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No 599

“Dieser Krieg verdrängt seit Monaten jede andere Weltkrise und hat das Medienspektakel rund um Corona bruchlos abgelöst. Seitdem wird aus den deutschen Wohnzimmern nicht mehr das Pflegepersonal beklatscht, sondern der ukrainische Widerstand gegen die russische Invasion. Unzweifelhaft haben diese Menschen nicht nur unseren Applaus, sondern auch unsere Empathie und Solidarität verdient, ebenso wie ukrainische Geflüchtete, die in Deutschland, auch wieder einmal in oftmals beeindruckender Weise, von Privatpersonen aufgenommen und unterstützt werden. […]
Im Schatten der medial inszenierten Dichotomie von Gut und Böse wird heute ein neues nationales Selbstverständnis und Selbstbewusstsein gestiftet, das alle offenkundigen Widersprüche überspielt und dessen Überzeugungskraft nur über einen äußeren Feind generiert wird. Man schmückt die eigene, brüchig gewordene Lebensweise mit blau-gelben Flaggen und nimmt Putins Krieg nicht als Anlass zum Zweifel an einer vom Westen dominierten Weltordnung, sondern zu ihrer Bekräftigung. Der ukrainische Widerstand gegen einen wild gewordenen russischen Autoritarismus wird untergründig kurzgeschlossen mit einem Kampf für jene westliche Gemeinschaft, deren Ortskräfte in Afghanistan immer noch vergeblich auf Ausreise warten. So können sich die politischen Eliten sanieren und auf dem Rücken der angegriffenen Ukrainer:innen den moralischen Druck erhöhen, ihrer von der NATO garantierten „Werteordnung“ beizutreten.
Die dabei stattfindende, skurrile Umwertung der Werte, in der die NATO sich zum Verbündeten von dekolonialen Kämpfen stilisiert und Russland zu ihrem Außen erklärt, obwohl dessen gegenwärtige Verfassung zu nicht unerheblichen Teilen die Handschrift des Westens trägt, sind nur vor dem Hintergrund der moralischen Entpolitisierung und unkritischen Enthistorisierung des Tagesgeschehens möglich.”

(Mario Neumann, Pressereferent bei medico international – Moralische Mobilmachung, medico Rundschreiben 4/2022)

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No 598

“Die Expert:innenkommission zur Umsetzung des Volksentscheids „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ (DWenteignen) hält die Enteignung großer Immobilienkonzerne für möglich. […]
Dem Bericht zufolge sehen die 13 Mitglieder des Gremiums sowohl die Landeskompetenz für ein entsprechendes Gesetz als auch die Finanzierbarkeit eines solchen Schrittes mehrheitlich als gegeben an. Laut Grundgesetz falle die Vergesellschaftung von Grund und Boden zwar unter die sogenannte konkurrierende Gesetzgebung. Da der Bund davon aber bisher keinen Gebrauch gemacht habe, könne das Land Berlin eine Vergesellschaftung von Grundstücken selbst regeln, heißt es in dem Papier. […]
Neben der rechtlichen Machbarkeit beschäftigt sich der Zwischenbericht auch mit der Frage der finanziellen Entschädigung für die potenziell betroffenen Immobilienkonzerne. Den Expert:innen zufolge könnten >>Abschläge vom Verkehrswert rechtmäßig sein<<, etwa >>wenn der Wert des Gegenstands nicht oder nur eingeschränkt auf eigener Leistung des Betroffenen beruht, sondern zumindest teilweise aus Spekulationsgewinnen resultiert.<<“

(Robert Kiesel, Redakteur beim Tagesspiegel – Zwischenerfolg für >>Deutsche Wohnen & Co enteignen<<: Expertenkommission hält Enteignung von Immobilienkonzernen in Berlin für möglich, Tagesspiegel, 8.12.2022)

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No 597

“Ein ganz großes Problem, glaube ich, ist diese Idee, dass diese Leute mit Kenntnissen kommen müssen, die wir gebrauchen können. Ich glaub, so wird das nichts. […] Sie suchen ja IT-Leute, die schon in den anderen Ländern ausgebildet wurden, oder Pflegekräfte, die woanders schon ausgebildet wurden. […] Ich glaub, man muss als Land tatsächlich umschalten und sagen, wir sind bereit, die Leute, die wir brauchen, hier auszubilden. Und es geht nicht, dass man immer nur Ausgebildete, und am besten noch mit Berufserfahrung, woanders abwirbt. Das hatten wir ja schon bei Ungarn, dass das eigentlich unethisch ist, dass die die Ärzte ausbilden, die wir dann anstellen. […] Diese Nummer, Ausbildung bitte woanders, aber wir wollen dann davon profitieren, das wird nicht mehr funktionieren.”

