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Über die beeindruckende Ignoranz vieler Spiegel Online Leser_innen

Da berichtet Wolfgang Münchau auf Spiegel Online von der Ausgabenreduktionitis eines Paul Ryan (Vizepräsidentschaftskandidat der Republikaner), die darauf abzielt, durch gnadenlose Streichung die US-Staatsverschuldung bis 2050 in das sparpolitische Himmelreich einer 10%-Quote zurückzuführen, und hypothetisiert hierbei, wie ein derartiger Politiker auch in Deutschland mit seinem “Fiskal-Konservativismus” zahlreiche Fans hätte, und was machen die Kommentator_innen des Artikels? Sie liefern ihm sogleich den Beleg für seine Hypothese.

In den Kommentaren, deren Stil einen durchaus hohen Bildungsgrad bezeugt, erscheinen Aussagen wie:

“Nicht mehr Geld auszugeben, als man einnimmt, führt also zur Diktatur. Warum eigentlich, weil dann auch die Gefälligkeitspolitiker mit dem auskommen müssten, was der Haushalt hergibt und Nürburgringe nicht finanzierbar wären?”

“Wenn überhaupt etwas bewiesen worden ist, dann dass demokratische Regierungen nicht mit Geld umgehen können, das Geld von Steuerzahlern verschleudern und den Staatsapparat immer weiter aufblähen, so dass wir irgendwann alle nur noch arbeiten, um unsere Beamten zu bezahlen!”

“Die Chance zum Sparen wurde in der letzten Boom-Phase dann vertan. Irgendwo ist halt Schluss und der Lebensstandard muss auf das Niveau sinken, das ohne Schulden erwirtschaftet werden kann.”

Was bereits in dieser kleinen Stichprobe zum Ausdruck kommt, sind mehrere (zwar zunächst plausible) Fehlannahmen:

1. “…mit dem auskommen müssten, was der Haushalt hergibt…”, hier wird davon ausgegangen, dass die Einnahmeseite des Staates ein starres Gebilde ist. Dies ist sie gerade nicht, wie die abnehmenden Staatseinnahmen an der Wirtschaftsleistung Deutschlands zeigen. Siehe Folie 10, rechte Seite. Diese Entwicklung nach unten beruht auf der Aussetzung der Vermögenssteuer, der Senkung der Erbschaftssteuern, der massiven Senkung des Spitzensteuersatzes, und der Senkung von Unternehmenssteuern. Des Weiteren beruht sie darauf, dass durch massive Lohnsenkungen auch die Sozialversicherungen (und somit das zentrale Versorgungs- und Sicherungssystem der Mehrheit der deutschen Bevölkerung) immer weniger an der Wirtschaftsleistung beteiligt werden. Auch bei der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung etwa handelt es sich um ein Einnahmeproblem, das mit Lohnerhöhungen und einer breiteren Finanzierungsbasis (z.B. keine Beitragsbemessungsgrenzen mehr, Einzahlung auch Beamter und Selbständiger, wie in der Schweiz), sehr gut zu lösen wäre.

2. “…und der Lebensstandard muss auf das Niveau sinken, das ohne Schulden erwirtschaftet werden.” Hier wäre zu fragen, wer was erwirtschaftet, wer Schuldner und wer Gläubiger ist. Im Falle Deutschlands etwa wird ja gerade ein massiver Exportüberschuss erzielt, d.h. die Bevölkerung hierzulande produziert viel mehr, als sie verbraucht. Dies ist jedoch kein Segen für viele andere Länder, sondern greift ihnen gerade das Potential auf Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze ab. (Ausführlich siehe hier). Wenn dann innerhalb so eines Landes der Staatssektor in eine wie auch immer “zu hohe” Verschuldung zu geraten scheint und ein zunehmender Teil der Bevölkerung am Existenzminimum lebt, kann dies nur Ausdruck irrwitziger Verteilungsverhältnisse sein. Was jedoch zudem zum Ausdruck kommt, ist das amputierte Schuldenverständnis vieler Menschen. Sie sehen nur die Schuldner, nicht jedoch die Gläubiger, die ja offenbar genügend Geld übrig hatten, um es anderen zur Verfügung zu stellen. Ja, im Gegenteil, die Gläubiger sind in dem Maße, wie sie nicht mehr wissen, was sie mit ihrem Vermögen kaufen sollen, geradezu aus logischen Gründen darauf angewiesen, dass andere sich bereitwillig verschulden, da Geldvermögen immer zugleich Geldschulden sind.

