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Daniel Blake in Deutschland – drei erfahrungsreiche Perspektiven auf den Sozialstaat

“Daniel Blake in Deutschland – eine Informations- und Diskussionsveranstaltung zu den Agenda-Reformen”, unter diesem Titel fand am 16.6.2017 im Legienhof in Kiel eine gut besuchte Veranstaltung statt, die auch die Auswirkungen der seit 2001 gültigen Rentengesetze behandelt. Die Veranstaltung wurde gemeinsam von attac Kiel, der Kieler IPPNW-Gruppe und der IG Metall Kiel-Neumünster vorbereitet und vom DGB Kern unterstützt. Sie bestand aus drei Vorträgen, die jeweils aus unterschiedlicher Perspektive Hauptelemente der sog. “Jahrhundert-Reform” beleuchteten, die dieses Land seit nun fast zwei Jahrzehnten sehr verändert haben.

Zunächst legte der Rehabilitationsmediziner Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Kolenda dar, was es mit dem im Titel erwähnten Daniel Blake auf sich hat. Bei diesem handelt es sich nämlich um die Hauptperson des 2016 in Cannes mit der goldenen Palme ausgezeichneten Films “Ich, Daniel Blake” von Ken Loach. Daniel Blake, ein Durchschnittsengländer, ist gelernter Schreiner, der durch einen Herzinfarkt seine Arbeit verliert und deshalb Sozialhilfe beantragt, doch erleben muss, wie sich die Bürokratie querstellt, so dass er schnell in einen Teufelskreis von Zuständigkeiten, Bestimmungen und Antragsformularen gerät. Bei einem seiner häufigen vergeblichen Besuche im Jobcenter verstirbt Daniel Blake plötzlich auf der Toilette, wahrscheinlich an einem durch den erlebten Stress ausgelösten Herzversagen. Nachdem der Film in den letzten Monaten auch mehrfach im Kommunalen Kino in Kiel gezeigt wurde, ging Prof. Kolenda in seinem Vortrag der Frage nach, wie es einem Daniel Blake unter den einschlägigen sozialpolitischen Bestimmungen in Deutschland ergehen würde. Er ging dabei u.a. auf die Bereiche Krankengeld, Erwerbsminderungsrenten, sowie Arbeitslosengeld I und II ein, die zu den wesentlichen Elementen gehören, mit denen durch die Agenda-Reformen soziale Rechte abgebaut wurden und zwar in einem Maße, wie dies in der Geschichte der Bundesrepublik bislang ungekannt war. Die Inhalte des Vortrags von Prof. Kolenda sind bei uns bereits zu einem früheren Zeitpunkt in Artikelform erschienen und können hier abgerufen werden.

Das zweite Referat hielt Jens Kretzschmar. Er kennt die Sozialverwaltungen und Sozialversicherungsträger von beiden Seiten des Schreibtisches und blickt auf über 20 Jahre berufliche Erfahrungen in der Sozialarbeit zurück, von denen er über 10 Jahre als Fachreferent und Organisationsberater verschiedene „Reformen“ im Sozialbereich begleitete. Im Jahr 2005 wurde er engagiert, um als externer Berater den Aufbau eines Jobcenters zu unterstützen, wodurch er sozusagen die Geburtsstunde von „Hartz-IV“ hinter den Behördenkulissen miterleben konnte.

Auf die Frage „Wie würde es einem Daniel Blake in Deutschland ergehen“ antwortet Jens Kretzschmar: „So wie mir!“. Wie Daniel Blake hat er nämlich seine Arbeit verloren, weil er krank geworden ist. Wie Daniel Blake wird er bis heute von einem zum anderen Sozialleistungsträger geschoben, ohne dass sich eine Stelle wirklich zuständig fühlt und umfassende konkrete Unterstützung anbietet. Dies erlebt Jens Ketzschmar dabei seit über 5 Jahren und somit länger als der Protagonist Blake im Film. Das mag auch daran liegen, dass Jens Kretzschmar als Fachmann seine Rechte kennt, sich daher nicht so leicht abspeisen lässt, sondern an das Sozialgericht wandte. Er gibt zu bedenken: „Wenn ich als Fachmann so große Schwierigkeiten habe, mich in diesem vielgliedrigen System zurechtzufinden und meine Rechte einzufordern, wie schwierig muss dies erst für die vielen anderen Betroffenen sein?“.

