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BR2: “Warum unsere Gesellschaft die Armen verachtet” – eine kleine Zeichnung, die doch so vieles abbildet

Kürzlich hatte ich eine knappe Korrespondenz mit einem Journalisten, der in einem taz-Kommentar zur Bekräftigung seiner Argumentation offenbar ein fiktives Szenario beschreiben wollte, um einen unangemessenen “Umgang mit Schwachen” zu verdeutlichen: “Dann könnte der Gesetzgeber sich zum Beispiel auch überlegen, Hartz IV-Bezieher, die einen ungeliebten Job nicht annehmen, aus ihrer Wohnung zu werfen. Motto: Wer nicht hören will, wird eben obdachlos, wieder ein Fehlanreiz weniger.”

Was ist da nur schief gelaufen? Was ist da an so manchem Journalisten offenbar vorübergezogen, wenn er bislang nicht zur Kenntnis genommen hatte, dass dies bereits zur Elendspraktik des Hartz-Systems in diesem Land gehört?

Zitiert sei also aus der Informationsbroschüre “Arbeitslosengeld II / Sozialgeld – Grundsicherung für Arbeitsuchende” [1] der BA:

“Wenn Sie zwischen 15 bis unter 25 Jahre alt sind, werden bei einer ersten Pflichtverletzung (Ausnahme Meldeversäumnisse) für die Dauer von drei Monaten nur noch die Kosten für Unterkunft und Heizung berücksichtigt; diese werden in der Regel direkt an Ihren Vermieter ausgezahlt.
Bei einer wiederholten Pflichtverletzung werden auch die Kosten für Unterkunft und Heizung für die Dauer von drei Monaten nicht mehr übernommen und der Versicherungsschutz in der Kranken- und Pflegeversicherung entfällt. Wenn Sie sich nachträglich bereit erklären, Ihren Pflichten nachzukommen, können die Kosten der Unterkunft ab dem Zeitpunkt Ihrer Erklärung wieder gezahlt werden.”

Um die Stärkung der Staatsfinanzen kann es nicht wirklich gehen, wenn viele benachteiligte Menschen im Austausch für ein wenig staatliche Unterstützung bis an die Grenzen ihrer Würde geschickt werden sollen. Ginge es darum, hätte man bekanntermaßen nicht die Vermögenssteuer ausgesetzt, die Kapital- und Spitzensteuer gesenkt oder ließe über Möglichkeiten der Steuerflucht [2] und die Konfiguration der Erschaftssteuer ein System unaufhaltsamer Refeudalisierung [3] zu. Um “Leistung” geht es offenbar somit auch nicht, außer man sieht eine besondere Leistung darin, Millionen und Milliarden Euro aus der Arbeit anderer zu extrahieren oder das Ergebnis [4] dieses Prozesses später über das Erbrecht nach Gutdünken in persönliche Macht zu verwandeln.

Nein, es ist nicht gut bestellt um den Sozialstaat (und somit auch den Rechtsstaat), selbst auf dieser unserer europäischen “Insel der Glückseligen”, deren per Lohndruck erpresster Wettbewerbsvorteil [5] die deutsche Elite nun zur Führungselite unter den Eliten Europas gemacht hat, um den abhängig Beschäftigten endlich überall ihre Arbeitsrechte abbauen zu lassen [6]. Die Umstellung des Sozialstaates, der – wie u.a. ein vom BIAJ durchgeführter Vergleich zwischen der Entwicklung der Managergehälter der BA und der Entwicklung der Hartz-IV-Sätze [7] zeigt – mittlerweile wie aus der Feder von Charles Dickens entsprungen wirkt, brauchte jedoch ein gehöriges Maß an Propaganda und Bewusstseinstrübung, damit die Mehrheit der nicht vermögenden Bevölkerung hierzulande sich unterm Strich entrechten ließ.

An die Methodik dahinter erinnern dankenswerterweise Sebastian Dörfler und Julia Fritzsche in einem überaus sorgfältigen und aufklärerischen Beitrag aus dem Juli auf Bayern 2, den ich gern empfehlen will:

“Warum unsere Gesellschaft die Armen verachtet” [8] (58 min., BR 2, Juli 2015)

Zitat:

“Einige, v.a. aus der gebildeten Mittelschicht, mögen sich über Politikerstatements wie >>Parasiten<< empören, mögen Figuren wie >>Cindy aus Marzahn<< belächeln, mögen von sich behaupten, sie läsen die Bildzeitung nur ironisch, guckten Maischberger und Co. nur um mitreden zu können, und sähen Trash-TV nur als gelegentliches ‘guilty pleasure’ zum Schmunzeln. Doch die medial vermittelten Bilder aus Politik, Kultur und Unterhaltung bleiben in den Köpfen, das belegen die Studien von Wilhelm Heitmeyer und dem Hamburger Institut für Sozialforschung. Die Bilder von >>Fetti<<, >>Chantal<< und Arno Dübel, von angeblichen >>Parasiten<<, >>Schmarotzern<< und >>Abzockern<< sind die Bilder einer Gesellschaft, die Menschen nur noch nach dem Nutzen für die Wirtschaft beurteilt. Sie wirken in den Jobcentern und Sozialgerichten, die Erwerbslose dafür bestrafen, dass es keine Jobs mehr gibt. Sie wirken in den Schulen, in denen Maximilian weiterhin Kevin überholen wird, und sie wirken in den Köpfen derer, die den Wohlstand vom >>deuschen Steuerzahler<<, von >>faulen Griechen<< und >>Armutsmigranten<< bedroht sehen. Während in ganz Europa, aber v.a. in Deutschland, Wohlhabende und Unternehmen trotz Krise ihre Gewinne vermehren, ist die Verachtung der Armen der ideologische Kitt, den >>die da oben<< brauchen, um weiter auf Kosten von >>denen da unten<< leben zu können.”

Nachtrag (17:27 Uhr):

Sollten SPD Mitglieder oder mit der Partei Assoziierte die Analysen teilen können, jedoch unter der Demokratie und Engagement betäubenden Wirkung ihrer Führungsstrukturen in die Apathie verfallen sein, läge ein eigener Handlungspunkt, der sich aktuell anbietet, z.B. darin, die Mitmenschen an der Basis mit einem geeigneten Vorbild zu versorgen. Hier lässt sich gut auf die aktuellen Ereignisse in UK verweisen. Dazu könnte man etwa die Rede des neuen Vorsitzenden Jeremy Corbyn auf dem Kongress der Labour Party als Gegengift weiterempfehlen, und dazu auffordern, einmal darüber nachzudenken, ob Gabriel und Corbyn wohl in der gleichen Welt leben, und welche wohl diejenige ist, die nicht wirklich die Realität, sondern eher die Machtinteressen bestimmter Kreise beschreibt:

“Jeremy Corbyn speech at Labour Party Conference 2015” [9] (YouTube-Kanal von Channel4, 29.9.2015)