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No 613

“Wenn man sich einmal alle Probleme der Privatisierung an einem Fallbeispiel vor Augen führen möchte, muss man sich nur die Geschichte der Bahn anschauen. So ziemlich alle Klischees über die Zerstörung der öffentlichen Daseinsvorsorge lassen sich hier finden: Profitorientierung, Wettbewerb, Entlassungen. Nachdem die Deutsche Bundesbahn und die Deutsche Reichsbahn der DDR nach der Wiedervereinigung zusammengelegt wurden, verwandelte man die Bahn in eine Aktiengesellschaft, mit dem Bund als alleinigem Aktionär. Nur der Börsengang wurde abgewendet. […]
Da sich das Geschäft der Bahn – beziehungsweise die Geschäfte der 600 Verbundunternehmen, die wir »Bahn« nennen – als Aktiengesellschaft rechnen musste, wurden seit den 1990er Jahren 5.400 »unwirtschaftliche« Streckenkilometer stillgelegt. Das sind satte 16 Prozent der Schienenstrecke in ganz Deutschland. Das Angebot wurde weder günstiger noch größer und das Netz verwahrloste. Denn aufgrund des Rendite-Zwangs wurden Sanierungen vernachlässigt. Das hat dazu geführt, dass heute nur jede fünfte Bahn mängelfrei ist und sich Baumaßnahmen häufen, die sich über Jahrzehnte angestaut haben. […]
Gefährlich wird es, wenn trotz maroder Technik zu viel Verantwortung auf zu wenige Beschäftigte übertragen wird, die dieser Verantwortung mangels Entscheidungsgewalt im Unternehmen und begrenzten Kapazitäten schlichtweg nicht gerecht werden können. Der Bund hat mit der Profitorientierung der Bahn eine künstliche Verknappung der Finanzen verschuldet, während die wirklich knappe Ressource, menschliche Arbeitskraft, vollkommen überstrapaziert wird.
Die Beschäftigten sind einem Schichtsystem ausgesetzt, das einen Dienstbeginn zu jeder Tages- und Nachtzeit erfordert. Sechs oder mehr Tage am Stück zu arbeiten, gehört dabei zur Norm. Hinzu kommen Schichten von bis zu zwölf Stunden, auch an Wochenenden und Feiertagen. Angesichts dieser Bedingungen könnte man meinen, dass zumindest etwas Planungssicherheit gewährleistet wird, indem man langfristige und verbindliche Dienstpläne festlegt – dem ist aber nicht so. […]
Eine echte Klimawende muss die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht nur einbinden, sie wird erst durch sie möglich. Die Deutsche Bahn ist der Schlüssel zur Verkehrswende und ihre Beschäftigten sind ihre kostbarste Ressource. Es wird Zeit, dass sie auch so behandelt werden.”

(Atdhe Zymberi, Autor bei Jacobin – Warum die Bahn-Beschäftigten unsere Solidarität brauchen, Jacobin, 24.3.2023)

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No 612

“[…] Während es außer in Hiroshima und Nagasaki glücklicherweise bisher zu keinem weiteren kriegerischen Einsatz von Atombomben gekommen ist, findet man im Internet eine Liste der atomaren Beinahe-Unfälle (nuclear close calls). Darunter versteht man >>Vorfälle<<, die zumindest einer unbeabsichtigten nuklearen Detonation oder Explosion hätten führen können.
Die Liste zeigt, dass seit den 1950er-Jahren bis Anfang der 1990er-Jahre insgesamt mindestens 16 Vorfälle dieser Art bekannt geworden sind, die einen Atomkrieg hätten auslösen können.
Drei dieser sogenannten >>Vorfälle<< möchte ich als Beispiele kurz anführen.
Auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise hätte ein sowjetisches U-Boot in der Nähe der von den USA errichteten Sperrzone um Kuba beinahe einen nuklear bewaffneten Torpedo abgefeuert, während es von amerikanischen Zerstörern verfolgt wurde.
Das Boot hatte wegen schwacher Batterien den Kontakt zu seiner Leitstelle in der Sowjetunion verloren und der Kommandant befürchtete, dass der Krieg gegen die USA bereits begonnen hatte. Er ordnete den Einsatz eines Atomtorpedos mit einer 10-Kilotonnen-Bombe, vergleichbar mit der Hiroshima-Bombe, gegen die amerikanische Flotte an, die das Boot bedrängte.
Für den Abschuss des Torpedos hätten drei Verantwortliche des U-Boots zustimmen müssen. Der Kapitän und ein weiterer Verantwortlicher gaben ihre Zustimmung für den Abschuss, aber der zweite Befehlshaber, der junge sowjetische Marine-Offizier Wassili Archipow, verweigerte seine Zustimmung. Es gelang ihm, den Kapitän zu beruhigen, und das Boot konnte wieder auftauchen und Kontakt mit seiner Leitstelle aufnehmen.
Zu einer weiteren höchst gefährlichen Situation kam es bei dem Manöver >>Able Archer<<<, das von Nato-Streitkräften und leitenden Politikern im November 1983 durchgeführt wurde. […]
Nach der Kündigung des ABM-Vertrages 2001 und des INF-Vertrags 2019 droht jetzt die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen und ein erneutes Wettrüsten zwischen den beiden größten Atommächten. Mittelstreckenwaffen sind, wie dargestellt, keine Defensivwaffen, sondern aufgrund ihrer kurzen Vorwarnzeit Erstschlagswaffen. Damit wächst die Gefahr eines Atomkrieges in Europa. […]”1

