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TTIP Wachstumsstudien: neoliberale Holographie, nichts weiter

Was das in Verhandlung stehende Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen den Hauptakteuren EU und USA anbelangt, so scheint der Widerstand seitens zahlreicher Nichtregierungsorganisationen [1] beiderseits des Atlantiks [2] an Fahrt aufzunehmen. Auch Gewerkschaften positionieren sich zumindest klar gegen zahlreiche, gefährliche Elemente [3] des geplanten Freihandelsabkommens.

TTIP als Gefahr für die Zivilgesellschaften

Ich will an dieser Stelle nicht lang wiederholen, welch unheilvolle Elemente zum Abkommen trotz geheimer Verhandlungen bereits an die Öffentlichkeit gelangt sind. Wer hier Nachholbedarf hat, sei auf andere Quellen [4] verwiesen. Zwar stehen die Verhandlungsergebnisse nicht fest, doch offenbart allein der Verhandlungsprozess, der auf langen Wunschlisten von [5] und ausgiebigen Treffen mit [6] zahlreichen Unternehmensverbänden und Konzernen beruht, wohingegen die Zivilgesellschaft nahezu kein Gehör erhält, welch neoliberaler Geist dem ganzen Unterfangen inne wohnt. Der Verhandlungsgegenstand reicht von der Angleichung umfangreicher Umwelt-, Arbeits-, Verbraucherschutz- und Sozialstandards, womöglich auf Basis eines kleinsten gemeinsamen Nenners, was in Anbetracht der asymmetrischen Einflusskanäle zugunsten rein kommerzieller Interessen auf weitreichenden Abbau hinauszulaufen droht, bis hin zu den von der EU- und US-Führung angestrebten Konzernklagerechten, die die perfide Idee einer Profitgarantie für Investoren über die demokratische Gestaltungsfähigkeit des Gemeinwesens stellen. Eine Umsetzung der Wunschlisten des Big Business [5]1 [7], auf denen es um unzählige Standards und Schutzvorschriften – in der Logik der Freihandelsverfechter bloße „nicht-tarifäre Handelshemmnisse“ – in nahezu allen Bereichen geht, sowie der durch das Abkommen angestrebte zusätzliche Wettbewerbsdruck, könnten den nächsten neoliberalen Schock für die Zivilgesellschaft auslösen.

Die Cover-Story für die Bevölkerungen

Der Aspekt, um den es hier jedoch gehen soll, sind die mit dem Freihandelsabkommen verbundenen Prognosen in Bezug auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigungszunahme, die angeblich durch die zunehmende transatlantische Konkurrenz aufkommen sollen. Irgendwie muss man der Bevölkerung die neuerlichen Liberalisierungsbestrebungen schließlich verkaufen. In der Zivilgesellschaft genügt es ja bislang glücklicherweise nicht, dass man einfach auf die Freiheiten eines vergrößerten Marktes verweist, um auf Begeisterungsstürme zu stoßen. Ein ausgeprägter (und expliziter) Marktfetisch2 [8] ist nachwievor vornehmlich in den Köpfen der Eliten oder eben solcher, die es werden wollen, anzutreffen. Für die Bevölkerung braucht es hingegen eine Rechtfertigung mit mehr Alltagsnähe. Welche jedoch – der vorherrschenden ökonomischen „Wissenschaft“ sei Dank – auch verfügbar ist.

Eine Gefahr für jene Kräfte, die sich zum Widerstand gegen das undemokratische Freihandelsabkommen formieren, besteht darin, dass den Heilserwartungen in Form von Wachstumsimpulsen überhaupt irgendeine Gläubwürdigkeit eingeräumt wird, obwohl der ökonomische Mainstream doch nicht einmal das Wachstum des nächsten Jahres [9] prognostizieren kann, ohne dabei gar systematisch falsch zu liegen. Bedauerlich wäre es, würden die – wenn auch bescheidenen – Wachstums- und Beschäftigungsversprechen seitens der TTIP-VerfechterInnen dazu führen, dass die Bevölkerungen die unangenehme Pille weitgehend widerstandslos schlucken. Leider besteht doch ein bekanntes Muster darin, dass auf ein neoliberal erzeugtes Problem eine neoliberale „Lösung“ erfolgt, die wiederum die nächsten Probleme bahnt. Durch Kürzungspolitik befeuerte Wirtschaftsrezession könnte so als Problem genommen werden, das am Ende nach der vermeintlichen Linderung durch ein Freihandelsabkommen ruft.