Jens Kretzschmar schreibt über seine Erfahrungen in einem Blog, in dem er bisher anonym blieb. Die weit überwiegende Zahl der kritischen Hartz-IV-Betroffenen bevorzugt den Schutz der Anonymität, da ihre Veröffentlichungen eher zu Anfeindungen und Repression führen als zu einem kritischen Nachdenken über ein die Menschenwürde verletzendes System. Da kritisches Nachdenken jedoch auch Transparenz und Offenheit braucht, hatte sich Jens Kretzschmar entschlossen, den Schutz der Anonymität aufzugeben und in seinem Referat einen persönlichen und authentischen Einblick darin zu geben, wie es einem „Daniel Blake“ heute in Deutschland ergehen kann. Sein Referat, das die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung sehr berührt hat, wird nachfolgend angeführt. Zunächst soll jedoch noch der dritte Vortragsteil angekündigt werden, der in den nächsten Tagen erscheinen wird. In diesem hat der erfahrene Gewerkschafter und langjährige ehemalige Betriebsrat Reiner Heyse, Mitherausgeber der Blogs Seniorenaufstand und Rentenpolitikwatch, die Auswirkungen der Agenda-Politik auf die Altersrenten in einem Augen öffnenden Referat dargestellt.

Persönliche Erfahrungen mit dem System der sozialen Sicherung

 

Jens Kretzschmar

Waren Sie auch schon mal Kunde bei der Agentur oder im Jobcenter? Ich ja, aber da redet man ja nicht so gerne drüber.

Im Programm ist eine Referentin angekündigt, die darüber reden wollte, aber ihre Teilnahme an der heutigen Veranstaltung zu unserem Bedauern abgesagt hat. Sie schrieb uns:

In den letzten Tagen haben mir Anfeindungen aus meiner Umgebung drastisch klargemacht, warum viele kritische Hartz-IV-Betroffene den Schutz der Anonymität bevorzugen.
Ich habe momentan nicht die Kraft – und auch nicht die finanzielle Unabhängigkeit -, um mich, meine prekäre Situation und die strikten Abhängigkeiten innerhalb dieses kafkaesken Systems im Licht der Öffentlichkeit präsentieren zu können.

Kafkaesk steht für „auf rätselhafte Weise unheimlich und bedrohlich“.
Ja, das ist es wohl…

Ich kann das verstehen. Ich habe bisher auch die Anonymität bevorzugt. Nachdem ich gefragt wurde, ob ich nicht diesen Teil des Abends übernehmen kann, habe ich mich entschieden, die Anonymität aufzugeben.

Ich kenne Sozialverwaltungen ja von beiden Seiten des Schreibtisches. Über 10 Jahre habe ich als Projektleiter in sozialen Verbänden oder als Angestellter einer Beratungsfirma verschiedene sogenannte „Reformen“ im Sozialbereich begleitet. Im Jahr 2005 wurde ich engagiert als externer Berater den Aufbau eines Jobcenters in Hessen zu unterstützen. Das SGB II wurde gerade eingeführt und keiner wusste so recht, wie es umgesetzt werden sollte.

Bis zum 31.12.2004 hatte die Kommune, die uns beauftragt hat, ein Sozialamt, welches rund 2.000 Sozialhilfeempfänger betreut hat. Ab 01.01.2005 wurde es zum Jobcenter und für 10.000 Personen zuständig. Anfang Januar schickte die Arbeitsagentur per LKW 8.000 Akten, Akten der bisherigen Arbeitslosenhilfeempfänger. Die Zahl der Mitarbeiter wuchs innerhalb weniger Wochen von 50 auf 250. Diese Zahlen bezogen auf nur einen Landkreis zeigen, welche Dimensionen der Umbruch von der Arbeitslosenhilfe auf das ALG-2 hatte.