(Klaus-Dieter Kolenda, Arzt und Mitglied bei IPPNW – Ukraine-Krieg: Einsatz von Atomwaffen wieder möglich, Telepolis, 12.11.2022)

  1. Anm. JJ: Noch einmal der Verweis auf einen Artikel von Klaus-Dieter Kolenda, der mit vielen Informationen auf die Atomkriegsgefahren unserer Zeit hinweist. Lohnenswert. []
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No 611

“Es hat wohl selten einen Gesetzesvorschlag der EU-Kommission gegeben, der bei Experten verschiedenster Themengebiete so einhellig auf Ablehnung gestoßen ist. Bei einer Anhörung im Digitalausschuss des Bundestags am 1. März 2023 ließen die Sachverständigen kaum ein gutes Haar an dem Verordnungsentwurf zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern (CSAM). >>Was wir bekommen, ist der Plan für eine Überwachungsstruktur, die noch nie dagewesen ist<<, sagte die Sprecherin des Chaos Computer Clubs (CCC), Elina Eickstädt.
Was in der Anhörung deutlich wurde: Während in der Öffentlichkeit der Entwurf vor allem unter dem Schlagwort Chatkontrolle diskutiert wird, sind nach Auffassung der Experten noch zahlreiche andere Aspekte wie die verpflichtende Altersverifikation oder Netzsperren enthalten, die sich nachteilig auf die Internetnutzung sowie Open-Source-Projekte auswirken könnten.
Was auch verwunderte: Selbst Vertreter der Strafverfolgungsbehörden und Kinderschützer sehen große Gefahren für die Grundrechte. >>Es gibt keine Strafverfolgung um jeden Preis<<, sagte Oberstaatsanwalt Markus Hartmann, Leiter der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW).”

(Friedhelm Greis, Redakteur bei Golem – Experten zerpflücken Chatkontrolle in fast allen Aspekten, Golem.de, 1.3.2023)

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No 610

“Das hier auch medial dominante Framing von den von Russland und China in Abhängigkeit gebrachten südlichen Ländern verfängt in Globalen Süden weit weniger. Wahrgenommen wird dort hingegen auch der Neokolonialismus in Form von IWF-Krediten und Import-Export-Kontrolle sowie der Interventionismus als Teil einer >>regelbasierten Ordnung<<. In dieses Schema wird offenbar auch die Aufforderung eingeordnet, nur Russlands Angriff auf ein anderes Land zu verurteilen.
Dort fragen sich viele: Warum nur Russland? Was ist hier anders als bei den anderen Überfällen? Warum gilt nicht gleiches Recht für alle? Die Morde an Lumumba im Kongo, Allende in Chile und weitere Interventionen sind im Bewusstsein der betroffenen Länder präsenter als im hiesigen Diskurs.
Warum sollte man sich also jenseits von erpresserischen “Investitionen” und “Entwicklungshilfen” auf die Seite derer stellen, die bisher vor allem durch Machtausübung und Ausbeutestrukturen aufgefallen sind und deren Ansehen im Lichte der globalen Ressourcen- und Umweltkrise sinkt.”1

(Sabine Schiffer, Medienwissenschaftlerin – Gute Kriege, schlechte Kriege?, Telepolis, 26.2.2023)