Die Prognosen in der „Was-wäre-wenn“-Scheinwelt

Wer nun jedoch einen Blick in die ökonomischen „Studien“ wirft, die zur Abschätzung der Auswirkungen des geplanten Freihandelsabkommens angefertigt wurden, erhält einen Eindruck davon, wie geradezu kurios weltfremd (und fahrlässig) es in der Denkwelt der bestimmenden Eliten zugeht. Die Studie im Auftrag der EU-Kommission vom Centre for Economic Policy Research (CEPR)3 [10] kann hier [11] eingesehen werden, die Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft (BMWi) vom ifo Institut München4 [12] hier [13].

Zunächst gehe ich kurz auf die Prognosen zu den ökonomischen Auswirkungen der Umsetzung des Freihandelsabkommens gemäß Studien ein. Doch sei das „Achtung!“ gleich vorausgeschickt, da die Präsentation von Zahlen einen besonderen Realitätscharakter auszustrahlen vermag. Wir verlassen nun jedoch die Welt des (direkt) Beobachtbaren und empirisch Gerechtfertigten und begeben uns in die Modellwelt des wirtschafts„wissenschaftlichen“ Mainstreams, der seit einigen Jahrzehnten wieder weitgehend auf der sog. Neoklassik mit ihrem Anspruch auf totale Mathematisierung der sozialen Welt beruht5 [14],

Beide Studien betrachten jeweils die Auswirkungen unterschiedlich umfangreicher Szenarien eines möglichen Freihandelsabkommens, je nachdem, ob lediglich die zwischen den USA und der EU ohnehin nur geringen Zölle abgebaut werden6 [15], oder ob es auch zu einem markanten Abbau der o.g. nicht-tarifären Handelshemmnisse kommt7 [16].

Für das verfügbare Realeinkommen in der EU prognostiziert die CEPR-Studie eine Steigerung von 99 Euro für einen Vierpersonenhaushalt im Jahr 2027, wenn ein Handelsabkommen abgeschlossen wird, das die Zölle beinahe komplett beseitigt (98%ige Senkung). Die maximal positive Wirkung – wen wundert es – soll sich natürlich ergeben, wenn das gemäß Studie „ambitionierteste“ Szenario eines Freihandelsabkommens umgesetzt würde, bei dem neben 98% der Zölle zudem 25% der nicht-tarifären Handelshemmnisse im Waren- und Dienstleistungsbereich, sowie 50% im öffentlichen Beschaffungswesen beseitigt würden. Hier prognostizieren die AutorInnen eine Steigerung des Realeinkommens eines Vierpersonenhaushalts in der EU von 545 Euro für das Jahr 20278 [17].

Die Studie im Auftrag des BMWi gibt Zahlen für die Auswirkungen von drei unterschiedlich umfangreichen Freihandelssezenarien an, einem Szenario, das allein auf Zollbeseitigung beruht, einem, bei dem die Zölle und die nicht-tarifären Handelshemmnisse umfassend gesenkt würden, und einem, das ein Liberalisierungsszenario unterstellt, bei dem bilaterale Handelshemmnisse soweit abfallen, wie die AutorInnen es „für Handelsbeziehungen innerhalb der EU berechnet haben“ (sog. „Binnenmarktszenario“). Die Ergebnisse werden ausgegeben auf Basis des Jahres 2007. Die Effekte beziehen sich also darauf, was (gemäß Modell) gewesen wäre, wenn in diesem Jahr bereits ein Freihandelsabkommen bestanden hätte. Im reinen Zollszenario hätte der durchschnittliche Reallohn in Deutschland hier gemäß AutorInnen um 0,13% höher gelegen, die Arbeitslosenzahl wäre um 2100 Personen geringer gewesen9 [18]. Im zweiten Szenario ist eine geringere Arbeitslosenzahl von 25220 Personen gegenüber den damals beobachteten Verhältnissen ausgewiesen. Der durchschnittliche Reallohn läge gemäß AutorInnen um 1,6% höher. Möchte man diesen Angaben glauben, wären die Effekte also in Szenario 1 nicht nennenswert, in Szenario 2 hingegen bescheiden. Das dritte Szenario, das Berechnungen dazu anstellt, wie sich ein gemeinsamer Binnenmarkt zwischen den USA und der EU ausgewirkt hätte, weist für Deutschland einen um 8,32% höheren Reallohn und eine um 109300 geringere Arbeitslosenzahl (= -0,32%) aus. Zumindest beim Reallohn läge hier also ein deutlich spürbar positiver Effekt vor. Allerdings ist auch nach Ansicht der AutorInnen dieses starke Szenario als Ausgang der Verhandlungen unwahrscheinlich. In allen Szenarien käme es jedoch gemäß AutorInnen auch zu einem Verlust an Beschäftigung außerhalb der neuen Freihandelszone. Für das dritte Szenario würden hier rund 238000 Arbeitsplätze im Rest der Welt entfallen. (Als Freihandelsverfechter darf man hier eben nicht zimperlich sein, im Welthandel muss jeder stets sich selbst der Nächste sein.)

