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No 609

“1989 ist eine Ordnung zerbrochen, die man korrekter als „Pax atomica“ bezeichnet hat, ohne dass eine neue Friedensordnung an ihre Stelle trat. Diese zu schaffen, wäre die Aufgabe der Stunde gewesen. Aber die visionäre Phantasie Europas und des Westens in der Wendezeit reichte nicht aus, um sich das haltbare Konzept einer stabilen europäischen Friedensordnung auszudenken, das allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion einen Platz verlässlicher Sicherheit und Zukunftshoffnungen anzubieten vermocht hätte.
Zwei Gründe sind dafür entscheidend. Beide haben mit alten europäischen Irrtümern zu tun: Zum einen wurde der umfassende wirtschaftliche und politisch Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 einseitig als triumphaler Sieg des Westens im Systemkonflikt zwischen Ost und West interpretiert, der damit endgültig die historische Niederlage des Ostens besiegelte. Dieser Hang, sich zum Sieger zu erklären, ist eine alte westliche Hybris und seit jeher Grund für viele Demütigungen, die das ungleiche Verhältnis zum Osten prägen.
Die Unfähigkeit, nach so umfassenden Umbrüchen andere gleichberechtigte Lösungen zu suchen, hat in dieser fatalen Überheblichkeit ihre Hauptursache. Vor allem aber wurde so das ungeheure und einzigartige Verdienst der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow mit einer verblüffenden Ignoranz als gerngesehenes Geschenk der Geschichte eingeordnet: Die große Vorleistung des Gewaltverzichts in der Reaktion auf das Freiheitsbestreben der Völker des Ostblocks galt als nahezu selbstverständlich. […]
Es ist ein fataler Irrtum, zu meinen, durch den Widerstand gegen die anderen imperialen Mächte gewinne der eigene Nationalismus so etwas wie eine historische Unschuld. Das ist Selbstbetrug und einer der folgenschwersten europäischen Irrtümer. Er verführt auch heute noch viele junge Demokratien dazu, sich nur als Opfer fremder Mächte zu sehen und die eigene Gewaltgeschichte, die eigenen Gewaltphantasien für berechtigt zu halten.”1

(Antje Vollmer, Pädagogin, Publizistin und von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags – Antje Vollmers Vermächtnis einer Pazifistin: >>Was ich noch zu sagen hätte<<, Berliner Zeitung, 23.2.2023)

  1. Anm. JJ: Antje Vollmer wirft ihren Blick auf die vergangenen Jahrzehnte und arbeitet mit ruhigen und nachdenklichen Worten heraus, was den Frieden von europäischem Boden leider auf absehbare Zeit verhindern wird. Zu hoffen bleibt, dass es in Anbetracht nuklearer Eskalationspotentiale überhaupt noch eine Zukunft geben wird, für die man aus der Vergangenheit lernen könnte. Das mag einmal mehr dramatisch klingen, die Geschichte jedoch zeigt, dass derartige Szenarien im atomaren Zeitalter keine schwarzen Schwäne sind. Hier möchte ich noch auf den Telepolis-Artikel von Klaus-Dieter Kolenda aus dem November ’22 hinweisen, der seinen Beitrag dazu zu leisten versucht, reale und schreckliche Gefahren nicht weiter kollektiv zu verdrängen: “Ukraine-Krieg: Einsatz von Atomwaffen wieder möglich” []
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No 608