  1. Anm. JJ: Passend dazu ein Videoausschnitt von Norbert Lammert, der als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung den namibischen Präsidenten, Hage Geingob, vor China zu warnen scheint. Woraufhin der Präsident dies mit einer Klarstellung erwidert: “It looks like a European problem”. []
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No 609

“1989 ist eine Ordnung zerbrochen, die man korrekter als „Pax atomica“ bezeichnet hat, ohne dass eine neue Friedensordnung an ihre Stelle trat. Diese zu schaffen, wäre die Aufgabe der Stunde gewesen. Aber die visionäre Phantasie Europas und des Westens in der Wendezeit reichte nicht aus, um sich das haltbare Konzept einer stabilen europäischen Friedensordnung auszudenken, das allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion einen Platz verlässlicher Sicherheit und Zukunftshoffnungen anzubieten vermocht hätte.
Zwei Gründe sind dafür entscheidend. Beide haben mit alten europäischen Irrtümern zu tun: Zum einen wurde der umfassende wirtschaftliche und politisch Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 einseitig als triumphaler Sieg des Westens im Systemkonflikt zwischen Ost und West interpretiert, der damit endgültig die historische Niederlage des Ostens besiegelte. Dieser Hang, sich zum Sieger zu erklären, ist eine alte westliche Hybris und seit jeher Grund für viele Demütigungen, die das ungleiche Verhältnis zum Osten prägen.
Die Unfähigkeit, nach so umfassenden Umbrüchen andere gleichberechtigte Lösungen zu suchen, hat in dieser fatalen Überheblichkeit ihre Hauptursache. Vor allem aber wurde so das ungeheure und einzigartige Verdienst der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow mit einer verblüffenden Ignoranz als gerngesehenes Geschenk der Geschichte eingeordnet: Die große Vorleistung des Gewaltverzichts in der Reaktion auf das Freiheitsbestreben der Völker des Ostblocks galt als nahezu selbstverständlich. […]
Es ist ein fataler Irrtum, zu meinen, durch den Widerstand gegen die anderen imperialen Mächte gewinne der eigene Nationalismus so etwas wie eine historische Unschuld. Das ist Selbstbetrug und einer der folgenschwersten europäischen Irrtümer. Er verführt auch heute noch viele junge Demokratien dazu, sich nur als Opfer fremder Mächte zu sehen und die eigene Gewaltgeschichte, die eigenen Gewaltphantasien für berechtigt zu halten.”1

(Antje Vollmer, Pädagogin, Publizistin und von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags – Antje Vollmers Vermächtnis einer Pazifistin: >>Was ich noch zu sagen hätte<<, Berliner Zeitung, 23.2.2023)

  1. Anm. JJ: Antje Vollmer wirft ihren Blick auf die vergangenen Jahrzehnte und arbeitet mit ruhigen und nachdenklichen Worten heraus, was den Frieden von europäischem Boden leider auf absehbare Zeit verhindern wird. Zu hoffen bleibt, dass es in Anbetracht nuklearer Eskalationspotentiale überhaupt noch eine Zukunft geben wird, für die man aus der Vergangenheit lernen könnte. Das mag einmal mehr dramatisch klingen, die Geschichte jedoch zeigt, dass derartige Szenarien im atomaren Zeitalter keine schwarzen Schwäne sind. Hier möchte ich noch auf den Telepolis-Artikel von Klaus-Dieter Kolenda aus dem November ’22 hinweisen, der seinen Beitrag dazu zu leisten versucht, reale und schreckliche Gefahren nicht weiter kollektiv zu verdrängen: “Ukraine-Krieg: Einsatz von Atomwaffen wieder möglich” []
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No 608

“Die wechselseitige Abhängigkeit der Sektorsalden verschiedener Länder ist innerhalb einer Währungsunion noch einmal ausgeprägter, weil es keine Wechselkurse gibt, deren Veränderung einen Rollenwechsel zwischen Schuldner und Sparer, zwischen Leistungsbilanz-Defizitland und Leistungsbilanz-Überschussland herbeiführen kann. Daher ist es gerade in einer Währungsunion zwingend, Staatsdefizite und Staatsschulden immer in Verbindung mit dem Saldo des Auslandssektors und den Auslandsschulden bzw. -vermögen zu diskutieren.
Die europäischen Fiskalregeln sind ohne Beachtung dieser Logik aufgestellt worden und daher scheitert ihre Einhaltung laufend. Wer die Ursachen permanenter Auslandsdefizite der einen Länder und permanenter Auslandsüberschüsse der anderen erkennt und abzustellen bereit ist, hat den eigentlichen Stabilitätsanker einer Währungsunion gefunden. Die Tragfähigkeit der öffentlichen Schulden ergibt sich dann automatisch. […]
Die von Christian Lindners Blockade-Haltung betroffenen Länder, allen voran Frankreich, müssen sich gegen diese Engstirnigkeit wehren. Es geht dabei nicht um Diplomatie, sondern um Konfrontation. Wenn sich die verantwortlichen Politiker in Deutschland weigern, selbst zwingende Zusammenhänge wie den zwischen den Finanzierungssalden der Volkswirtschaften anzuerkennen, kann man nämlich mit diplomatischen Mitteln nichts mehr erreichen.”1

