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No 583

“Wenn ich meine Mutter heute vor mir sehe mit ihrem geschundenen, schmerzenden Körper, der fünfzehn Jahre lang unter härtesten Bedingungen gearbeitet hat – am Fließband stehen, Deckel auf Einmachgläser schrauben, sich morgens und nachmittags höchstens zehn Minuten von jemandem vertreten lassen, um auf die Toilette gehen zu können -, dann überwältigt mich die konkrete, physische Bedeutung des Wortes >>soziale Ungleichheit<<. Das Wort >>Ungleichheit<< ist eigentlich ein Euphemismus, in Wahrheit haben wir es mit nackter, ausbeuterischer Gewalt zu tun. Der Körper einer alternden Arbeiterin führt allen die Wahrheit über die Klassengesellschaft vor Augen.”

(Didier Eribon, französischer Soziologe und Philosoph – Rückkehr nach Reims, 2016)

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No 582

“Die sechs analysierten Mineralölkonzerne (Saudi Aramco, BP, Total, Shell, ExxonMobile und Wintershall Dea) haben ihre Gewinne im ersten Halbjahr 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum trotz hoher Abschreibungen auf Nord Stream 2 und das russische Geschäft um rund 60 Milliarden US-Dollar erhöht. Auf den gesamten Mineralölmarkt hochgerechnet ergibt sich ein Übergewinn von rund 430 Milliarden US-Dollar; für das ganze Jahr wären es sogar rund 1.160 Milliarden US-Dollar.
Aus dem Preisanstieg seit Kriegsbeginn – um etwa 50 US-Dollar pro Fass bei Öl und etwa acht Euro pro mmBTU bei Gas – ergeben sich aus den deutschen Verbrauchswerten rechnerisch Übergewinne von 38 Milliarden Euro (Öl) beziehungsweise 25 Milliarden Euro (Gas) für ein Jahr. Bei den Produzenten von Strom aus Kernkraft und erneuerbaren Energien entstehen aus dem Preisanstieg um 140 Euro pro MWh zusätzliche Übergewinne von etwa 50 Milliarden Euro – ein großer Teil davon bei den vier großen Stromkonzernen. Weil aber BP und die anderen Mineralölkonzerne einen beträchtlichen Teil ihrer Gewinne in Steueroasen wie Singapur oder die Schweiz verschieben, und ein anderer großer Teil der Gewinne in den Produktionsländern verbucht wird, würde die nach traditioneller Methode berechnete Unternehmenssteuer nur einen kleinen Teil der Gewinne erfassen.
Je nach Ausgestaltung und Steuersatz (25, 50 oder 90 Prozent) könnte eine Übergewinnsteuer trotzdem Einnahmen von rund 30 bis 100 Milliarden Euro pro Jahr generieren. Die bisherigen Preisentwicklungen und das Beispiel Italien legen nahe, dass Einnahmen von 30 bis 40 Milliarden Euro realistisch wären. Würde es gelingen fast alle in Deutschland erwirtschafteten Gewinne auch hier zu besteuern, wären hypothetisch sogar 100 Milliarden Euro möglich.”

(Christoph Trautvetter und David Kern-Fehrenbach, wissenschaftliche Referenten beim Netzwerk Steuergerechtigkeit – Studie >>Kriegsgewinne besteuern – Ein Beitrag zur Debatte um Übergewinnsteuern<<, Netzwerk Steuergerechtigkeit, 16.8.2022)