Die abenteuerlichen Modelle der Führungs- und Funktionseliten

Was ist nun von diesen Zahlen zu halten? Wie kommen sie zustande? Hier wird es schnell kurios, wirft man erst einmal einen genaueren Blick auf das Vorgehen. Grob lautet die Antwort natürlich: Modelle, Modelle, Modelle! Kern der Studien ist die Verwendung von sog. allgemeinen Gleichgewichtsmodellen („CGE-Modelle“), die die Ökonomie des gesamten Erdballs von der Mikroebene aufwärts nachzubilden behaupten. Hauptpunkt der Studien ist, dass es durch einen Abbau von Zöllen und nicht-tarifären Handelshemmnissen zu mehr Konkurrenz und einer Umlenkung von Handelsströmen käme, was dank Modellannahmen den allgemeinen Wohlstand befördern soll.

In der CEPR-Studie werden dazu zunächst die nicht-tarifären Handelshemmnisse „ermittelt“, die es ja per Freihandelsabkommen zu senken gilt. Da das CGE-Modell diese nur in Form gesenkter Kosten als Modelleingabe akzeptiert, müssen erst entsprechende Umwandlungen vorgenommen werden. Woher aber bekommt man überhaupt irgendeine Zahl für die nicht-tarifären Handelshemmnisse und was soll sie bedeuten? Bei diesen handelt es sich schließlich um abstrakte Konstrukte, die in irgendeiner Weise das „Ausmaß“ widerspiegeln, in dem unterschiedliche Standards und sonstige „Hindernisse“ im Handel zwischen Staaten bestehen. Hier verweisen die AutorInnen wiederum auf eine fremde Studie im Auftrag der EU-Kommission aus dem Jahr 200910 [19]. In dieser wurde eine umfangreiche Befragung von Unternehmen durchgeführt. Diese hatten auf einer schlichten Skala von 0 bis 100 abzuschätzen, in welchem Ausmaß es Handelshemmnisse in ihrem Wirtschaftssektor zwischen den Handelsräumen gibt11 [20].

Welche Gültigkeit haben derartige Befragungen und die durch die Befragung erhaltenen Zahlenwerte? Egal, solange man sie nur nachfolgend als Datengrundlage für komplexe Modelle verwenden kann. Und dies war sodann der nächste Schritt in jener Studie. Die ermittelten Umfragewerte als Maß für die nicht-tarifären Handelshemmnisse wurden anschließend nämlich in sog. „Gravitationsmodelle“ eingespeist, über die man sie in Handelskosten (als eine Art Äquivalent zu den Zöllen) umzuwandeln können glaubte. Die „Gravitationsmodelle“12 [21] sollen dem leichtgläubigen Leser hierbei natürlich gehörig Respekt einflößen, indem ihr Name die Assoziation zur exakten Physik auslöst. Die vorherrschende Ökonomie versteht sich eben als Sozialphysik, auch wenn sie sich hier lächerlich macht, indem sie durch eine hohl nachahmende Mathematisierung am eigentlichen Ziel von Naturwissenschaft weit vorbeizielt, nämlich tragfähige Kausalaussagen über die beobachtbare Welt zu machen.13 [22] Im Vordergrund der vorherrschenden Ökonomie scheint eher zu stehen, intransparente, komplexe Modelle zu entwerfen, mit denen man sich den nötigen Respekt einwerben kann, um Unheil verkündende politische Absichten zu rechtfertigen.

