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No 641

“Wenn man sich heute eine Wahlkarte von Polen anschaut, dann sieht man, dass die rechtsnationalistische Regierungspartei PiS vor allem in Regionen erfolgreich ist, die meist als >>abgehängt<< bezeichnet werden, das sogenannte >>Polska B<<. In den urbanen Wachstumsregionen wie Warschau, Danzig oder Posen wählen die Leute dagegen überwiegend liberal oder linksliberal. Auch Trump hat die Präsidentschaftswahlen von 2016 vor allem im Rust Belt gewonnen, in den ehemaligen Hochburgen von Kohle und Stahl, wo die alten Industrieanlagen seit den 1970er-Jahren vor sich hin rosten. […]
Das bedeutet nicht, dass alle Wähler von Trump, PiS oder AfD Transformationsverlierer sind, dass sie aktuell arbeitslos sind oder ein geringes Einkommen haben. Zu diesen Wählern gehört auch ein Teil des Mittelstands und sehr reiche Menschen. Einer der Gründe dafür ist, dass viele Wähler rechtspopulistischer Parteien, selbst wenn es ihnen heute besser geht, irgendwann im Laufe ihres Lebens von Arbeitslosigkeit oder sozialem Abstieg betroffen waren. Sie trauen daher dem Wohlstand nicht, den sie sich erwirtschaftet haben, sie trauen dem sozialen Frieden nicht. Und hier liegt der Zusammenhang zu den neoliberalen Reformkonzepten. […]
Nehmen wir das besonders anschauliche Beispiel der Transformation in Osteuropa. Dort sollte mit einer >>Schocktherapie<< aus dem vermeintlichen Homo sovieticus ein Homo oeconomicus gemacht werden – also aus Untertanen des sowjetischen Imperiums ein ökonomisch denkender Mensch. Und wie hat man das gemacht? Durch das Zurückschneiden von Sozialleistungen, für die man immer härtere Bedingungen eingeführt hat. In Deutschland haben wir das als “Hartz IV” kennengelernt. Wobei man betonen muss, dass die Ausmaße solcher Sozialreformen immer vom Wohlstandsniveau des jeweiligen Landes abhingen […].”

(Philipp Ther, Historiker – >>Es gibt einen Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Rechtspopulismus<<, ntv.de, 10.9.2023)

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No 640

“Das Problem ist hier ja, dass wirklich so getan wird, als ließen sich bestimmte wirtschafts- und finanzpolitische Probleme auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen lösen. Als sei auch die Lösung eindeutig auf dem Boden der Wissenschaft zu identifizieren. Das kann man in zweierlei Hinsicht so nicht stehen lassen, meiner Ansicht nach. Erstens, gibt es keinen wirtschaftswissenschaftlichen Konsens darüber, wie man bestimmte wirtschaftspolitische Probleme im Zusammenhang mit Wettbewerbsfähigkeit löst oder nicht. Da gibt es unterschiedliche Ansätze, ja. Also, und da gibt es nicht diese eine Richtung, die eben von der Kommission verfochten wird, als ob es keine andere gäbe. Und zweitens ist es natürlich so, das sind ja nicht einfach technische Fragen, wo man sagen würde: >>Dann regeln wir das eben so oder dann regeln wir das eben so.<<, sondern, je nachdem, wie Sie es regeln, haben Sie eine ganz unterschiedliche Verteilung der Kosten. Und Kosten bedeutet ganz real, Lebenschancen für Menschen. Ja? Also, das wissen wir. Es gibt glänzende empirische Studien darüber, wie sich die Austeritätspolitik auf die Lebenschancen von Menschen in Griechenland ausgewirkt hat. Und, welche soziale Schlagseite dadrin vorhanden ist, wie das, sozusagen, das Lebensalter und die Erwartbarkeit von Krankheit und Tod beeinträchtigt hat. […] Und das lässt sich nicht, als technische Frage verhandeln, sondern, das ist eine eminent politische Frage darüber, wie Kosten, und wirklich, nicht nur ökonomische Kosten, sondern ganz existenzielle Kosten verteilt werden.”