(Heiner Flassbeck und Friedericke Spiecker, Makroökonom*innen – Reform der europäischen Fiskalregeln? Der deutsche Finanzminister setzt auf Blockade, Relevante Ökonomik, 17.2.2023)

  1. Anm. JJ: Alte Konflikte treten wieder an die Oberfläche und bescheinigen dem Euro keine rosige Zukunft, weil die Hardliner an seinem fehlkonstruierten Zwangskorsett nichts ändern wollen. []
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No 607

“Am 5. März 2022 flog Bennett dann auf Einladung Putins in einem privaten, vom israelischen Geheimdienst bereitgestellten Jet nach Moskau. In dem Gespräch im Kreml habe Putin, so Bennett, einige substanzielle Zugeständnisse gemacht, insbesondere habe er auf sein ursprüngliches Kriegsziel einer Demilitarisierung der Ukraine verzichtet.
Bennett fragte Putin, ob er vorhabe, Selenskyj zu töten. Putin sicherte ihm ausdrücklich zu, das nicht zu tun. Auf seiner Rückreise rief Bennett Selenskyj an und teilte ihm das Ergebnis mit. Der ukrainische Präsident erklärte sich im Gegenzug bereit, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten – eine Position, die er kurze Zeit später auch öffentlich wiederholte. Damit war eines der entscheidenden Hindernisse für einen Waffenstillstand aus dem Weg geräumt. […]
Auch andere Themen wie die Zukunft des Donbass und der Krim sowie Sicherheitsgarantien für die Ukraine seien in diesen Tagen Gegenstand von intensiven Gesprächen gewesen. Bennett wörtlich: »Ich hatte damals den Eindruck, dass beide Seiten großes Interesse an einem Waffenstillstand hatten.«
Bennett flog daraufhin zunächst nach Deutschland, um mit Bundeskanzler Scholz zu sprechen, anschließend unterrichtete er den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den britischen Premier Boris Johnson sowie die amerikanische Regierung. Boris Johnson habe damals die »aggressive« Position vertreten, dass »man Putin weiter bekämpfen müsse«, wogegen Scholz und Macron eher pragmatisch eingestellt waren. In der US-Regierung seien beide Positionen vertreten gewesen.
In den folgenden Tagen habe es weitere intensive Diplomatie mit den Kriegsparteien gegeben. Bennett habe seine Bemühungen dabei »bis ins kleinste Detail mit den USA, Deutschland und Frankreich abgestimmt«. Auf die Frage, ob die westlichen Verbündeten die Initiative letztlich blockiert hätten, antwortete Bennett: »Im Grunde genommen, ja. Sie haben es blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht.« Sein Fazit: »Ich behaupte, dass es eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gab, wenn sie ihn nicht verhindert hätten.«”1

(Fabian Scheidler, freier Autor – Naftali Bennett wollte den Frieden zwischen Ukraine und Russland: Wer hat blockiert?, Berliner Zeitung, 6.2.2023)