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No 581

“Zemarai Ahmadi ahnt nichts, als er sich an diesem Morgen zu seiner Arbeit aufmacht. Es ist der 29. August 2021. Ahmadi arbeitet bei einer US-amerikanischen Hilfsorganisation in Kabul, die Lebensmittel im Land verteilt. Kurz vor Feierabend füllt er noch einige Kanister mit Wasser auf, bevor er sich dann in seinem weißen Toyota Corolla auf den Heimweg macht. […]
Um kurz vor 17 Uhr drücken die US-Soldaten auf den Auslöser. Eine >>Hellfire<<-Rakete durchbricht nach gut einer Sekunde die Schallmauer. Dann verlangsamt sie sich, sodass der Überschallknall am Boden etwa drei Sekunden vor dem Einschlag zu hören ist. Sie trifft zielgenau den Hof. Der weiße Toyota Corolla geht in Flammen auf.
Ahmadis Schwager Nasratullah erzählt am Ort des Einschlags: >>Wir sind dann hier in den Hof gerannt, das Tor war komplett weggesprengt. Das waren zwei-, dreijährige Kleinkinder. Die waren in Stücke zerfetzt. Die haben wir auf der Straße aufgesammelt. Hier im Hof war alles voller Blut und Leichenteile.<<
Sieben Kinder im Alter zwischen zwei und zwölf Jahren tötet die Rakete. Dazu Zemarai Ahmadi und zwei seiner Brüder. Sie alle sind unschuldig.
Doch zunächst behauptet das US-Militär ausdrücklich, man habe erfolgreich einen IS-K Terroristen getötet. Erst drei Wochen später und nach zahlreichen Berichten über die tatsächlichen Opfer, bestätigt ein Pentagon-Sprecher, dass bei dem Angriff ausschließlich Zivilisten getötet wurden.”

(Armin Ghassim und Jonas Schreijäg, Journalisten – Hinrichtung aus der Luft: Deutschland und der US-Drohnenkrieg, Panorama, 11.8.2022)

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No 580

“Steigende Lebensmittelpreise erinnern an ein fast vergessenes Problem: Ernährungsarmut. Wissenschaftler warnen vor den fatalen Folgen vor allem für Kinder. […]
Seit Thilo Sarrazins Hartz-IV-Speiseplan haben die Ratschläge Konjunktur, wie sich Menschen mit wenig Geld angeblich gut und gesund ernähren können. Maria, blaue Jeans über den Flip-Flops, schwarzes T-Shirt, die langen Haare akkurat zum Dutt gebunden, kann sie nicht mehr hören: >>Wir kriegen immer Spartipps, dabei sind wir doch die Profis im Sparen.<< Was gesundes Essen ist, muss ihr niemand erklären. Mehr als zehn Jahre hat sie als Köchin gearbeitet, sprach in Schulen über gute Ernährung, gab Kurse für Wohnungslose. Wenn sie davon erzählt, verblassen die Ringe unter den Augen, die jetzt nicht mehr müde aussehen, sondern leuchten. […]
>>Verborgenen Hunger<< nennen Mediziner eine Mangelernährung, bei der es Menschen nicht an Kalorien fehlt, sie aber mit Vitaminen oder Mineralstoffen kritisch unterversorgt sind. Es ist ein Hunger, den wir nicht sehen, der auch existiert, wenn es Kalorien im Überfluss gibt – sogar Übergewichtige können mangelernährt sein. Das ist wichtig zu verstehen, wenn es heißt: Mitten in Deutschland gibt es >>armutsbedingte Mangelernährung und teils auch Hunger<<.
So deutlich notierte es der Wissenschaftliche Beirat des Bundesernährungsministeriums 2020 in einem Gutachten. Seitdem, man muss es so hart sagen, wird dieses Problem eher gefördert denn gelöst. Zum Jahreswechsel stiegen die Hartz-IV-Sätze um 0,76 Prozent – nachdem Lebensmittel in den zwölf Monaten zuvor fast fünf Prozent teurer geworden waren. Dann kam der Krieg, und die Preise stiegen noch stärker.”

(Martin Rücker, Journalist – Die Armut ruft: >>Seht mich an, es gibt mich noch in euerm ach so reichen Land<<, Berliner Zeitung, 1.8.22)