(Thomas Biebricher, Professor u.a. für die Politische Theorie der Ökonomie – Die politische Theorie des #Neoliberalismus, Vortrag bei der Stiftung Demokratie Saarland, YouTube-Kanal der Stiftung Demokratie Saarland SDS, 4.4.2022)

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No 639

“>>Der Krieg in der Ukraine macht deutlich, dass wir alle unfähig sind, die Ziele und Grundsätze der UN-Charta durchzusetzen<<, sagte Brasiliens Präsident Lula da Silva bei der UN-Vollversammlung. Eine Kultur des Friedens sei unser aller Pflicht.
Die sich um die BRICS-Gruppe versammelnden Staaten versagen zunehmend die Gefolgschaft. Was US-Präsident Joe Biden in New York zu einer Erfolgsrede trieb, in der er Gemeinsamkeit beschwor. Während die UNO ihre Ziele zur Bekämpfung von Armut und Erderwärmung verfehlt, propagiert er >>einen Platz an der Sonne für alle<<. Nicht anhören wollte er die Eröffnungsrede des UN-Generalsekretärs António Guterres – in der dieser vor der Spaltung der Welt in West und Ost und Arm und Reich warnte. Der neue Multilateralismus ist für die einen Fluch, für die auf der anderen Seite des Grabens Hoffnung.”1

(Daniela Dahn, Journalistin, Schriftstellerin und Publizistin – UN-Vollversammlung: Lula da Silvas und Joe Bidens Reden zeigen die Gräben dieser Welt, der Freitag, September 2023)

  1. Anm. JJ: Hier auch die Rede von Lula vor den UN am 19.9.23, übersetzt auf englisch []
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No 638

“Den meisten Menschen dürfte der 11. September als das Datum bekannt sein, an dem im Jahr 2001 das Terrornetzwerk Al-Qaida mit Passagierflugzeugen Anschläge in den USA verübte. Bereits 1973 wurde jedoch am 11. September Geschichte geschrieben, als das chilenische Militär den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende gewaltsam stürzte und General Augusto Pinochet für 17 Jahre die Macht übernahm. […]
[…] am 11. September 1973, putschte in Chile – mit Unterstützung der USA, die einen Ausbau des sowjetischen Einflusses in Lateinamerika unbedingt abwenden wollten – das Militär unter Führung Pinochets. Noch am selben Tag beging Allende Suizid. Seine Machtergreifung versuchte das Militär mit gefälschten Plänen Allendes zur Errichtung einer Diktatur zu legitimieren. Sofort nach seinem Sturz wurde der Kongress aufgelöst, alle Parteien der Unidad Popular verboten sowie de facto jede politische Betätigung unterbunden. Zudem begannen Militär und Polizei, sowie ab 1974 die neu gegründete Geheimpolizei Dirección Nacional de Inteligencia (DINA), gegen Mitglieder und Sympathisanten der gestürzten Regierung, von Links parteien und von Gewerkschaften repressiv vorzugehen. Eingebunden in diesen Staatsterror war auch die von dem Deutschen Paul Schäfer gegründete Sekte Colonia Dignidad, deren Areal als Folterbasis der DINA sowie als Produktions- und Umschlagstätte für Waffen diente und deren Verbrechen (auch von deutscher Seite) bis heute noch nicht umfassend aufgearbeitet wurden. Nach Schätzungen wurden während der Diktatur in Chile bis zu 500.000 Menschen gefangen gehalten und gefoltert; 3.200 Menschen wurden ermordet (auch im Ausland) oder sind bis heute verschwunden.”1

(Wolfgang Müller-Seedorf & Ingo Rose, Fregattenkapitän, Kulturwirt – 11. September 1973 – Militärputsch in Chile, wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags, Nr. 16/23, 11.09.2023)