“Die wechselseitige Abhängigkeit der Sektorsalden verschiedener Länder ist innerhalb einer Währungsunion noch einmal ausgeprägter, weil es keine Wechselkurse gibt, deren Veränderung einen Rollenwechsel zwischen Schuldner und Sparer, zwischen Leistungsbilanz-Defizitland und Leistungsbilanz-Überschussland herbeiführen kann. Daher ist es gerade in einer Währungsunion zwingend, Staatsdefizite und Staatsschulden immer in Verbindung mit dem Saldo des Auslandssektors und den Auslandsschulden bzw. -vermögen zu diskutieren.
Die europäischen Fiskalregeln sind ohne Beachtung dieser Logik aufgestellt worden und daher scheitert ihre Einhaltung laufend. Wer die Ursachen permanenter Auslandsdefizite der einen Länder und permanenter Auslandsüberschüsse der anderen erkennt und abzustellen bereit ist, hat den eigentlichen Stabilitätsanker einer Währungsunion gefunden. Die Tragfähigkeit der öffentlichen Schulden ergibt sich dann automatisch. […]
Die von Christian Lindners Blockade-Haltung betroffenen Länder, allen voran Frankreich, müssen sich gegen diese Engstirnigkeit wehren. Es geht dabei nicht um Diplomatie, sondern um Konfrontation. Wenn sich die verantwortlichen Politiker in Deutschland weigern, selbst zwingende Zusammenhänge wie den zwischen den Finanzierungssalden der Volkswirtschaften anzuerkennen, kann man nämlich mit diplomatischen Mitteln nichts mehr erreichen.”1

(Heiner Flassbeck und Friedericke Spiecker, Makroökonom*innen – Reform der europäischen Fiskalregeln? Der deutsche Finanzminister setzt auf Blockade, Relevante Ökonomik, 17.2.2023)

  1. Anm. JJ: Alte Konflikte treten wieder an die Oberfläche und bescheinigen dem Euro keine rosige Zukunft, weil die Hardliner an seinem fehlkonstruierten Zwangskorsett nichts ändern wollen. []
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No 607

“Am 5. März 2022 flog Bennett dann auf Einladung Putins in einem privaten, vom israelischen Geheimdienst bereitgestellten Jet nach Moskau. In dem Gespräch im Kreml habe Putin, so Bennett, einige substanzielle Zugeständnisse gemacht, insbesondere habe er auf sein ursprüngliches Kriegsziel einer Demilitarisierung der Ukraine verzichtet.
Bennett fragte Putin, ob er vorhabe, Selenskyj zu töten. Putin sicherte ihm ausdrücklich zu, das nicht zu tun. Auf seiner Rückreise rief Bennett Selenskyj an und teilte ihm das Ergebnis mit. Der ukrainische Präsident erklärte sich im Gegenzug bereit, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten – eine Position, die er kurze Zeit später auch öffentlich wiederholte. Damit war eines der entscheidenden Hindernisse für einen Waffenstillstand aus dem Weg geräumt. […]
Auch andere Themen wie die Zukunft des Donbass und der Krim sowie Sicherheitsgarantien für die Ukraine seien in diesen Tagen Gegenstand von intensiven Gesprächen gewesen. Bennett wörtlich: »Ich hatte damals den Eindruck, dass beide Seiten großes Interesse an einem Waffenstillstand hatten.«
Bennett flog daraufhin zunächst nach Deutschland, um mit Bundeskanzler Scholz zu sprechen, anschließend unterrichtete er den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den britischen Premier Boris Johnson sowie die amerikanische Regierung. Boris Johnson habe damals die »aggressive« Position vertreten, dass »man Putin weiter bekämpfen müsse«, wogegen Scholz und Macron eher pragmatisch eingestellt waren. In der US-Regierung seien beide Positionen vertreten gewesen.
In den folgenden Tagen habe es weitere intensive Diplomatie mit den Kriegsparteien gegeben. Bennett habe seine Bemühungen dabei »bis ins kleinste Detail mit den USA, Deutschland und Frankreich abgestimmt«. Auf die Frage, ob die westlichen Verbündeten die Initiative letztlich blockiert hätten, antwortete Bennett: »Im Grunde genommen, ja. Sie haben es blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht.« Sein Fazit: »Ich behaupte, dass es eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gab, wenn sie ihn nicht verhindert hätten.«”1