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No 579

“[Georg Restle:] >>Wen kümmert das noch in diesem Land, außer denen, die auch in den letzten Wochen wieder Hunderte aus ihren wackligen Booten gerettet haben? Wie bei dieser Rettungsaktion auf dem Mittelmeer Ende Juni, als ein kleines Kind nur noch durch Wiederbelebungsaktionen gerade so noch vor dem Tod gerettet werden konnte. Gerettet auch vor einer libyschen Küstenwache, die Flüchtlinge in internationalen Gewässern aufgreift und in die Folterknäste ihres Landes verfrachtet. Das alles sollte eigentlich ein Ende haben, hatte die Ampel-Koalition versprochen. Und v.a. diese Frau hatte solche Rückführungen nach Libyen immer wieder scharf kritisiert und ein Ende der Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache gefordert. Damals, als sie noch in der Opposition war. Und jetzt? Jetzt ist Annalena Baerbock Außenministerin, und plötzlich sieht das alles ganz anders aus.<< […]
Illegale Zurückweisungen, die durch die Europäische Union mit Unterstützung Deutschlands erst ermöglich wurden. Denn die von Europa aufgebaute Küstenwache erhielt die Verantwortung für eine riesige Such- und Rettungszone, kurz SAR, im zentralen Mittelmeer. Weit hinein ins internationale Gewässer.
[Marie Manteuffel (Ärzte ohne Grenzen):] >>Die libysche Seenotrettungszone ist eingerichtet worden eindeutig mit dem Hintergrund die europäische Abschottungspolitik weiterzubetreiben. Eindeutig mit dem Ziel, Menschen durch die libysche Küstenwache auf dem Mittelmeer abfangen zu können und nach Libyen zurückzubringen. Das heißt, sie genau davon abzuhalten, dass sie an einen sicheren Ort in einem europäischen Küstenstaat kommen können.<<“

(Monitor – Flüchtlingsdrama im Mittelmeer: Wortbruch der Bundesregierung?, Website des Politmagazins Monitor, 28.7.2022)

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No 578

“Deutsche Ökonomen begrüßen angesichts der hohen Inflation mehrheitlich die bevorstehende Zinswende der EZB und die Drosselung ihrer Ankaufprogramme von Staatsanleihen. Gleichzeitig wächst die Sorge vor einer neuen Eurokrise. Jedoch überzeugen weder ihre Analysen noch ihre Handlungsempfehlungen. […]
Die hiesige Diskussion über die gestiegene Inflation und die Gefahr einer erneuten Eurokrise weist einmal mehr die typischen Denkfehler auf. Weder die Analysen noch die Handlungsempfehlungen können überzeugen.
Dies betrifft zum einen die Maßnahmen zur Eindämmung der Inflation: Es herrscht große Einigkeit, dass ein mechanistisches Gegensteuern erforderlich ist: Steigt die Inflation, müssen die Zinsen angehoben werden. Üblicherweise lautet die Argumentation, dass die Zinssätze eine wichtige Rolle für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage spielten: Steigende Zinssätze verteuerten die Kreditaufnahme und verstärkten den Anreiz zum Sparen. Wenn als Folge weniger Waren und Dienstleistungen gekauft würden, komme es zu einer Dämpfung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und damit der Preisentwicklung.
Nun wird aber der gegenwärtige Inflationsdruck nicht durch einen Nachfrageüberhang bei normaler Kapazitätsauslastung auf der Angebotsseite verursacht, sondern er ist auf der Angebotsseite der Volkswirtschaft – also durch angebotsseitige Faktoren – entstanden. Zinserhöhungen aber taugen nicht als Mittel gegen eine Inflation, die auf Störungen und Einschränkungen auf der Angebotsseite zurückzuführen ist.
Was sollen höhere Zinssätze gegen angebotsseitige Probleme wie beispielsweise Lieferengpässe bei Vorleistungsgütern, gestiegene Energiepreise, ungleichzeitige Lockdowns mit massiven Behinderungen des Warentransports, Verzögerungen bei der Verschiffung von Waren, die Preissetzungsmacht dominierender Unternehmen, Spekulationen an den Finanzmärkten oder den Krieg in der Ukraine ausrichten? Zinsanhebungen werden nicht zu mehr Fahrzeugen, mehr Erdgas, mehr Heizöl, mehr Kraftstoffen oder mehr Nahrungsmitteln führen.”