  1. Anm. JJ: Nachträglich zum 50. Jahrestag des Militärputsches in Chile, auf Wunsch eines Lesers wird daran erinnert. []
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No 637

“Unabhängig davon gehen Finanzminister Christian Lindner und mit ihm die Mehrheit der Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP, die nun wieder auf die Einhaltung der Schuldenbremse pochen, offenkundig von der falschen Vorstellung aus, dass das Budgetergebnis allein – oder jedenfalls primär – vom „Sparwillen“ der Regierung bestimmt wird. Tatsächlich aber ist die Budgetposition nicht diskretionär, da sie von der Wirtschaftsentwicklung und den anderen sektoralen Finanzierungssalden abhängt.
Die Abhängigkeit von der Wirtschaftsentwicklung zeigt sich daran, dass die politischen Entscheidungsträger zwar einen Teil der Ausgaben festlegen, die Steuersätze bestimmen und einige Vorhersagen zu den Gesamtausgaben und Steuereinnahmen am Jahresende machen können, aber keine Kontrolle über die Haushaltsdynamik während des Jahres besitzen. Wie die private Gesamtersparnis ist auch der Haushaltssaldo (Überschuss, ausgeglichen oder Defizit) ein Residualergebnis des Wirtschaftsprozesses. Jeder Versuch der Regierung, den Saldo proaktiv zu beeinflussen, hat wenig Erfolgsaussichten.
Wenn aber der Budgetsaldo gar nicht unter der Kontrolle der politischen Entscheidungsträger steht, sondern sich vielmehr weitgehend an die Erfordernisse des Wirtschaftssystems anpasst, lässt er sich nicht einfach vorab als Ziel festlegen. Das heißt, die Verwendung willkürlicher und rigider fiskalischer Regeln (also irgendwelcher Defizitobergrenzen) ist unsinnig. Reduziert der Bund etwa in einem wirtschaftlichen Abschwung seine Ausgaben – wie es der Haushaltsentwurf von Finanzminister Lindner für 2024 vorsieht –, um die Überschreitung irgendeiner vorher festgelegten Budgetdefizit-Grenze zu vermeiden, führt dies wegen der Rückkoppelungseffekte zu einer Verschärfung und Verlängerung der Rezession. Es entsteht die Gefahr eines ökonomischen Teufelskreises von Ausgabenkürzungen des Bundes, abnehmendem Wachstum, zunehmender Arbeitslosigkeit, sinkenden Steuereinnahmen, wachsenden Sozialausgaben, damit steigenden Budgetdefiziten und neuen Kürzungsprogrammen.”

(Günther Grunert, Ökonom und Autor bei Makroskop – Schuldenbremse – Gegen alle ökonomische Vernunft, Makroskop, 6.9.2023)

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No 636

“Der Brics-Gipfel in der vergangenen Woche sollte den Beginn einer neuen Weltordnung einläuten – das Ende der amerikanischen Ära und den Aufstieg der Entwicklungsländer. Nach Ansicht einiger enthusiastischer Analysten würde der Gipfel sogar als eine weitere Konferenz von Bandung in die Geschichte eingehen, jenes Treffen von 1955, das während des Kalten Krieges den Weg für eine blockfreie Bewegung ebnete.
Und in dieser Hinsicht war das Treffen in Johannesburg durchaus erfolgreich. Die Organisation kündigte ihre erste Erweiterung seit ihrer Gründung im Jahr 2009 an: Zu den fünf ursprünglichen Brics-Mitgliedern – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – werden im nächsten Jahr Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, der Iran, Äthiopien und Argentinien hinzukommen (vorausgesetzt, die derzeitige Regierung gewinnt die anstehenden Wahlen, was unwahrscheinlich erscheint).
Noch wichtiger ist, dass der Gipfel die Bereitschaft des Blocks unterstrich, sein wachsendes wirtschaftliches Gewicht zu nutzen, um die vom Westen dominierte Weltordnung herauszufordern. Die Kombination dieser beiden Elemente – wachsende wirtschaftliche Stärke und politischer Mut – bedeutet, dass der Block (der in Brics Plus umbenannt werden soll) zu einem vollwertigen geopolitischen Akteur geworden ist, der nicht länger ignoriert werden kann.”