(Ulrike Herrmann, Journalistin und Publizistin – Markus Lanz vom 1. Dezember 2022, ZDF.de, 1.12.2022)

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No 596

“Nur mit russischer und US-amerikanischer Freigabe des Luftraums war es Präsident Erdogan möglich, die Luftangriffe vergangenes Wochenende zu beginnen. Seitdem gehen die Bombardierungen weiter, mit Kampfflugzeugen, Artillerie und Drohnen werden grenznahe Orte in Rojava beschossen. Bisher starben mindesten elf Zivilisten.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis das türkische Militär Angriffe auf das Gebiet der autonomen Selbstverwaltung in Nordostsyrien startet. Seit April kündigt der türkische Präsident an, eine weitere Militäroffensive zu beginnen und eine >>Pufferzone<< an der Grenze zu errichten – wie auch schon 2019, als im Oktober Hunderttausende vor den türkischen Angriffen fliehen mussten und das Gebiet um Serêkaniyê anschließend von radikal-islamistischen Milizen besetzt wurde. Bis heute sitzen Zehntausende in Flüchtlingslagern. […]
Auch dieser Krieg muss beendet werden. Ein Eingreifen ihrer NATO-Partner muss die türkische Regierung jedoch nicht befürchten. Auch die Bundesregierung gibt sich bisher sehr zurückhaltend. Den Besuch von Innenministerin Faeser zu Beginn der Woche bei ihrem türkischen Amtskollegen hat sie nicht genutzt, um den völkerrechtswidrigen Angriff zu verurteilen. Wieder einmal wird deutlich, dass es nicht um >>feministische Außenpolitik<<, um Menschenrechte oder Demokratie geht, sondern um Geopolitik und Machtkämpfe in einer neu entstehenden Weltordnung. Das internationale Völkerrecht ist darin schon länger zu einer rhetorischen Worthülse verkommen.”

(Anita Starosta, Referentin für Syrien, Türkei und Irak bei medico international – Türkei, Syrien, Iran, Irak: Krieg ohne Grenzen in kurdischen Gebieten, der Freitag, 23.11.2022)

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No 595

“Wer die notwendige Verbindung von Friedenspolitik und Ökologie im Kopf hat, der weiß, dass er niemals die ökologische Frage weltweit lösen kann ohne eine neue Zusammenarbeit mit China und Russland und den Teilen der Welt, die sich nicht dem Westen zugehörig fühlen. Der weiß, dass er eine Brücke bauen muss über den immer tiefer werdenden Graben zwischen den neuen Machtzentren des neuen Kalten Krieges. […]
Aber auch die müssen sich irgendwann entscheiden: Wollen sie vorrangig die Bösewichte der Welt, also die Putins und Xi Jinpings, bestrafen, oder wollen sie die Welt retten?
Im Augenblick hat man den Eindruck, dass die Grünen sich dafür entschieden haben, führend in der Phalanx derjenigen mitzumachen, die die verfluchten Autokraten zu Fall bringen wollen. Eine pazifistische Vision, die selbst für den Paria einen Ausweg sucht, hin zu neuen gemeinsamen Zielen, gilt ihnen als charakterlos und >>lumpenpazifistisch<<.
Das hat viel damit zu tun, wie ernst man die Gattungsfrage in der Klimakrise nimmt. Ob wir meinen, uns noch ein paar Umwege leisten zu können, oder ob wir alles, wirklich alles darauf konzentrieren, Wege zum Frieden zu finden, damit wir endlich zu einer gemeinsamen Klimapolitik kommen.”