  1. Anm. JJ: Ich kann mir die Abwehrhaltung vieler in Hinblick auf die Möglichkeit, durch gegenseitige Zugeständnisse den weiteren Krieg zu verhindern, durchaus vorstellen. Wer rein moralisch auf die außenpolitischen Ereignisse zwischen der Ukraine und Russland schaut, kann natürlich nur zu dem Schluss kommen, dass man dem Aggressor, der ungerechtfertigt und hochgradig völkerrechtswidrig handelt, nicht entgegen kommen darf, wo kämen wir da hin?! Gleichwohl, neben der Moral gibt es so etwas wie die realen Verhältnisse, mit all den Interessen und Machtmitteln, die seit jeher eine Rolle bei Krieg und Frieden spielten. Bezieht man dies mit ein, und bedenkt, wie wohl eine “Lösung” aussehen soll, die keine Verhandlungslösung ist, sondern ein “Sieg” der Ukraine über die aktuell rücksichtslos und entschlossen agierende Atommacht Russland, kann man hingegen auch aus ethischer Sicht zu dem klaren Ergebnis kommen, dass alle Kraftanstrengungen auf einen Waffenstillstand und Interessenausgleich gelegt werden sollten, auch, wenn sich dies fürchterlich ungerecht anfühlt. Außenpolitik war selten eine Sache der Gerechtigkeit. Dass man jetzt so tut, als wäre dies ganz anders, scheint eher etwas mit den Interessen bei einigen der westlichen Akteure zu tun zu haben. Naftalie Bennett zeigt mit seinen Schilderungen auf, wie schon zu einem frühen Zeitpunkt vielversprechende Wege mutwillig verbaut worden sind. Erschreckend, bedenkt man all die Opfer. Und ja, besonders erschreckend, wie Russlands Führung und Militär diese Opfer auf beiden Seiten einfach herbeiführen. Doch liegt das eben nicht unmittelbar in den westlichen Möglichkeiten. Interessenausgleich hingegen schon. []
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No 606

“Hele-Weigel-Platz: Kostenlose Suppe für Bedürftige. Marzahn am Mittag, Temperaturen um 0 Grad. Teils seit Stunden warten die Menschen hier auf eine warme Suppe oder Lebensmittel. […]
Marcus Richter: >>Ich musste schon meinen Bruder fragen, der hat’s auch nicht so dicke. Ansonsten steh ich einmal im Monat hier und dann ist’s mir egal, von um 9 bis um 12.<<
Andrea Krause: >>Ich find das unangenehm. […] Na, weil mir das irgendwie peinlich ist. Aber man ist drauf angewiesen, also nimmt man’s mit, ja?<<
Detlef Schüler: >>Normales Bürgergeld reicht nicht für drei Kinder und zwei Erwachsene. Das Geld reicht dafür nicht aus.<<
Martina: >>Weil die Preise ziemlich stark angestiegen sind. Wenn man schon Margarine für 1,70 kriegt, das geht gar nicht. […]<<
Interviewer: >>Aber Grundsicherung soll ja vom Gesetz her reichen für ein menschenwürdiges Leben. Reicht das nicht?<<
Martina: >>Nein, bei uns nicht. Also, funktioniert nicht. Wir sparen ja schon überall ein, aber noch mehr sparen. Wo soll man denn noch sparen?<<
Mandy Gashi: >>Ich sag mal so, ich steh jetzt hier, um ein bisschen was zu sparen, damit ich mit den Kindern in den Ferien mal in die Schwimmhalle gehen kann.<<”1

(rbb24 Abendschau – Beitrag vom 29.1.2023, Twitter-Kanal von rbb Abendschau)

  1. Anm. JJ: Wir wissen doch ganz genau, dass die nachfolgenden Generationen auf diese Zustände des schallenden Mangels in einem reichen Land, das den explodierten Reichtum seiner obersten Prozente für unantastbar hält und zugleich hunderte Milliarden in die Auftragsbücher von Rüstungskonzernen fließen lässt, dereinst mit Kopfschütteln zurückblicken und sich fragen werden, wie die Altvorderen sich selbst bereits als zivilisiert betrachten konnten. Bei manchen Werthaltungen und Ideen vermag man unentschlossen, wohin die Reise geht. Was jedoch diese Zustände anbelangt, so bin ich überzeugt, dass man sich bei der späteren Faktensichtung nur noch an Charles Dickens sozialkritische Werke erinnert wissen wird. []
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No 605