(Thomas Fazi, Journalist und Autor – Aufbruch der Brics-Weltordnung, Makroskop, 2.9.2023)

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No 635

“Sind Sie schon einmal gegen die Fahrtrichtung auf eine Rolltreppe gestiegen und haben versucht, gegen die abwärts gleitenden Stufen anzuarbeiten? Es ist ein ungutes Gefühl. Man tritt und tritt und kommt doch nicht voran. Mit großer Anstrengung kann man sich allenfalls halten.
Oder – anderes Beispiel – haben Sie schon einmal einen Fahrstuhl benutzt, der plötzlich ruckelte und stockte und dann – statt Sie in die oberen Etagen zu befördern – einfach steckenblieb? Urplötzlich wirkt der Raum eng. Manchen scheint die Luft knapp. Die Zeit bis zur Befreiung dehnt sich. Auch kein schöner Moment. […]
Auch die Messungen des Wirtschaftswissenschaftlers Timm Bönke stützen den Befund. Für seine Lebenseinkommensstudien gräbt er sich zusammen mit Kollegen durch Daten von Rentenversicherungen und dem Sozio-oekonomischen Panel, aus dem Mikrozensus und Einkommens-Verbraucherbefragungen seit 1962. Das Team vergleicht: Wer verdient in seinem Leben wie viel? Und wie verhält sich das Einkommen der Eltern zu dem ihrer Kinder?
Den unmittelbar nach dem Krieg in Westdeutschland Geborenen, also den Eltern der heute 40-Jährigen, gelang der Aufstieg in der Breite, selbst für ungelernte Arbeiter war er möglich. 90 Prozent derer, die in den Wirtschaftswunderjahren zur Welt kamen, verdienten mehr als ihre Eltern. Timm Bönke:
>>Für die danach aber gilt das so nicht mehr. Nur jedem Zweiten der 1980 Geborenen gelingt es, das verfügbare Einkommen der Eltern zu übertreffen.<<
Dabei ist das Volkseinkommen seit 1980 pro Kopf um 53 Prozent gewachsen. Der Kuchen ist also sehr viel größer geworden. Wäre er auf gleiche Weise verteilt worden, müssten alle erwachsenen Kinder ihre Eltern irgendwann im verfügbaren Einkommen übertreffen. Tun sie aber nicht.”1

(Julia Friedrichs, Journalistin und Autorin – Working Class: Die Wohlstandsillusion, Deutschlandfunk, 20.8.2023)

  1. Anm. JJ: Große Empfehlung, da Julia Friedrichs auf unterschiedlichen Ebenen zur Darstellung von Ungleichheit und Ausgrenzung ansetzt, informiert und reflektiert! []
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No 634