(Antje Vollmer, Pädagogin, Publizistin und von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags – >>Für mich hat der Krieg in den Köpfen spätestens 2008 und erst recht 2014 begonnen<<, Telepolis, 15.11.2022)

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No 594

“[…] Die bayerische Polizei steckte Klimaaktivist:innen in Präventivgewahrsam, die CDU fordert Strafverschärfungen und will das Versammlungsrecht indirekt beschneiden, der Kanzler rüffelt die Klimaproteste der Letzten Generation, der Bundesjustizminister spricht von Gefängnisstrafen für die Demonstrierenden, die Innenministerin unterstützt ein hartes Durchgreifen der Polizei während andere Politiker:innen die Proteste als >>demokratiefeindlich<< bezeichnen. Der hessische CDU-Justizminister brachte gar Terror-Anklagen ins Spiel. Es fehlte nur eigentlich nur noch, dass jemand das Verbot von Warnwesten und Sekundenkleber forderte.
Heraus kam auch: In Berlin lässt der Innensenat der rot-grün-roten Landesregierung, das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, sogar exklusiv Beweise gegen Klima-Aktivisten durch die Feuerwehr sammeln. Als gäbe es keine sonstigen Demos, Unfälle, Baustellen, fehlende Rettungsgassen, Fanmeilen, Zweitreihenparker, Großveranstaltungen, Karnevals und Marathons, die Hindernisse für Rettungswägen im täglichen Verkehrs-Infarkt der Hauptstadt darstellen. Das ist Kampagne statt Empirie.
Gleichzeitig trommeln Bild, Welt und Focus in einem medialen Dauerfeuer einmütig zusammen mit rechtsradikalen Stimmungsmachern gegen die Klimaproteste. Ein Feindbild wird gemacht. Es geht gegen diejenigen, die gerade am sichtbarsten auf die Klimakatastrophe aufmerksam machen. Die Verdrängungsgesellschaft will nicht gestört werden, sondern weiter Brumm-Brumm und Bling-Bling machen. […]
Man sollte über die Art und Weise und die Adressat:innen des Protestes der Letzten Generation diskutieren, man muss diese Gruppe und ihren verbissen-humorfreien Habitus nicht gut finden, man kann ihre Strategie für grundfalsch halten. Man kann aber auch einfach nüchtern und anerkennend feststellen: Die Klimakrise ist das drängendste Problem der Menschheit, die Ampel-Regierung verfehlt die Klimaziele krachend – und die Letzte Generation macht darauf unübersehbar gewaltfrei aufmerksam.”

(Markus Reuter, Redakteur bei netzpolitik.org – Im Fadenkreuz der Verdrängungsgesellschaft, netzpolitik.org, 11.11.22)

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No 593

“Feministische Außenpolitik ist nicht, Waffenlieferungen in einem Atemzug mit Sozialausgaben für Kinder zu rechtfertigen.”1

(Ines Schwerdtner, Publizistin und Chefredakteurin der deutschen Ausgabe von JacobinTweet vom 15.10.2022, Twitter-Kanal von Ines Schwerdtner)

  1. Anm. JJ: Der Parteitag der Grünen ist nun zwar schon rund drei Wochen her, doch sei noch einmal daran erinnert, mit welchen Gedankenkombinationen die Delegierten (und die Öffentlichkeit) u.a. von der Person beschallt wurden, die zugleich das Amt der Außenministerin inne hat. Ines Schwerdtner bringt es mit ihrer Aussage auf den Punkt. Die entsprechende Passage aus der Rede von Annalena Baerbock ist hier einsehbar. Einmal mehr wird deutlich, wie von führenden Politiker*innen auch aus den Reihen der Grünen doch >>Wahrheit dem instrumentellen Kriterium der Effizienz<<< untergeordnet wird, und das in einem Öffentlichkeitskontext, sprich: Propaganda betrieben wird. []
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No 592

“Die Ausführungen der Bundesregierung sind unmissverständlich: Dass eine >>gesunderhaltende Ernährung<< mit Hartz IV nicht möglich sei, will sie nicht bestätigen. Einen >>informierten, preisbewussten Einkauf<< vorausgesetzt, sei gesundes Essen auch mit wenig Geld >>grundsätzlich<< drin. So argumentiert die Bundesregierung am 6. Oktober in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Linken. Zum Beleg verweist das federführende Bundesernährungsministerium auf das Gutachten seines wissenschaftlichen Beirats von 2020.
Allerdings lässt sich auch dieses Gutachten schwerlich missverstehen: Es belegt das glatte Gegenteil. Schon lange vor der Rekord-Inflation rechneten darin 18 namhafte Wissenschaftler:innen vor, dass eine deutliche >>Deckungslücke<< zwischen Hartz IV und den Kosten einer gesunden Ernährung besteht. Sie fordern deshalb eine >>erhebliche<< Erhöhung der Regelsätze. Bisher dagegen seien zusätzliche Ressourcen wie angesparte Vermögen oder Unterstützung durch Freunde nötig, damit sich Hartz-IV-Empfänger zumindest >>theoretisch<< eine gesunde Ernährung leisten können. […]
Harald Grethe kommentierte das süffisant: >>Wir leben realweltlich, nicht theoretisch<<, so der Agrarwissenschaftler. Er hatte dem Beirat vorgesessen, als dieser das Gutachten veröffentlichte. Realweltlich aber besteht aus seiner Sicht nun mal ein >>materiell deutlich eingeschränkter Handlungsspielraum<< für Menschen in Armut – im Gutachten heißt es: >>Auch in Deutschland gibt es armutsbedingte Mangelernährung und teils auch Hunger.<< Grethes Fazit: >>Die Bundesregierung gibt den Wissenschaftlichen Beirat nicht korrekt wieder.<<“