(Fabian Scheidler, freier Autor – Naftali Bennett wollte den Frieden zwischen Ukraine und Russland: Wer hat blockiert?, Berliner Zeitung, 6.2.2023)

  1. Anm. JJ: Ich kann mir die Abwehrhaltung vieler in Hinblick auf die Möglichkeit, durch gegenseitige Zugeständnisse den weiteren Krieg zu verhindern, durchaus vorstellen. Wer rein moralisch auf die außenpolitischen Ereignisse zwischen der Ukraine und Russland schaut, kann natürlich nur zu dem Schluss kommen, dass man dem Aggressor, der ungerechtfertigt und hochgradig völkerrechtswidrig handelt, nicht entgegen kommen darf, wo kämen wir da hin?! Gleichwohl, neben der Moral gibt es so etwas wie die realen Verhältnisse, mit all den Interessen und Machtmitteln, die seit jeher eine Rolle bei Krieg und Frieden spielten. Bezieht man dies mit ein, und bedenkt, wie wohl eine “Lösung” aussehen soll, die keine Verhandlungslösung ist, sondern ein “Sieg” der Ukraine über die aktuell rücksichtslos und entschlossen agierende Atommacht Russland, kann man hingegen auch aus ethischer Sicht zu dem klaren Ergebnis kommen, dass alle Kraftanstrengungen auf einen Waffenstillstand und Interessenausgleich gelegt werden sollten, auch, wenn sich dies fürchterlich ungerecht anfühlt. Außenpolitik war selten eine Sache der Gerechtigkeit. Dass man jetzt so tut, als wäre dies ganz anders, scheint eher etwas mit den Interessen bei einigen der westlichen Akteure zu tun zu haben. Naftalie Bennett zeigt mit seinen Schilderungen auf, wie schon zu einem frühen Zeitpunkt vielversprechende Wege mutwillig verbaut worden sind. Erschreckend, bedenkt man all die Opfer. Und ja, besonders erschreckend, wie Russlands Führung und Militär diese Opfer auf beiden Seiten einfach herbeiführen. Doch liegt das eben nicht unmittelbar in den westlichen Möglichkeiten. Interessenausgleich hingegen schon. []
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No 606

“Hele-Weigel-Platz: Kostenlose Suppe für Bedürftige. Marzahn am Mittag, Temperaturen um 0 Grad. Teils seit Stunden warten die Menschen hier auf eine warme Suppe oder Lebensmittel. […]
Marcus Richter: >>Ich musste schon meinen Bruder fragen, der hat’s auch nicht so dicke. Ansonsten steh ich einmal im Monat hier und dann ist’s mir egal, von um 9 bis um 12.<<
Andrea Krause: >>Ich find das unangenehm. […] Na, weil mir das irgendwie peinlich ist. Aber man ist drauf angewiesen, also nimmt man’s mit, ja?<<
Detlef Schüler: >>Normales Bürgergeld reicht nicht für drei Kinder und zwei Erwachsene. Das Geld reicht dafür nicht aus.<<
Martina: >>Weil die Preise ziemlich stark angestiegen sind. Wenn man schon Margarine für 1,70 kriegt, das geht gar nicht. […]<<
Interviewer: >>Aber Grundsicherung soll ja vom Gesetz her reichen für ein menschenwürdiges Leben. Reicht das nicht?<<
Martina: >>Nein, bei uns nicht. Also, funktioniert nicht. Wir sparen ja schon überall ein, aber noch mehr sparen. Wo soll man denn noch sparen?<<
Mandy Gashi: >>Ich sag mal so, ich steh jetzt hier, um ein bisschen was zu sparen, damit ich mit den Kindern in den Ferien mal in die Schwimmhalle gehen kann.<<”1

(rbb24 Abendschau – Beitrag vom 29.1.2023, Twitter-Kanal von rbb Abendschau)