Nach drei Monaten waren wir soweit, die Geldleistungen korrekt auszahlen zu können. Damit waren wir verdammt schnell.
Nach einem halben Jahr hatten wir funktionierende Strukturen in der Vermittlung. Mit 10% Vermittlungsquote waren wir der absolute Spitzenreiter in Hessen.

Während wir uns bemühten, das neue Gesetz umzusetzen, gingen die politischen Diskussionen weiter. „20% der Leistungsbezieher bekämen diese Leistungen zu Unrecht“, sagte der damalige Arbeitsminister Wolfgang Clement. Das Ministerium gab eine Broschüre mit dem Titel „Vorrang für die Anständigen“ heraus, wir bekamen die Anweisung, den Missbrauch entschieden zu unterbinden und sollten dem Minister durch statistische Daten die von ihm hinausposaunten 20% bestätigen.

Ich will ja nicht ausschließen, dass es einige gab, von denen wir nichts wussten, aber unter unseren rund 10.000 Fällen gab es gesichert nur 2.

Schon im Laufe des ersten Jahres stellte sich heraus, dass das SGB II handwerklich schlecht gemacht war. Die Sozialgerichte bemühten und bemühen sich immer noch, die Lücken zu schließen und Widersprüchliches zu klären. Bis heute gibt es kein anderes Sozialgesetz, welches so viele Klagen vor den Sozialgerichten provoziert. Und es gibt auch kein anderes Sozialgesetz, das in so kurzer Zeit so oft geändert wurde wie das SGB II.
Man kennt so etwas ja sonst nur von Microsoft. Ich werfe ein nicht ausgereiftes Produkt auf den Markt, die Kunden finden die Fehler und bekommen dann regelmäßige Updates.
Nur, geht es hier um Menschen in sozialen Notlagen. Und die Updates zum SGB II waren selten zum Vorteil der Kunden. Das Gesetz wurde nicht einfacher, sondern komplizierter und rigider. So wurde die Beweislast umgekehrt. Früher konnte man Sanktionen – also die Kürzung des Existenzminiums bei Fehlverhalten – noch flexibel handhaben. Heute sind sie ein gesetzlich vorgeschriebener Automatismus und wenn man als „Kunde“ – oft ohne es zu wollen – einen Fehler macht, ist dies „sozialwidriges Verhalten“.

Wissen Sie, wie hoch heute im Durchschnitt die Vermittlungsquote der Jobcenter ist?
Laut Pressebericht vom 26.05.2017 bundesweit 2%.
Wissen Sie, wie hoch die Sanktionsquote ist?
9,5%.

Also die Wahrscheinlichkeit sanktioniert zu werden, ist fast 5-mal so hoch wie die Wahrscheinlichkeit vermittelt zu werden.
Es fragt sich, was hier „sozialwidrig“ ist.

Heute bin ich selbst Kunde beim Jobcenter. „Tja, selbst schuld“, würden Sie vielleicht sagen, „was hast Du da auch gearbeitet, erzeugt nur schlechtes Karma.

Ich bin sicherlich kein gewöhnlicher Kunde. Das ist so, als ob ein Arzt zum Arzt geht. Es gibt allerdings einen Unterschied: Der Arzt darf sich selbst ein Rezept ausstellen. Ich weiß zwar wie mein Gegenüber tickt, ich kenne die Diagnose und die Medizin, nur kann ich sie mir nicht selbst verschreiben.

Auch ist meine Geschichte nicht repräsentativ für die vielen tausend Alleinerziehenden, prekär Beschäftigten oder Arbeitssuchenden, die von Hartz IV leben, die sich in diesem System zurechtfinden müssen und an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt werden. Dennoch erzähle ich sie stellvertretend für viele tausend andere.

Wenn man mir die Ausgangsfrage unseres heutigen Vortragsabends stellt „Wie würde es einem Daniel Blake in Deutschland ergehen?“, dann würde ich sagen: „So wie mir. Ich bin ein Daniel Blake in Deutschland.“ Einer von vielen.