“Vor nunmehr fast einem Jahr überfiel Russland die Ukraine. Es ist ein Konflikt mit einer langen und komplizierten Vorgeschichte. Es war ein Wendepunkt. Auch, weil seither Diplomatie zu einem Schimpfwort geworden ist.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) stand die Tage unter Dauerfeuer – insbesondere seiner Koalitionspartner von Grünen und FDP sowie einiger Abgeordneter des Seeheimer Kreises in der eigenen Fraktion, der seit jeher eine große Nähe zur Rüstungsindustrie pflegt. Der Grund: Scholz wollte der Lieferung von Kampfpanzern vom Typ Leopard 2 nicht zustimmen, bevor nicht auch die USA eigene Kampfpanzer lieferten. […]
Denn kein Tag vergeht in Deutschland, ohne dass etwa die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages, Frau Strack-Zimmermann (FDP), oder der neue grüne >>Panzer-Grenadier<< Anton Hofreiter (Grüne) unter dem Beifall irgendeines Leitartiklers mehr Waffen für die Ukraine fordern.
Bei Frau Strack-Zimmermann gehört es vermutlich zur Aufgabenbeschreibung, als Lobbyistin immer mehr Rüstungstechnik vom Fließband rollen zu lassen. Schließlich ist sie Mitglied im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik sowie beim Förderkreis Deutsches Heer. Die Rüstungsschmiede Rheinmetall sitzt in ihrem Wahlkreis. […]
Aber eine jüngere Episode zeigt doch, wie maßgebliche Akteure in Politik und Medien die Debattenkultur vergiften. Ein Teil der Öffentlichkeit scheint verrückt geworden zu sein. Oder ist es Kalkül? Wird das Risiko eines Dritten Weltkrieges hinter dem Smartphone nicht mehr wahrgenommen?
Anders lässt sich die Unfähigkeit zur Reflexion des eigenen Verhaltens nicht mehr erklären. Der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, beschimpfte etwa SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich als „zynischsten und widerlichsten deutschen Politiker“, der für immer als Russlands wertvollstes Asset in die Geschichte eingehen würde. Was hatte Mützenich getan? Er hatte lediglich davor gewarnt, dass Deutschland gegenüber einer Nuklearmacht keine Alleingänge machen sollte. Er hatte darauf hingewiesen, dass jene, die heute Alleingänge mit schweren Kampfpanzern forderten, morgen nach Flugzeugen oder Truppen schreien würden. […]”

(Fabio De Masi, ehem. Europa- und Bundestagsabgeordneter und kritischer Geist – Ukraine Krieg: Deutschlands Hobbygeneräle, Berliner Zeitung, 27.1.2023)

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No 604

“»260 Pakete in acht Stunden ausliefern, jeden Tag, egal ob auf dem Land oder in der Stadt – dieses Arbeitspensum habe ein Zusteller für Amazon im Saarland im Schnitt jeden Arbeitstag zu stemmen, so Ulrich. Das sei in der regulären Arbeitszeit nicht zu schaffen. Die anfallenden Überstunden würden jedoch nicht bezahlt. Hinzu komme, dass die Beschäftigten – darunter oft auch Geflüchtete mit geringen Sprachkenntnissen – sich selten wehren würden oder gewerkschaftlich organisiert seien. Und erschwerend hinzu komme, dass die Zusteller oft bei Subunternehmen und nicht bei Amazon direkt beschäftigt seien.«
So erlebe man immer wieder, dass Arbeitgeber in der Branche die Löhne nicht auszahlten, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nicht gewährten, auf unzulässige Weise kündigten oder ihre Beschäftigten schwarz arbeiten ließen.
Amazon hat die Vorwürfe in einer Stellungnahme zurückgewiesen. »Laut Unternehmen sind die Lieferpartner vertraglich verpflichtet, alle geltenden Gesetze einzuhalten, insbesondere in Bezug auf Löhne, Sozialabgaben und Arbeitszeiten.« Genau das ist das Problem: Amazon lässt sich von den vielen Subunternehmen, die im Auftrag des Konzerns fahren und ausliefern, einen Blankoscheck unterschreiben, dass die sich an die gesetzlichen Bestimmungen halten – und man kann dann eine weiße Weste ins Schaufenster hängen. Die dreckige Wäsche wird dann in den verborgenen Kelleretagen des Subunternehmerunwesens gestapelt.
Apropos Amazon: »Sie bekommen oft zu wenig Lohn, sitzen übermüdet am Steuer und leben monatelang in ihrem Lkw. Wie Fernfahrer behandelt werden, die für Amazon Waren durch Deutschland transportieren«, das haben Nik Afanasjew und Caterina Lobenstein im Dezember 2022 in diesem Artikel aufgegriffen und beschrieben: Die Geisterfahrer. Da wird mal mit der Taschenlampe nach unten geleuchtet.”

(Stefan Sell, Professor für Sozialpolitik – Löhne und Arbeitsbedingungen einer weiteren Gruppe von Vergessenen: Paketzusteller, Aktuelle Sozialpolitik, 13.1.2023)