend sind oder stark anfällig für die Modellspezifikationen sind. Andererseits gelangen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die von ihnen zusätzlich einbezogenen nicht-strukturellen Kontrollfaktoren, so etwa ein Maß für reale Investitionen oder ein Maß für Zyklen auf dem Immobilienmarkt, in einer deutlichen Beziehung zur „NAWRU“ stehen. Es sind also gerade zyklische Faktoren, die Erklärungskraft für eine Größe haben, die eigentlich von eben solchen Einflüssen per Modellkonstruktion befreit sein soll.

Eigenwillig, jedoch nützlich für so manches Weltbild

Was also taugt das „NAWRU“-Konzept? Einerseits kann es als Ausrede dafür verwendet werden, gezielte Nachfrage- und Investitionspolitik zu unterlassen und auf diese Weise den nötigen Druck in Richtung „struktureller Reformen“ aufzubauen und in den EU-Ländern die gewünschten neoliberalen Maßnahmen durchzusetzen. In den südeuropäischen Ländern etwa wurde das Tarifsystem teils umgekrempelt mit dem Ziel, es auf die Firmenebene zu verlagern und so die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften zu schwächen. Arbeitsmärkte werden „flexibilisiert“, Kündigungsschutz abgebaut, gesetzliche Rentensysteme ausgedünnt usw. usf.

Andererseits spielt das „NAWRU“-Konzept eine gewichtige Rolle bei der Berechnung des „Potentialwachstums“, also jenes hypothetischen Wachstums, das wiederum frei von konjunkturellen Effekten eine Form von Wachstum unter „normaler“ Auslastung der Produktionskapazitäten angeben soll. Eine höhere „NAWRU“ führt hier zu einem als geringer eingeschätzten „Potentialwachstum“, was wiederum Konsequenzen bei der Berechnung der „Schuldenbremse“ und somit des staatlichen Finanzierungsspielraums hat. Auch die „Schuldenbremse“ nimmt eine Trennung in „strukturell“ und „konjunkturell“ vor, wobei diese sich auf den Budgetsaldo, also die Differenz von Einnahmen und Ausgaben öffentlicher Haushalte bezieht. Je höher die „NAWRU“ ist, desto geringer fällt das geschätzte „Potentialwachstum“ aus. Je geringer das „Potentialwachstum“ ist, desto eher erreicht der Staat seine durch die „Schuldenbremse“ vorgeschriebene Obergrenze für das „strukturelle“ Defizit und wird an der weiteren Kreditaufnahme gehindert. Und hier beißt sich die Katze dann in den Schwanz. Da dies wiederum i.d.R. mit einer Ausgabensenkung statt einer Einnahmenerhöhung beantwortet wird, werden in der Folge Möglichkeiten gezielter Nachfrage- und Investitionstätigkeit des Staates genommen. Dies führt dazu, dass Nachfrage ausbleibt, die Arbeitslosigkeit steigt und dann nachfolgend vermehrt zur „NAWRU“ erklärt wird (erinnere die Korrelation beider), wodurch wiederum das Potentialwachstum schrumpft etc. Zugespitzt betrachtet hat sich die Glaubensgemeinschaft der Marktfixierten also mit der „NAWRU“, dem davon abhängigen Konzept des „Potentialwachstums“ und der „Schuldenbremse“ erfolgreich eine – zumindest in Krisenzeiten – in sich geschlossene Welt der alternativlosen „Strukturreformen“ geschaffen.

Dies jedoch hat verheerende Konsequenzen, besonders in Zeiten, in denen nach Schuldnern händeringend gesucht wird, da neben den privaten Haushalten, auch die Unternehmen und der Staat gesamtwirtschaftlich zu Gläubigern werden die beiden Sektoren zunehmend ihre Investitionstätigkeit einschränken. Dabei sind es doch gerade Investitionen, die sich als wesentlicher Faktor in Hinblick auf die Beschäftigung darstellen, wie eine Gegenüberstellung etwa von realen Bruttoanlageinvestitionen und Arbeitsvolumen für die Eurozone 12 aufzeigt (siehe ausführlicher dazu etwa o.g. Arbeit von Erik Klär oder das Buch von Friederike Spiecker und Heiner Flassbeck: „Das Ende der Massenarbeitslosigkeit“ aus dem Jahr 2007, wo – auf Seite 242 – ebenfalls der enge Zusammenhang zwischen Investitionen und Beschäftigung gezeigt wird):

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Fazit

Die „NAIRU“, bzw. „NAWRU“ ist eine wichtige Bezugsgröße für die Wirtschaftspolitik (nicht nur) in der EU geworden, obwohl das Konzept und die aus ihm abgeleiteten Implikationen zweifelhaft und unplausibel, sowie etablierte Berechnungsverfahren höchst unzuverlässig sind. Anstatt sich an einer rein mathematisch konstruierten Größe zu orientieren, die ungewisse Erklärungskraft besitzt und zu selbsterfüllenden Prophezeiungen neigt, sollte Wirtschaftspolitik sich wieder verstärkt auf jenen Teil der ökonomischen Welt konzentrieren, dessen leicht beobachtbare Ergebnisse zwar mit lieb gewonnenen Traditionen (vulgo Ideologien) brechen mögen, dafür jedoch wirkliche Lösungen für die drängendsten ökonomischen Probleme der Zeit in Aussicht stellen. Lohnentwicklungen, gesamtwirtschaftliche Preisniveaus, Finanzierungssalden, Investitionsquoten und tatsächliche Arbeitslosigkeit sind hierbei doch die wirklich interessanten Kandidaten.

Vielleicht sollten sich die Anhänger der „NAWRU“ und der durch sie gerechtfertigten Unterlassungen in Sachen Massenarbeitslosigkeit an dem orientieren, was selbst Margret Thatcher bereits für den theoretischen Vorgänger, die „natürliche Arbeitslosigkeit“ erkannt hatte:

Interviewer:[Monetarists] believe in something called the ’natural rate of unemployment‘, which is supposed to be the rate at which inflation stops, or seizes to accelerate. Now, do You think that we, Prime Minister, with all-time record unemployment figures this week, have yet reached that natural rate […]?“
Thatcher: „It’s not a doctrine to which I have ever subscribed. […] I think, it actually came in with Milton Friedman. I used to read about it, I used to look about. It’s not a doctrine… it’s a theory to which I have never subscribed.“
(Margret Thatcher, in der Sendung
„A Week in Politics“, 1985)

Im Folgenden die freie Übersetzung dazu:

Interviewer: „[Die Monetaristen] glauben an etwas, das sich „natürliche Arbeitslosenrate“ nennt, von der angenommen wird, dass es sich um die Rate handelt, bei der die Inflation stoppt, oder aufhört, sich zu beschleunigen. Nun, denken Sie, Frau Premierministerin, mit den Rekordarbeitslosenzahlen dieser Woche, dass wir bereits diese natürliche Rate erreicht haben […]?“
Thatcher: „Es ist keine Lehrmeinung, der ich jemals beipflichtete. Ich denke, sie hielt Einzug mit Milton Friedman. Ich habe darüber gelesen, ich habe es mir angeschaut. Es ist keine Lehrmeinung, der… Es ist eine Theorie, der ich niemals beipflichtete.“

Jascha Jaworski

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