Wie Daniel Blake habe ich meine Arbeit verloren, weil ich krank geworden bin. Eine Arbeit, die ich – wie er – gut und gerne gemacht habe.
Wie Daniel Blake werde ich von einem zum anderen Sozialleistungsträger geschoben, nur häufiger und länger als er. Von der Krankenversicherung zur Rentenversicherung, von dieser zur Arbeitsagentur, kurz zum Jobcenter, dann wieder zur Krankenversicherung, Arbeitsagentur, Rentenversicherung, Arbeitsagentur, seit einem halben Jahr wieder zum Jobcenter…
Seit über 5 Jahren, seit Januar 2012 versuche ich Leistungen zur Eingliederung in Arbeit zu bekommen, wie sie das Gesetz für chronisch kranke Arbeitssuchende vorsieht.

Geht es nicht auch ohne?“, habe ich mich oft gefragt. Ich muss meine Erkrankung bei Bewerbungen angeben, weil sich daraus Einschränkungen ergeben. Zwar können die leicht ausgeglichen werden, doch jeder Arbeitgeber wittert da ein Problem, wer bindet sich schon selbst ein Problem ans Bein?

Es hat 2 Jahre gedauert, bis ich aufgrund meiner Erkrankung einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt wurde, der Streit darum, ob ich einen Anspruch auf Eingliederungsleistungen habe und wer dafür zuständig ist, wurde dadurch nicht beigelegt.

Seit Juli 2014 – also seit 3 Jahren – klage ich vor dem Sozialgericht.

Selbstverständlich versuche ich selbst eine Arbeit zu finden. Es gab in diesen 5 Jahren nur wenige Wochen, in denen ich nicht irgendwo irgendeine offene Bewerbung hatte.
Zweimal hatte ich eine Arbeit gefunden, die ich kurz darauf wieder verlor. Selbst die Sicherung dieser Stellen wollte die Rentenversicherung nicht übernehmen.

Was soll ich Ihnen berichten, aus diesem wirklich kafkaesken System, in dem ich mich befinde?

Davon, dass 409 € gerade so reichen, um sich zu ernähren?
Neue Kleidung, Kino und Konzerte, Besuche bei Freunden, die weiter weg wohnen… kann ich mir nicht leisten.
Soll ich davon erzählen, dass mir weder Arbeitsagentur noch Jobcenter Bewerbungskosten erstatten, weil ja die Rentenversicherung für mich zuständig ist, die wiederum meint, ich hätte keinen Anspruch darauf? Meine letzte Bewerbung kostete mit Fahrt zum Vorstellungsgespräch 40 €, das sind 3 Tagessätze Hartz-IV oder 3 Tage Essen.
Ich habe Glück, dass mir noch etwas Substanz geblieben ist, von der ich lebe.
Doch diese Substanz bröckelt wie unsere Straßen.
Hartz-IV ist ein privates Austeritätsprogramm. Und es lähmt einen genauso wie Austerität.

Soll ich von dem Vorstellungsgespräch bei einer großen sozialen Einrichtung erzählen, in dem der Geschäftsführer plötzlich aufsprang, mich aufforderte ihm zu folgen, mich durch vier Trakte seines Bürogebäudes führte, um mir zu zeigen, dass es dort nicht einen Bereich gibt, in dem er einen an meine Erkrankung angepassten Arbeitsplatz einrichten könnte und der mich am Ende fragte: „Und, denken Sie Sie können hier arbeiten?

Neulich erhielt ich einen Vermittlungsvorschlag. Eine Stelle als Sachbearbeiter in einem Sozialamt. Ich bewarb mich und wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Wir begrüßten uns fast wie alte Bekannte, denn es war meine fünfte Bewerbung dort.
Das Gespräch kam wie üblich irgendwann an den Punkt: „Ja, aber vor dem Hintergrund ihrer Erkrankung… die Rahmenbedingungen, die Sie brauchen, können wir nicht zusichern…
Das darf natürlich kein Grund für eine Ablehnung sein. Deshalb werden noch ein paar andere Gründe gesucht: „Haben Sie überhaupt Erfahrung mit…? Können Sie eigentlich…?
Am Ende gibt es einen besser geeigneten Bewerber.