  1. Anm. JJ: Wir wissen doch ganz genau, dass die nachfolgenden Generationen auf diese Zustände des schallenden Mangels in einem reichen Land, das den explodierten Reichtum seiner obersten Prozente für unantastbar hält und zugleich hunderte Milliarden in die Auftragsbücher von Rüstungskonzernen fließen lässt, dereinst mit Kopfschütteln zurückblicken und sich fragen werden, wie die Altvorderen sich selbst bereits als zivilisiert betrachten konnten. Bei manchen Werthaltungen und Ideen vermag man unentschlossen, wohin die Reise geht. Was jedoch diese Zustände anbelangt, so bin ich überzeugt, dass man sich bei der späteren Faktensichtung nur noch an Charles Dickens sozialkritische Werke erinnert wissen wird. []
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No 605

“Vor nunmehr fast einem Jahr überfiel Russland die Ukraine. Es ist ein Konflikt mit einer langen und komplizierten Vorgeschichte. Es war ein Wendepunkt. Auch, weil seither Diplomatie zu einem Schimpfwort geworden ist.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) stand die Tage unter Dauerfeuer – insbesondere seiner Koalitionspartner von Grünen und FDP sowie einiger Abgeordneter des Seeheimer Kreises in der eigenen Fraktion, der seit jeher eine große Nähe zur Rüstungsindustrie pflegt. Der Grund: Scholz wollte der Lieferung von Kampfpanzern vom Typ Leopard 2 nicht zustimmen, bevor nicht auch die USA eigene Kampfpanzer lieferten. […]
Denn kein Tag vergeht in Deutschland, ohne dass etwa die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages, Frau Strack-Zimmermann (FDP), oder der neue grüne >>Panzer-Grenadier<< Anton Hofreiter (Grüne) unter dem Beifall irgendeines Leitartiklers mehr Waffen für die Ukraine fordern.
Bei Frau Strack-Zimmermann gehört es vermutlich zur Aufgabenbeschreibung, als Lobbyistin immer mehr Rüstungstechnik vom Fließband rollen zu lassen. Schließlich ist sie Mitglied im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik sowie beim Förderkreis Deutsches Heer. Die Rüstungsschmiede Rheinmetall sitzt in ihrem Wahlkreis. […]
Aber eine jüngere Episode zeigt doch, wie maßgebliche Akteure in Politik und Medien die Debattenkultur vergiften. Ein Teil der Öffentlichkeit scheint verrückt geworden zu sein. Oder ist es Kalkül? Wird das Risiko eines Dritten Weltkrieges hinter dem Smartphone nicht mehr wahrgenommen?
Anders lässt sich die Unfähigkeit zur Reflexion des eigenen Verhaltens nicht mehr erklären. Der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, beschimpfte etwa SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich als „zynischsten und widerlichsten deutschen Politiker“, der für immer als Russlands wertvollstes Asset in die Geschichte eingehen würde. Was hatte Mützenich getan? Er hatte lediglich davor gewarnt, dass Deutschland gegenüber einer Nuklearmacht keine Alleingänge machen sollte. Er hatte darauf hingewiesen, dass jene, die heute Alleingänge mit schweren Kampfpanzern forderten, morgen nach Flugzeugen oder Truppen schreien würden. […]”

(Fabio De Masi, ehem. Europa- und Bundestagsabgeordneter und kritischer Geist – Ukraine Krieg: Deutschlands Hobbygeneräle, Berliner Zeitung, 27.1.2023)

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Leopard-II-Lieferungen: Gesinnungsethik statt Verantwortungsethik