“Der Konflikt um das Veto der grünen Familienministerin Lisa Paus gegen das Wachstumschancengesetz offenbart dabei, dass die Verschwörungstheorie, die SPD und Grüne zuweilen streuen, wonach die Ampel-Koalition Opfer der fiesen Erpressung durch den kleinsten Koalitionspartner und Finanzminister Lindner sei, nicht stimmt. Nicht nur unterstützt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Lindners Finanzpolitik ausdrücklich. Auch Vize-Kanzler und Wirtschaftsminister Habeck, der die grünen Minister in der Koalition koordiniert, hatte dem Gesetz intern bereits zugestimmt. Im Frühjahr 2022 hatten SPD und Grüne die Eckwerte des Bundeshaushaltes klaglos durchgewinkt. Bereits vor Wochen ließen sich grüne Abgeordnete anonym zitieren: Lisa Paus solle sich bei der Kindergrundsicherung nicht verkämpfen. Schließlich sei Bekämpfung von Kinderarmut nicht das Wichtigste für grüne Besserverdiener. Die Konflikte in der Ampel sind daher auch interne Konflikte der Grünen.
Auch nicht vergessen werden sollte: In der Vergangenheit forderten wesentliche grüne Finanzpolitiker wie Anja Hajduk, heute Staatssekretärin von Wirtschaftsminister Habeck, gar noch eine Verschärfung der Schuldenbremse und permanente Haushaltsüberschüsse Deutschlands. Und Habeck schrieb vor der Bundestagswahl Gastbeiträge in der FAZ gegen eine Vermögensabgabe für Milliardäre. Auch beim faulen Kompromiss für die Erbschaftssteuer im Bundesrat, die aufgrund großzügiger Privilegien für Firmenerben immer wieder vom Verfassungsgericht bemängelt wurde, stimmten der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, sowie der damalige Landwirtschaftsminister Schleswig-Holsteins, Robert Habeck, ohne Not zu. Christian Lindner ist ein beliebter Buhmann, um von den eigenen Widersprüchen abzulenken.
Dabei trägt Deutschland heute bereits die rote Laterne bei den öffentlichen Investitionen in der EU. Die Investitionsquote in Deutschland – öffentliche Investitionen im Verhältnis zum BIP – liegt seit Jahren so niedrig, dass wir als einstiges Land der Ingenieure, Dichter und Denker nicht einmal den Wertverlust des öffentlichen Kapitalstocks durch Verschleiß ausgleichen. Der Zustand der Deutschen Bahn oder der Regierungsflieger ist ein Symbol für Deutschland. Während wir uns zum Gespött der Welt machen, wird in den USA mit dem >>Inflation Reduction Act<< in Zukunftstechnologien investiert; China baut derweil die Solarkapazität im Rekordtempo aus.”

(Fabio De Masi, ehem. MdB, ehem. MdEP, Finanzexperte – Klimageld, Rente, Kürzungspolitik: Diese Bundesregierung ist eine Zumutung, der Freitag, 17.8.2023)

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No 633

“>>Durch die massiv gestiegenen Kosten in der stationären Pflege erreicht die Belastung der Pflegebedürftigen mit den >>Eigenanteilen<< trotz der jüngsten Reformschritte bereits in diesem Jahr ein neues Rekordniveau<<, so begann der Beitrag Armutsfalle Pflegeheim? Die Sozialhilfequote in Pflegeheimen steigt (wieder) an, der hier am 23. Februar 2023 veröffentlicht wurde. Da ging es um die wieder steigende Sozialhilfequote unter den Menschen, die stationär in Pflegeheimen versorgt werden. Mehr als jeder dritte Pflegebedürftige ist auf Leistungen der kommunalen Sozialhilfe angewiesen – und das ist gleichsam die andere Seite der Medaille steigende Eigenanteile.
Und das angesprochene Rekordniveau bei den finanziellen Belastungen der Heimbewohner wird nun durch die neuesten Zahlen die Eigenanteile der Pflegeheimbewohner betreffend bestätigt. >>Die Auswertung des Verbandes der Ersatzkassen e. V. (vdek) vom 1.7.2023 zeigt erneut einen starken Anstieg der finanziellen Belastung der Pflegebedürftigen in Pflegeheimen. Die höchsten Mehrkosten im Vergleich zum Vorjahr haben Pflegebedürftige im ersten Jahr ihres Aufenthalts. Hier stieg die monatliche Eigenbeteiligung innerhalb eines Jahres bundesweit im Durchschnitt um 348 Euro (2022: 2.200 Euro; 2023: 2.548 Euro).<< Das berichtet der Verband der Ersatzkassen unter der Überschrift Finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen in Pflegeheimen steigt kontinuierlich. Das ist ein Anstieg von fast 16 Prozent innerhalb eines Jahres. […]
Da wäre natürlich der seit langem geforderte Umbau der Teilleistungsversicherung Pflegeversicherung hin zu einer Voll- oder wenigstens einer echten Teilkaskoversicherung. […]
Es wäre so viel notwendig, was schon längst hätte in die Wege geleitet werden müssen – angesichts der großen Welle, die sich im Bereich der Langzeitpflege bereits aufbaut und die noch an elementarer Wucht gewinnen wird, ist viel Zeit verloren worden. Und es ist sieht nicht wirklich danach aus, dass man sich zu den an sich erforderlichen großen und mutigen Schritten durchringen kann.”