Ich hätte mich dort eigentlich nicht noch einmal beworben. Doch unser gemeinsames Dilemma ist:
Ich bin verpflichtet und habe auch den finanziellen Druck, dem Vermittlungsvorschlag nachzugehen und mich zu bewerben.
Der öffentliche Arbeitgeber ist vor dem Hintergrund meiner Gleichstellung verpflichtet, mich zu einem Gespräch einzuladen und auch einzustellen, wenn niemand anderes besser ist.
Wenn er mich nicht einstellen möchte, muss er irgendeinen Grund finden, warum meine Qualifikation doch nicht passt, mich also ggf. schlechter machen, als ich bin.
So kennen wir beide den Verlauf des Bewerbungsgespräch schon im Voraus und ziehen es nach Drehbuch durch: „Vielen Dank für das Gespräch.

Eine Woche, nachdem ich die schriftliche Absage erhalten hatte, bekam ich einem neuen Vermittlungsvorschlag. Für den gleichen Arbeitgeber.

Immerhin folgte das Jobcenter meinem Einwand, dass dieses Vorgehen sinnlos sei. Man sicherte mir zu, dass ich aufgrund meiner Erkrankung Vermittlungsvorschläge ablehnen kann.
Was enorm wichtig ist und ihnen sicherlich jeder Fachanwalt für Sozialrecht bestätigen wird. Sie müssen sich bei jedem Schritt, bei jeder Handlung gegenüber den Behörden absichern. Unbedachte Fehler können empfindliche Konsequenzen haben.

Letzte Woche erhielt ich einen neuen Vermittlungsvorschlag. Zum dritten Mal beim gleichen Arbeitgeber… Die Vermittler müssen halt auch nachweisen, dass sie etwas tun.

Seit einiger Zeit schreibe ich einen Blog über meine Erlebnisse (www.unfussable.wordpress.com), bisher anonym, denn leider ist es so, dass man als Betroffener den Schutz der Anonymität braucht. Leider ist es so, dass man als Reaktion meist Sprüche hört wie: „Wer arbeiten will, findet auch was…“, „Alles Drückeberger und Schmarotzer…“, beim Frisör, beim Arzt, von Freunden…

Ich möchte Ihnen zum Abschluss einige sehr persönliche Passagen aus meinen Texten vorlesen. Vielleicht vermitteln sie einen Eindruck davon, wie es einem geht, als Daniel Blake in Deutschland…

Wie geht es mir mit alldem?

Neben der Arbeit verliert man immer auch anderes. Mein kleines, bescheidenes Vermögen ist aufgebraucht, ich habe meine Wohnung verloren und lebe in einem WG-Zimmer. Es sollte nur vorübergehend sein…

Ich war zeitweise sehr niedergeschlagen, hoffnungslos und traurig. Dann einfach wütend. Ich übe mich darin, die positiven Dinge zu sehen, das Lachen nicht zu verlernen. Ich muss mich davor hüten, dass aus Humor nicht Ironie oder Sarkasmus wird.

Jemand, der die gleiche Erkrankung hat wie ich und meinen Blog gelesen hat, schrieb mir, dass kaum ein anderer Betroffener so engagiert sei und so kämpfe wie ich.
Ein Freund schrieb mir: Hoffentlich hältst Du das durch, bis es zu einem guten Ende kommt.
Ein Therapeut, der mich eine Zeit lang unterstützte, sagte mir zum Abschied: „Ich frage mich, wo Sie die Kraft hernehmen, dies alles durchzustehen.“

Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nehme. Auch wenn ich zwischendurch zweifle, spüre ich nur, dass sie in mir ist. Vielleicht kommt sie daher, dass ich immer versuche die Achtung vor mir selbst zu bewahren.

Dies ist nicht immer einfach.

Zum einen musste ich feststellen, dass – wie Volker Pispers es ausdrückt – der Stacheldraht unserer gesellschaftlichen Konventionen auch durch meinen Kopf gezogen ist. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ oder „Jeder ist seines Glückes Schmied“ sind solche Sätze, die uns eingetrichtert werden. Diese Sätze sagen auch „Du bist selbst schuld“ oder „Du hast es nicht verdient“.
Ich wurde eingeladen, eine Woche Segeln zu gehen. „Aber das geht doch nicht! Wer nicht arbeitet, der darf doch nicht…“ Ich brauchte lange, um es mir selbst zu erlauben, dies zu dürfen und ein solches Geschenk auch genießen zu können. Ich habe es gelernt.