Die veröffentlichte Meinung scheint derzeit nur noch Leopard-II-Lieferungen in die Ukraine zu kennen, wobei dieses brisante Thema – es handelt sich um schweres Kriegsgerät, das nicht allein zu Verteidigungszwecken eingesetzt werden kann und soll – deutlich unterkomplex diskutiert wird, was auch Laien auffallen dürfte. Man vermisst nicht nur genaue Ziele, die mit den Panzern verfolgt werden sollen, sondern v.a. auch das Durchdenken von Folgeszenarien: Wie wird etwa Russland reagieren, wenn die ukrainische Armee bis zur Krim vordringt? Wer diese Fragen nicht ernsthaft durchdenkt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, aus Aktionismus und reiner Gesinnungsethik heraus zu handeln, nicht hingegen aus Verantwortungsethik, die die Konsequenzen ihres Handelns genau bedenkt und abwägt. Ich verurteile den russischen Angriffskrieg auf das Schärfte und bin schockiert über die russische Aggression, die so viele Menschenleben fordert. Dass jedoch in der veröffentlichten Meinung der Denkhorizont möglicher Konfliktlösungen mittlerweile in cm bemessen werden kann, ist ebenfalls ein überaus schockierender Umstand. Laut Umfragen stehen auch große Teile der Bevölkerung derartigen Waffenlieferungen sehr kritisch gegebenüber, in den Hauptmedien spiegelt sich dies jedoch mit der moralischen Druck- und Drohkulisse, die aufgebaut wird, nicht wider. Einmal mehr gewinnt man den Eindruck, dass hier neutrale Berichterstattung, die mehrere Seiten beleuchten und unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen lassen soll, der Verbreitung persönlicher Befindlichkeiten und Meinungen gewichen ist. Auf die heute Sendung vom 21. Januar sei hier exemplarisch verwiesen. Die Stilmittel sind hier geradezu mit den Händen greifbar. Wo mit erfahrenen militärischen und politischen Expert*innen in diesen Fragen über die Zielsetzung und mögliche Konsequenzen von schweren Panzerlieferungen vor dem Hintergrund der derzeitigen Gesamtlage hätte diskutiert werden müssen, wird stattdessen ein ausgiebiges hautnahes Interview sympathischer ukrainischer Panzernfahrer an der Front durchgeführt, die traurig über ihre alten Gerätschaften sind.

Als Kontrapunkt sei an dieser Stelle daher auf ein Interview mit dem ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses, Harald Kujat, verwiesen, in dem dankenswerter Weise der größere Rahmen, sowie Sinnhaftigkeit und Gefahr von immer umfangreicherem Kriegsgerät angesprochen werden:

“Ukrainekonflikt: «Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, die abgebrochenen Verhandlungen wieder aufzunehmen»” (Zeitgeschehen im Fokus, Januar 2023)

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No 604

“»260 Pakete in acht Stunden ausliefern, jeden Tag, egal ob auf dem Land oder in der Stadt – dieses Arbeitspensum habe ein Zusteller für Amazon im Saarland im Schnitt jeden Arbeitstag zu stemmen, so Ulrich. Das sei in der regulären Arbeitszeit nicht zu schaffen. Die anfallenden Überstunden würden jedoch nicht bezahlt. Hinzu komme, dass die Beschäftigten – darunter oft auch Geflüchtete mit geringen Sprachkenntnissen – sich selten wehren würden oder gewerkschaftlich organisiert seien. Und erschwerend hinzu komme, dass die Zusteller oft bei Subunternehmen und nicht bei Amazon direkt beschäftigt seien.«
So erlebe man immer wieder, dass Arbeitgeber in der Branche die Löhne nicht auszahlten, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nicht gewährten, auf unzulässige Weise kündigten oder ihre Beschäftigten schwarz arbeiten ließen.
Amazon hat die Vorwürfe in einer Stellungnahme zurückgewiesen. »Laut Unternehmen sind die Lieferpartner vertraglich verpflichtet, alle geltenden Gesetze einzuhalten, insbesondere in Bezug auf Löhne, Sozialabgaben und Arbeitszeiten.« Genau das ist das Problem: Amazon lässt sich von den vielen Subunternehmen, die im Auftrag des Konzerns fahren und ausliefern, einen Blankoscheck unterschreiben, dass die sich an die gesetzlichen Bestimmungen halten – und man kann dann eine weiße Weste ins Schaufenster hängen. Die dreckige Wäsche wird dann in den verborgenen Kelleretagen des Subunternehmerunwesens gestapelt.
Apropos Amazon: »Sie bekommen oft zu wenig Lohn, sitzen übermüdet am Steuer und leben monatelang in ihrem Lkw. Wie Fernfahrer behandelt werden, die für Amazon Waren durch Deutschland transportieren«, das haben Nik Afanasjew und Caterina Lobenstein im Dezember 2022 in diesem Artikel aufgegriffen und beschrieben: Die Geisterfahrer. Da wird mal mit der Taschenlampe nach unten geleuchtet.”