Die Weltökonomie als Gleichungssystem

Nun kommt der Hauptschritt in der CEPR-Studie: Die auf mysteriöse Weise und frei von Gültigkeitsangaben erfolgte Aus-dem-Hut-Zauberei von Größen, die die nicht-tarifären Handelshemmnisse in Form von Kosten widerspiegeln sollen, werden in das CGE-Modell eingegeben, um schließlich die Veränderungen der Weltökonomie durch das Handelsabkommen zu modellieren. Das verwendete Modell ist dabei von der Verrücktheit seiner Annahmen wiederum so aufgestellt, dass es einem die Sprache verschlägt. Auf Produktionsseite noch halbwegs plausibel werden die Unternehmen aller Sektoren, sowie ihre Verbindungen durch Vorleistungen zu modellieren versucht. Sie erhalten wiederum ihre Produktionsfaktoren durch die Privathaushalte (z.B. Arbeit, Kapital). Nun jedoch kommt es: Die Seite der Privathaushalte ist durch einen einzigen!!! „repräsentativen“ Privathaushalt im Modell vertreten. Hier wird also nicht nur Kommunismus unterstellt14 [23], sondern Ungleichheit auf der Haushaltsseite wird von vornherein aus dem Modell komplett ausgeschlossen!

Nun weiß man auch, weshalb in der Ergebnisdarstellung der Studie wie o.g. gerade vom Vierpersonenhaushalt die Rede ist, welcher ja mehr Einkommen erhalten soll, wenn erst einmal ein Freihandelsabkommen eingeführt wurde. Gemäß Modell gibt es eben gar nichts anderes, als den Vierpersonenhaushalt. Dass dabei die reale Ökonomie von struktureller Ungleichheit auf allen Ebenen gekennzeichnet ist, davon will das Modell nichts wissen. Die Benennung des Vorgehens als Irreführung der Bevölkerung wäre hierbei noch eine liebevolle Untertreibung.

In der CEPR-Studie ist die Weltwirtschaft dank des verwendeten Modells nicht mehr als ein System von 31 Gleichungen, die 11 mal für die unterschiedlichen Regionen mit entsprechend anderen Parametern wiederholt werden15 [24], wobei die üblichen weltfremden neoklassischen Annahmen16 [25] verwendet wurden, um zu den Gleichungen zu kommen.

Zeit ist irrelevant

Das Highlight kommt jedoch noch: Bei den verwendeten CGE-Modellen in CEPR- und auch ifo-Studie handelt es sich nämlich um statische Modelle, d.h. dass Zeit in ihnen überhaupt nicht vorkommt. Hups?! Wann treten die Wirkungen eines Freihandelsabkommens dann also ein? In einem, in zehn, in tausend oder vielleicht in einer Milliarde Jahren?

Hier behilft man sich in der CEPR-Studie mit einer eleganten Formulierung: „The results are reported with respect to an economic benchmark projected out to the year 2027, which implies that they capture the impact of the agreement a full ten years after the implementation of the agreement…“

Es wird also eine „Projektion“ der Ergebnisse auf das Jahr 2027 vorgenommen, was „impliziert“, dass die Auswirkungen innerhalb von zehn Jahren nach geplantem Inkrafttreten des Abkommens (2017) eintreten. Die AutorInnen stellen dies also ohne jeden weiteren Kommentar in den Raum. Das muss man sich vor Augen halten: da wird ein aufgeblasenes Prozedere aufgebaut, unter Verwendung enormer mathematischer Modelle, die eine Hyperexaktheit vorgaukeln, nur um am Ende an einem wirklich interessanten Punkt, wann nämlich die Parallelwelt des neuen „Gleichgewichts“17 [26] denn nun eintritt, einfach ins Blaue hinein zu raten. Aber nein, es wird ja gar nicht geraten, sondern nur eine Antwort gegeben, die etwas „impliziert“. Die AutorInnen müssten eigentlich selber wissen, dass ihre Aussage für das Jahr 2027 komplett bedeutungslos ist, nicht nur, da die ökonomische „Wissenschaft“ ja nicht einmal belastbare BIP-Prognosen für das nächste Jahr abgeben kann, sondern auch, weil Zeit vom Modell überhaupt erst nicht erfasst wird.