3. “…dass demokratische Regierungen nicht mit Geld umgehen können, das Geld von Steuerzahlern verschleudern und den Staatsapparat immer weiter aufblähen, so dass wir irgendwann alle nur noch arbeiten, um unsere Beamten zu bezahlen!” Hier kommt die Fehlannahme zum Ausdruck, dass die Bevölkerung als Ganzes dem Staat gegenübersteht und für diesen ohne Gegenleistung arbeitet. Leider wird häufig ausgeblendet, welche grundlegenden und zivilisationstragenden Aufgaben der Staat erfüllt, und wie stark er daran beteiligt ist, gerade die finanziell Schwächsten innerhalb einer Gesellschaft etwas besser zu stellen (sie im Zweifelsfalle gar vor dem Hungertod zu bewahren). Auf der anderen Seite wird dann wiederum doch moniert, wenn die öffentliche Infrastruktur verfällt, die Schulen ihrem Bildungsauftrag nicht genügend nachkommen oder Schwimmbäder geschlossen werden. Wodurch die obige Aussage motiviert sein mag, ist das Gefühl, dass die Menschen hierzulande immer mehr zahlen müssen. Dieses Gefühl ist teilweise berechtigt, da die Mehrheit der Bevölkerung immer stärker an der Staatsfinanzierung beteiligt wird (etwa über die Mehrwertsteuern), doch sollte hieraus nicht der Schluss gezogen werden, dass der Staat der eigentliche finanzielle Kontrahent ist. Die Mehrheit wird nämlich nur deshalb stärker herangezogen, weil letztlich eine reiche Minderheit immer weiter aus der Verantwortung entlassen wurde. In einer Situation, in der die Löhne stagnieren und somit der zentralste Verteilungsmechanismus hierzulande beeinträchtigt wird, während die Gewinne explodieren, und in der dann diese Gewinne immer weiter aus der Finanzierung des Gemeinwesens herausgehalten werden, kann der Kollaps der öffentlichen Kassen nur dadurch verhindert werden, dass man den Anteil, den die Mehrheit der Bevölkerung am Gemeinwesen zu erbringen hat, erhöht. Die Frage ist nur, warum bei solch einer Konstellation die Mehrheit der Bevölkerung sich nicht für steigende Löhne und erhöhte Abgaben auf Vermögenseinkommen einsetzt. Die Vermögenseinkommen sind es nämlich, für die “alle irgendwann nur noch arbeiten”, denn, entgegen der anderslautenden Bankwerbung: Geld arbeitet eben nicht!

Summa summarum: In den Kommentaren auf Spiegel Online kommt die typisch neoliberal-konservative Sichtweise zum Ausdruck: Der Staat ist zu fett, er kann nicht mit Geld umgehen, Verschuldung ist ein Anzeichen erhöhter Ausgaben, alle (nicht verbeamteten) Bürger_innen sitzen im selben finanziellen Boot und stehen dem bösen Staat gegenüber. Über die eigentlichen Profiteure hinter den künstliche Knappheiten schaffenden Entwicklungen wird hingegen kein Wort verloren: Die wenigen Prozente bis Promille einer Bevölkerung in einem der reichsten Länder der Welt, deren überbordendes Einkommen und Vermögen immer mehr wurde und in Form von Dividenden, Zinsen, Renditen etc. die Mehrheit der Bevölkerung für sich (und dank Erbrecht eines Tages auch die Nachkommen) arbeiten lässt.

P.S.: Für die neoliberal-konservativen Entwicklungen in den USA, die zu explodierender Staatsverschuldung und Massenarmut geführt haben, siehe Crotty, J. “The great austerity war”.

Jascha Jaworski

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