(Stefan Sell, Professor für Sozialpolitik – Es geht weiter aufwärts. Mit den Eigenanteilen. Die finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen in Pflegeheimen steigt kontinuierlich, Aktuelle Sozialpolitik, 19.7.2023)

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No 632

“Die (ehemals) französische Kolonie Niger verfügt über die hochwertigsten Uranerze Afrikas und ist der siebtgrößte Uranproduzent der Welt, aber der Weltbank zufolge sind 81,4 Prozent seiner Bürger noch nicht einmal ans Stromnetz angeschlossen. 40 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze, ein Drittel der Kinder ist untergewichtig, die Analphabetenquote liegt bei 63 Prozent. Nur die Hälfte der Einwohner hat Zugang zu sauberem Trinkwasser, nur 16 Prozent sind an eine angemessene Sanitärversorgung angeschlossen.
Das gesamte Staatsbudget Nigers, eines Landes mit der dreifachen Fläche der Bundesrepublik, ist mit rund 4,5 Milliarden Euro nicht größer als der jährliche Umsatz des französischen Atomkonzerns. Trotz seiner Uran- und Goldvorkommen lag der Niger im Entwicklungs-Index zuletzt auf Platz 189 von 191 erfassten Staaten.
Frankreich hat im Zuge der >>Dekolonisierung<< der 1960er-Jahre seine vormaligen Kolonien zwar in die formale Unabhängigkeit entlassen, hinterließ ihnen allerdings Staats- und Rechtsordnungen, die – wie in der Kolonialzeit – darauf ausgelegt waren, die Bevölkerung einerseits mit möglichst geringem Aufwand zu kontrollieren und andererseits so viele Rohstoffe zu exportieren als irgend möglich. Nicht genug, dass Frankreich sich über den sogenannten Kolonialpakt in Françafrique weiterhin das Vorkaufsrecht auf alle natürlichen Ressourcen und den privilegierten Zugriff auf Staatsaufträge gesichert hat, es zwingt den Staaten seither ebenso seine irrwitzige Kolonialwährung CFA-Franc auf, die jede autonome Geld-, Wirtschafts- oder Sozialpolitik der (formal souveränen) Staaten nachhaltig verunmöglicht. Die vierzehn CFA-Staaten sind nicht nur durch einen festen Wechselkurs, der allein von den Nachfahren französischer Kolonialmessieurs bestimmt wird, an den Euro gekettet, (was ihnen 1994 eine 50-prozentige Abwertung einbrachte), sondern haben auch jeden Zugriff auf 85 Prozent ihrer Währungsreserven verloren, die sie gezwungenermaßen bei der Agence France Trésor hinterlegen müssen.”1

(Martin Sonneborn und Claudia Latour, Satiriker und politische Beraterin – Martin Sonneborn: Globaler Süden will nicht mehr vom Westen ausgeplündert werden, Berliner Zeitung, 4.8.2023)

  1. Anm. JJ: Für Interessierte, siehe z.B.: “Mit offenen Karten – Der CFA Franc, ein koloniales Erbe” (arte, 2019) oder “Warum Frankreich immer noch Afrika kontrolliert” (The Gravel Institute) []