(Stefan Sell, Professor für Sozialpolitik – Löhne und Arbeitsbedingungen einer weiteren Gruppe von Vergessenen: Paketzusteller, Aktuelle Sozialpolitik, 13.1.2023)

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No 603

“Und bei Verteilung von Lebenschancen sind wir richtig schlecht leider. Und da kann man leider auch nicht so richtig sich das schön reden. Und es ist natürlich was, was uns auf die Füße fallen wird. […]
Also ich hab sehr viele Reportagen über arme Kinder gemacht und das ist wahnsinnig schwer zu ertragen. Wenn du diese ein-, zweijährigen Kinder siehst und du kennst gleichzeitig die Zahlen und du weißt, aller Wahrscheinlichkeit nach steht jetzt schon fest, wie dieses Leben in diesem wahnsinnig reichen Land auf eine Art laufen wird. Wie wenig Chancen das Kind hat und wie groß die Widerstände sein werden, die es überwindet, wenn es das aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz doch schaffen wird, ein Leben, das reich an Möglichkeiten ist, zu führen.
[…] Teilweise kenne ich schon die Kinder dann von Leuten, die ich begleitet habe, als ich angefangen habe als Reporterin, und dann zu sehen,
in welcher Zwangsläufigkeit sich das immer wiederholt. Und immer zu hören, >>ja, es liegt aber an den Familien<< […]
Also, ich habe so viele arme Familien porträtiert, bei den allermeisten war eine Sache total intakt: Dass die für ihre Kinder ein besseres Leben wollten.”

(Julia Friedrichs, Journalistin, Autorin und Filmemacherin – Julia Friedrichs über Armut, Reichtum und Ungleichheit in Deutschland – Jung & Naiv: Folge 615, YouTube-Kanal von jung & naiv, Dezember 2022)

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No 602

“Neben der Zerstörung zweier Länder, Billionen von Dollar, einer massiven Flüchtlingskrise, einer neuen Generation von US-Veteranen, die auf lebenslange Hilfe angewiesen ist, und unzähligen Toten und Verwundeten, sind diese »Eliten« zu einem großen Teil für das Misstrauen gegenüber Washington verantwortlich, das die Kultur und Politik hier bis auf das Mark aufgefressen hat.
Umfrage nach Umfrage zeigt einen rasanten Vertrauensverlust in die amerikanischen Institutionen, einschließlich des einst gepriesenen Militärs. Das ist es, was das in den Krieg Ziehen auf der Grundlage von Lügen, Verzerrungen und rhetorischem Mobbing gegenüber einer bereits angespannten und tribalisierten Gesellschaft antut. Man füge einen finanziellen Kollaps (2008) hinzu, den Washington mit einer beispiellosen Bankenrettung angegangen ist, während Hausbesitzer und Arbeiter ums Überleben kämpften, und man hat die Grundlage für große populistische Bewegungen – links und rechts.
Der Aufstieg von Bernie Sanders und Donald Trump wurde zum Teil durch eine anhaltende Skepsis gegenüber den anhaltenden Kriegen und den Eliten an der Spitze der US-Außenpolitik getragen, die so eigennützig und von amerikanischen Interessen abgekoppelt waren, wie sie es waren.
Man hätte gedacht, sie hätten ihre Lektion gelernt.
Aber der Krieg in der Ukraine hat ihnen einen neuen Zweck gegeben und in diesem Sinne, die Wünsche und Bedürfnisse der amerikanischen Öffentlichkeit einerseits bevormundet, andererseits ignoriert. Ein jüngster Kommentar von Gian Gentile und Raphael S. Cohen, stellvertretender Direktor der Army Research Division, bzw. des Air Force Strategy and Doctrine Program der Rand Corporation, sagt alles. Klar geschrieben für Beltway-Praktiker (figurativ für Establishment Angehörige in Washington, Anm. JJ) und Politiker, lautet die Essenz aus »Der Mythos von Amerikas Ukraine-Müdigkeit« ganz klar: Kümmern Sie sich nicht um die Umfragen oder sogar die amerikanische öffentliche Meinung. Der lange Krieg der Ukraine (und in der Tat Washingtons) wird weitergehen, egal was das gemeine Volk denkt oder fühlt.”