Ich habe sehr viel Zurückweisung erfahren. Von Ärzten und Psychologen, die mir nicht glaubten, von Arbeitgebern, die mich entließen und erst recht von denen, bei denen ich mich beworben habe, bei der Suche nach einer Wohnung, von der Krankenkasse, der Arbeitsagentur und der Rentenversicherung.
Es ist überall im öffentlichen Leben zu spüren, wann immer bekannt wird, dass man in einer sozialen Notlage ist, rücken Menschen von einem ab. „Oh, was dem passiert, kann mir auch passieren, bloß nicht hinsehen!”
Manche behandeln einen wie den letzten Dreck. Man muss sich regelrecht dagegen wehren, sich nicht selbst wie Dreck zu fühlen.

Freundinnen und Freunde haben sich von mir zurückgezogen. Auch ich ziehe mich von Menschen oder aus bestimmten Situationen zurück. Ich gehe den Fragen „Wie geht es Dir?“ oder „Was machst Du so?“ aus dem Weg.
Sie sind schwer zu beantworten. Manche Menschen reagieren mit gut gemeinten Ratschlägen, die sich wie Schläge anfühlen. Manche verstehen nicht, was ich erzähle, manche ertragen es nicht. Lügen möchte ich auch nicht, so sage ich lieber nichts.
Über Ostern habe ich eine ganze Woche mit guten Freunden verbracht, in der diese Fragen keine Rolle spielten, war das herrlich!

Mein Patenkind, stellte mir in einem Brief diese Fragen, die ich im Moment so gerne vermeide, wie es mir so ginge und was ich mache.
Dreimal habe ich versucht ihr zu antworten und den Brief immer wieder zerrissen, weil ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte. Was konnte oder sollte ich schreiben? Was würde sie verstehen? Würde ich ihr zu viel zumuten? Sollte ich sie schützen? Wovor?
Das waren so Gedanken, die mir durch den Kopf gingen. Bis mir bewusst wurde, dass ich mich schämte. Ich schämte mich, dass in meinem Leben in der Not so vieles verloren gegangen ist und ich es bisher nicht selbst wieder richten konnte.

Eigentlich habe ich keinen Grund mich zu schämen.
Nachdem ich das erkannt hatte, konnte ich ihr schreiben.

Wie geht die Geschichte weiter?

Letzte Woche erhielt ich diesen Brief vom Sozialgericht. Wenn Sie so einen gelben Umschlag bekommen, ist immer eine Entscheidung darin. Ich habe einen halben Tag gezögert, ihn aufzumachen.

Das Sozialgericht hat die Rentenversicherung per einstweiliger Anordnung angewiesen, mir Hilfen zur Eingliederung in Arbeit zu gewähren. Erst einmal nur befristet, eine Anordnung ist noch kein Urteil, es ist noch nicht bestandskräftig und kann angegriffen werden… Deswegen traue ich mich noch nicht zu hoffen, dass diese Geschichte ein gutes Ende findet. Doch ich bin einen Schritt weiter…

Im Film hat Daniel Blake einen Herzinfarkt bekommen, als er an dieser Schwelle war. Ich habe einfach nur leise geweint.

Jascha Jaworski

6 Kommentare

  1. Und das alles haben Leute beschlossen, die selbst nie von diesem menschenverachtenden System betroffen sein werden.
    Alles dank selbstngestrickter Gesetze und verordnungen zu besoldung und Beihilfe, unterstützt von BVerwG und BVerfG.
    Als Beamter wäre der Autor nach 3 Monaten Krankheit binnen 6 Monaten und “schlechter Prognose” dienstunfähig geworden. Mit mindestens 1600 Euro Pension und 70% Beihilfe auf Pkv-Niveau, netto nach Abzug Pkv-Beitrag und steuern ca 1250 Euro. Und falls er noch dienstfähig wäre, hätte er selbstverständlich einen Berufs- und qualifikaionsschutz sowie einen Gehaltsniveauschutz. Er müsste auch nur bei seinem eigenen Dienstherrn arbeiten.

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