Die Misere ist jedoch weit tiefgehender, schließlich ist dieses neue „Gleichgewicht“ nicht mehr als ein Phantasiewesen, eine bloße mathematische Spielerei, allerdings eine hoch gefährliche, dient sie doch zur Pseudolegitimation von Entscheidungen, die viele Millionen Menschen betreffen. In der Modellwelt der Freihandelsverfechter sind ökonomische Umbrüche nicht mehr als der Umstand, dass Variablen in Gleichungen neue Werte annehmen. Verglichen werden dann unterschiedliche Lösungen für diese Gleichungen (je nach Szenario zur Reduktion der ominös ermittelten nicht-tarifären Handelshemmnisse), um die Menschen mit falschen Versprechungen zu locken. Man bekommt den Eindruck, dass die tatsächlichen ökonomischen Prozesse gar nicht interessieren. Ökonomische Prozesse als ein Vorgang in der Zeit sind schließlich gar nicht Bestandteil der Modelle. So muss es dann auch nicht verwundern, wenn man wiederum in der ifo-Studie für die Parallelwelt eines neuen „Gleichgewichts“ (unter Freihandelsabkommen) das Realeinkommen dadurch erhöht sieht, dass die Preise für Deutschland 16,19% unterhalb des (beobachteten) parallelen Basisszenarios von 2007 liegen sollen.18 [27]. Hierbei unterstellen die AutorInnen einen vollen Durchbruch der Freihandelseffekte in „10-20 Jahren“19 [28]. 16% niedrigere Preise gegenüber einer Situation ohne Freihandelsabkommen verteilt auf 10-20 Jahre? Dass hier in einem ohnehin deflationären Umfeld dem Freihandelsabkommen ein Deflationsschub unterstellt wird, scheint die AutorInnen wohl nicht zu irritieren. Warum auch, die Welt ist schließlich solange in Ordnung, wie es gelingt, die Modellgleichungen zu lösen.

NAFTA als Mahnmal

Was ist also von Prognosen basierend auf völlig weltfremden Annahmen zu halten? Der neoliberale Hohepriester Milton Friedman soll auf Kritik hin gesagt haben, dass Annahmen beliebig verrückt sein dürfen. Ja, das stimmt, so ist es z.B. in der Physik. Doch überprüft diese dafür fortwährend die Angemessenheit ihrer Annahmen, indem sie aus ihnen Vorhersagen ableitet, die sie schließlich mit der beobachtbaren Welt vergleicht. Wie verhält es sich hier mit der Ökonomie und speziell mit der Gültigkeit ihrer Annahmen im Bereich von Freihandelsabkommen?

Hier sei abschließend noch auf eine Studie der Universität von Minnesota verwiesen. Diese verglich die damaligen CGE-Modellvorhersagen für das nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA, eingeführt 1994) mit den später dann tatsächlich eingetretenen Verhältnissen.20 [29] Bezogen auf die Veränderung von Export und Import für die USA, Kanada und Mexiko etwa lagen die Modelle nicht nur um teilweise mehrere Größenordnungen daneben, sie lieferten bezogen auf die einzelnen Wirtschaftssektoren sogar systematisch falsche Ergebnisse.21 [30]

Auch für Mexiko wurde damals aufgrund des Freihandelsabkommens ein Wachstumsschub vorhergesagt. Wer nun in die Zahlen schaut, sieht, dass seit der Einführung von NAFTA das Wachstum hingegen zurückging, während die Arbeitslosigkeit stieg. Besonders der Agrarsektor hat seitdem unter US-Billigimporten zu leiden und viele Bauern verloren ihre Existenzgrundlage.

Sollte TTIP tatsächlich durchkommen, wird man sich später wohl nicht mehr an die damaligen Versprechungen rund um Wachstum und Beschäftigung erinnern. Groß ist die Amnesie in Bezug auf Politisches und weit offen sind die Fluchttüren für die Glaskugelprognostiker. Weisen wir Beschäftigungsversprechen aufgrund hanebüchener Modelle also einfach als das zurück, was sie sind: neoliberale Holographie im Dienste des Big Business.