(Kelley Beaucar Vlahos, leitende Mitarbeiterin am Institut für Responsible Statecraft – What foreign policy elites really think about you, Responsible Statecraft, 6.1.2022, Übers. Maskenfall)

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No 601

“Die Konfrontation zwischen Großmächten kann ins Irrationale abgleiten. […]
Auch der zivilen Führung kann kein Zeugnis der Besonnenheit ausgestellt werden. Mehrfach war sie bereit, große Risiken für geringfügige Ziele einzugehen. Auf dem Höhepunkt der Kubakrise erhielt John F. Kennedy von Nikita Chruschtschow das Angebot, beidseitig und öffentlich Raketen abzuziehen. Trotz seiner Schätzung, die Krise könne mit 33 bis 50 prozentiger Wahrscheinlichkeit zu einem Atomkrieg führen, lehnte Kennedy ab. Er verlangte ‒ demütigend für die sowjetische Seite ‒ dass die USA ihren Abzug aus der Türkei nicht öffentlich machen müsse.
1983 ließ US-Präsident Ronald Reagan Simulationen eines Nuklearkriegs durchführen, welche die Sowjets der Überzeugung nahebrachte, einen Präventivschlag durchführen zu müssen. In dieses Jahr fällt Stanislaw Petrows berühmte Entscheidung, einen Alarm entgegen seinen Befehlen nicht weiterzugeben. Was wäre geschehen, wenn Stanislaw Petrow wie Powers ein psychisch instabiler Sadist oder auch nur ein strikt gehorsamer Soldat gewesen wäre?
Der letzte Chef der amerikanischen Nukleararsenale im Kalten Krieg, Lee Butler, urteilte nicht umsonst:
>>Wir entkamen dem Kalten Krieg ohne einen nuklearen Holocaust durch eine Mischung aus Können, Glück und göttlichem Eingreifen und ich vermute, das Letztere hatte den größten Anteil.<< […]
Bedeutende Realisten wie Hans Morgenthau oder John Mearsheimer haben vor einer Außenpolitik gewarnt, die von ideologischem Denken geleitet ist. Kriege für abstrakte Werte wie >>Demokratie<< und >>Freiheit<< hatten so verheerende Folgen wie riskant sie geführt wurden. Große Krisen – und für Mearsheimer ist der Ukrainekrieg die gefährlichste seit der Kubakriese ‒ verlangen aber nach einem nüchtern abwägenden, an realen Risiken orientierten Handeln. Prinzipienreiterei, verbunden mit Überheblichkeit, Wut oder Hass hingegen verengen den Blick und die verfügbaren Handlungsoptionen. In der gegenwärtigen Krise haben sie jedoch wieder Hochkonjunktur.”

(Amin Groh,  Autor auf Makroskop – Wie ich lernte, die Bombe zu verharmlosen, Makroskop.eu, 6.4.2022)