(Martin Rücker, Journalist – Ernährung: Wie gelingt gesunde Verpflegung trotz Hartz IV?, Frankfurter Rundschau, 24.10.2022)

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No 591

“* … zielgerichtete Entlastungen für jene, die Unterstützung dringend brauchen: einen Mietenstopp, ein höheres Bürgergeld, eine 500-Euro-Brutto-Soforthilfe, eine bezahlbare Nachfolge für das 9-Euro-Ticket und einen Schutzschirm für die Daseinsvorsorge – von Stadtwerken und Schulen bis zu Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen.
* … eine Gesamtstrategie für eine nachhaltige, bezahlbare Grundversorgung: Energie, Mobilität, Ernährung und Wohnen sowie soziale und kulturelle Teilhabe muss für alle bezahlbar sein.
* … massive Investitionen, um uns für die Zukunft krisenfest zu machen: einen Schub für den naturverträglichen Ausbau Erneuerbarer Energien, dauerhafte Energieeinsparungen und Gebäudesanierung, groß angelegter Ausbau klimafreundlicher Infrastruktur wie dem öffentlichen Nahverkehr und die Förderung der Ökologisierung der Landwirtschaft.
All diese Herausforderungen können wir nur stemmen, wenn wir eine grundlegende Wende in der Finanz- und Haushaltspolitik vornehmen. Dazu braucht es eine Übergewinnsteuer für Konzerne und eine Vermögensbesteuerung für die Reichsten – sowie ein erneutes Aussetzen der Schuldenbremse und ein Abbau klimaschädlicher Subventionen.”

(Bündnis Solidarischer Herbst – Solidarisch durch die Krise – soziale Sicherheit schaffen und fossile Abhängigkeiten beenden, Website des Bündnisses, Oktober 2022)

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No 590

“Es gibt einen berechtigten Zorn im Westen gegen Putin, aber trotzdem und gerade deswegen ist es wichtig, kühlen Kopf zu behalten. Wenn der Krieg weiter eskaliert, wenn der Einsatz von Nuklearwaffen sich realisiert – dann sind die letzten Dinge schlimmer als die ersten. Der Ukraine-Krieg ist kein Computerspiel und kein Blockbuster; die atomare Gefahr ist konkret. Sie wird nicht von Leopard-Panzern abgewendet, sondern durch Verhandlungen. Es ist eine Menschheitserfahrung, dass Frieden gestiftet werden muss. Wo sind die Stifter? Das Stiften beginnt mit Reden; und es darf nicht sein, dass Reden als von vornherein sinnlos erachtet wird. Ist es sinnvoller, den Krieg bis zum Platzen zu füttern?
Die dramatische Lage wird nicht dadurch entschärft, dass Diplomatie zum Unwort erklärt wird – wie es die wirrköpfige Twitter-Notiz von Minister Lauterbach und die Erklärungen des ukrainischen Noch-Botschafters Melnyk getan haben. Lauterbach hat geschrieben: >>Was sollen denn jetzt Kniefälle vor Putin bringen? Wir sind im Krieg mit Putin und nicht seine Psychotherapeuten. Es muss weiter konsequent der Sieg in Form der Befreiung der Ukraine verfolgt werden. Ob das Putins Psyche verkraftet, ist egal<<. Soweit Lauterbachs dumme Twitterei. Nur den Satz >>wir sind im Krieg mit Putin<< hat Lauterbach zurückgenommen, alles andere nicht. Man würde sich wünschen, sein verstorbener Parteifreund Egon Bahr könnte Lauterbach die Leviten lesen.”

(Heribert Prantl, Kolumnist und Autor – Kommentar: Krieg in der Ukraine – Zeitenwende oder Zeitenende, NDR, 9.10.2022)