(Günther Grunert, Sozioökonom und Autor bei Makroskop – Von >>falschen<< und >>richtigen<< Spreads, Makroskop, 21.7.2022)

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No 577

“Aber warum soll der moralische Standpunkt der westlichen Staaten nicht ausreichend sein? Die Ukrainer sind doch im Recht, wenn sie ihr Land gegen den Aggressor verteidigen, Putin hat das Völkerrecht gebrochen.
Im Recht zu sein, heißt nicht, auch zu können, was man will. Es ist zweifellos moralisch geboten, sich einem Angriffskrieg zu widersetzen. Aber wer sich ihm erfolgreich widersetzen will, darf doch auch die Grenzen des Möglichen nicht aus den Augen verlieren. Welche Art der Unterstützung ist sinnvoll, welche ist es nicht? Was wird nach dem Ende des Krieges geschehen? Denn Russland wird nicht verschwinden, ganz gleich, ob es den Krieg gewinnt oder verliert. Und man wird mit ihm zurechtkommen müssen, so wie die EU auch mit den Anmaßungen anderer Diktaturen zurechtkommt. Die Bürger in den demokratischen Ländern des Westens müssen für die Fortsetzung von Konfrontationen überzeugt und mobilisiert werden. Haben sich die Politiker hierzulande all diese Fragen gestellt?
Was fehlt uns im Westen denn grundsätzlich für die Konfrontation mit Russland?
Es gibt keine deutsche und auch keine europäische Russland-Strategie. Das Verlangen, Russland müsse den Krieg verlieren, ist ein Verlangen, aber keine Strategie. Denn was soll dem Sieg eigentlich folgen?”

(Marc von Lüpke, Florian Harms, Journalisten – “>>Bald schon werden Rechnungen präsentiert<<“, t-online, 16.7.2022)

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No 576

“Wann immer Sie hören, dass hochrangige US-Beamte Washingtons Entschlossenheit anpreisen, die Weltordnung gemäß Amerikas Vision von allem, was richtig und gut ist, zu >>formen<<, stellen Sie sicher, dass Sie Ihre Splitterschutzweste griffbereit haben. In der Praxis gipfelt das >>Formen<< typischerweise in Schusswechseln.
Kürzlich skizzierte Außenminister Anthony Blinken in einer mit Spannung erwarteten Rede den Plan der Biden-Regierung, >>das strategische Umfeld um Peking herum zu gestalten, um unsere Vision eines offenen, integrativen internationalen Systems voranzutreiben<<. In einer Zeit, die Offenheit und Inklusivität feiert, klingt Blinkens Vision gutartig.
Doch nach der jüngsten Vergangenheit zu urteilen, wird diese kürzliche Formungsbemühung die US-Amerikaner und die Welt schlechter stellen. Gestalten heißt aufzwingen. Durch die Einbeziehung von Konformitätserwartungen ist der Ansatz von Natur aus zwangsbehaftet. Wenn die Vereinigten Staaten sich auf den Weg machen zu formen, halten Sie sich bereit für einen Rückschlag.
Erinnern Sie sich daran, dass sich die US-Strategie während des Kalten Krieges auf Eindämmung [„Containment“, Anm. JJ] konzentriert hatte. Wie unvollkommen auch immer umgesetzt, so war die übergeordnete Idee doch recht spezifisch: Die Ausbreitung des Kommunismus verhindern und einen katastrophalen Dritten Weltkrieg abwenden. Doch das abrupte Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989 offenbarte, dass die einzig verbliebene Supermacht der Welt in einer dominanten Position war, ohne ein Gespür dafür zu haben, wie diese Vormachtstellung hätte zum Funktionieren gebracht werden können.”