 
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  1. Um eine kleine Stichprobe zu geben: Abbau des Datenschutzes („unnecessary restrictions on dataflows“), straffe Verschärfung des Urheberrechts (ACTA lässt grüßen), Zulassung von wachstumshormon-behandeltem Fleisch in der EU, Beseitigung der Kennzeichnungspflicht für genetisch veränderte Lebensmittel, Abbau der Sicherheitsvorschriften bei der Verwendung von Chemikalien (z.B. REACH-Verordnung) oder allumfassende Deregulierungen, der bisher immerhin spärlich erfolgten Reregulierungen im Finanzsektor (siehe z.B. weed Infoblatt Dezember 2013 [32]) [ [33]]
  2. wenn häufig auch nur als Mittel zum verschwiegenen Zweck [ [34]]
  3. CEPR, Reducing Transatlantic Barriers to Trade and Investment, März 2013 [ [35]]
  4. ifo Institut, Dimensionen und Auswirkungen eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und den USA, Januar 2013 [ [36]]
  5. Siehe hierzu etwa Claus-Peter Ortlieb, Markt-Märchen. Zur Kritik der neoklassischen akademischen Volkswirtschaftslehre und ihres Gebrauchs mathematischer Modelle [37], 2004 [ [38]]
  6. Diese betragen in beiden Richtungen des Atlantiks im Industriesektor gemäß ifo-Studie durchschnittlich nur noch 2,8% [ [39]]
  7. Also jener Standards und unterschiedlichen Gepflogenheiten, die aus Sicht großer Unternehmensverbände und Konzerne ebenso wie Zölle Handelshemmnisse darstellen [ [40]]
  8. Siehe CEPR-Studie [11], S. 48 [ [41]]
  9. Siehe ifo-Studie [13], S.100 [ [42]]
  10. Siehe Ecorys, Non-Tariff Measures in EU-US Trade and Investment – An Economic Analysis [43], 2009 [ [44]]
  11. Wortlaut in der Ecory-Studie: „Question A12a. Consider exporting to the US (EU), keeping in mind your domestic market. If 0 represents a completely ‘free trade’ environment, and 100 represents an entirely closed market due to NTMs, what value between 0 – 100 would you use to describe the overall level of restrictiveness of the US (EU) market to your export product (service) in this sector?“ [ [45]]
  12. Hierbei handelt es sich um eine Art Analogiegleichungen in Anlehnung an das Newton’sche Gravitationsgesetz, nur dass die Massen durch das BIP der Handelspartner und die Distanzen durch die Distanzen ihrer Hauptstädte ersetzt wurden, um keine Kräfte, sondern Handelsströme zu modellieren. Das Vorgehen sieht dann so aus, dass die Gleichung logarithmiert wird, um ein additives Gebilde zu erhalten, das man dann einer Regressionsanalyse unterziehen kann, um mit besagten Variablen die Exportströme zwischen Ländern „vorherzusagen“. Dieses Modell existiert heute in um weitere Variablen erweiterter Form (z.B. gemeinsame Grenze ja/nein). Eine der weiteren Variablen bezieht hierbei endlich auch die Umfragewerte der nicht-tarifären Handelshemmnisse ein. Dies soll offenbar ermöglichen, sie endgültig in eine Art Zolläquivalente umzurechnen. Inwiefern dies gelingt, wie „aussagekräftig“ dies also möglich ist, war der Studie leider nicht zu entnehmen, vielleicht aus guten Gründen? Ergo: Viel Mathematik um nichts. [ [46]]
  13. Was die Mainstreamökonomie wie etwa Finanzmarktkrise, Multiplikatorstreit, Konjunkturprognosen etc. zeigen, ja gerade nicht kann [ [47]]
  14. i.S. zwar nicht aufgehobenen, jedoch komplett gleichen Eigentums an Produktionsmitteln [ [48]]
  15. Siehe CEPR-Studie [11], S. 112 [ [49]]
  16. So etwa „Nutzenmaximierung“ der Haushalte (pardon, des Haushalts) und „Kostenminimierung“ der Unternehmen [ [50]]
  17. i.S. der neuen Lösung für das Gleichungssystem [ [51]]
  18. Siehe ifo-Studie [13], S.97 [ [52]]
  19. ebd. S. 69 [ [53]]
  20. Siehe Kehoe, An Evaluation of the Performance of Applied General Equilibrium Models of the Impact of NAFTA [54], 2003. [ [55]]
  21. Siehe Kehoe (2003) [54], S. 38 [ [56]]