(Andrew Bacevich, Alex Jordan, Mitglieder des Quincy Institute for Responsible Statecraft – The Perils of Shaping a Recalcitrant World, Quincy Insitute of Responsible Statecraft1, 22.6.2022, Übers. Maskenfall)

  1. gesamter Aritkel veröffentlicht in The Nation []
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No 575

“Fatal an diesem Gipfel >>der Industrieländer<< ist jedoch vor allem die vollständige Ignoranz gegenüber den Fehlern, die man selbst im Verhältnis zu den Ländern gemacht hat und jeden Tag macht, die man gerade jetzt gerne auf die eigene politische Seite ziehen würde. […]
Aus Anlass des G-7 Gipfels hat die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley, gerade den geistigen Kolonialismus des Westens in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht  […]. Sie sagt, China gehe geschickt vor, weil es seine Hilfe für ärmere Länder nicht an Bedingungen knüpfe. Der Westen müsse allerdings auf Bedingungen, wie der Demokratie, dem Kampf gegen Korruption und der Einhaltung der Menschenrechte beharren, weil er ja eine Wertegemeinschaft sei.
Man fragt sich, ob die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments unfassbar naiv und unwissend ist oder nur unglaublich dreist. Der >>wertebasierte<< Westen hat in den vergangenen 70 Jahren vollkommen unabhängig von Demokratie und Menschenrechten Ländern in Not eine Wirtschaftsideologie aufgezwungen, die nicht nur grundsätzlich falsch und dumm war, sondern die Lage der betroffenen Länder in der Regel dramatisch verschlechterte.
Der IWF unter Führung der G-7 Staaten hat sich dagegen systematisch geweigert, über die wirklichen Probleme der betroffenen Länder auch nur nachzudenken, wenn man befürchten musste, eigene wirtschaftliche Interessen (der Wall Street, der Londoner City oder des Frankfurter Bankplatzes) könnten davon negativ berührt werden. Brasilien unter seinem ehemaligen Präsidenten Lula ist nur der bedeutenste dieser Fälle. Als Lulas Finanzminister zu Recht von einem Währungskrieg gegen sein Land sprach, hat man in der westlichen Welt einfach weggehört.
Für all das sind die G-7 unmittelbar verantwortlich, weil sie im IWF das Sagen haben und von dort aus ihre wirtschaftliche Macht ohne jeden Skrupel ausüben. Jeder Mensch in den Entwicklungsländern weiß das und zieht seine Schlussfolgerungen daraus. Nur in den >>demokratischen<< Nationen hat niemand eine Ahnung davon, weil es uns vollkommen egal ist, wie viel Elend es im Rest der Welt gibt und wie viel Schaden unsere Ideologien anrichten. Wer einen Schuldigen dafür sucht, dass im Rest der Welt heute die Bereitschaft, sich klar an die Seite des Westens zu stellen, verschwindend gering ist, muss sich an die eigene Nase fassen.”

(Heiner Flassbeck, ehem. Chefvolkswirt der UNCTAD – Die G-7 und der geistige Kolonialismus des Westens, Relevante Ökonomik, 29.62022)

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No 574

“Die moralischen Begründungen, mit denen die EU-Exekutive die Diversifizierung der europäischen Energieversorgung rechtfertigt, machen ähnlich fassungslos wie Habecks nahöstliche Bittstellertour. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellte folgende >>strategische Überlegungen<< vor: >>Als Demokratien wollen wir die Welt von morgen gemeinsam mit Partnern gestalten, die unsere Vorstellungen teilen<<. Und nannte dann als Energiepartner der Zukunft – neben den USA – drei weitere Musterdemokratien: Aserbaidschan, Ägypten und Katar.
Bis nach den Verhandlungen tatsächlich Gaslieferungen erfolgen, werden Monate oder gar Jahre vergehen. Die Exportkapazitäten der USA reichen nicht aus, um das russische Gas zu ersetzen; Katar ist bis 2026 mit den vor allem für Asien bestimmten Lieferungen ausgelastet; Ägypten exportiert zum größten Teil nach China und in die Türkei. Angesichts der instabilen Lage in Libyen und des Algerien–Marokko-Konflikts, der zur Sperrung der Ma­ghreb-­Europa-Gaspipeline führte, ist wohl auch von Nordafrika keine Lösung zu erwarten. Die Konsequenz: Am 27. April lag der Gaspreis in Europa sechsmal höher als ein Jahr zuvor.”

(Mathias Reymond (Wirtschaftswissenschaftler) und Pierre Rimbert (Redakteur bei LMd, Paris) – Energiekrieg – Die Sieger stehen schon fest, Le Monde diplomatique, 9.6.2022)