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Demokratie à la Gauck vs. Democracia Real Ya!

Wem die Festtage zu unpolitisch sind, der oder die hat evtl. die Gelegenheit, die kollektiv etablierte Phase mehr oder minder oberflächlicher Besinnlichkeit und geistiger Leerläufe jenseits familiärer Auseinandersetzungen mit ihren Kalorienüberschüssen im Dienste seelischer Stabilisierung dazu zu nutzen, einen kleinen Realitätscheck zu machen.

Wo befinden wir uns? Im Einzelnen kommt es darauf an, wer wir sind, doch im Gesellschaftlichen lassen sich wie immer Gemeinsamkeiten feststellen, die alle betreffen. Die Welt ist politischer geworden, Bewegungen erwachen, politische Einstellungen polarisieren sich und drücken sich immer stärker auch auf der Handlungsebene aus. Angestaute Widersprüche entladen sich mehr und mehr auch zwischen den Häuptlingen der „westlichen Wertegemeinschaft“. Diese Feststellung machte nun auch Herr Gauck in seiner Weihnachtsansprache:

„Wir rufen die zahlreichen Krisen auf, die sich überlagern und fast alle andauern und bei zahllosen Menschen Unsicherheit, oft auch Angst auslösen. Ich nenne nur die Finanzkrise und die zunehmenden Differenzen in der Europäischen Union. Ich nenne die intensiven Debatten um die Zukunft Griechenlands. Ich denke auch an die Ukraine, an Syrien, Afghanistan, die vom Terror bedrohten Gebiete Afrikas. Und heute, Weihnachten, da denke ich besonders an Menschen, die wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt werden.“

Sei es ihm zugestanden, dass er besonders an die Christen denken will, mit seiner Aufzählung ist jedenfalls ein erster Schritt getan, möchte man meinen. Herrn Gauck, und mit ihm vielen vielen Menschen, dürfte 2015 noch einmal deutlicher geworden sein, dass das Weiter-so-wie-bisher immer offensichtlicher eine Fluchtlösung ist. Die Richtung, die Herr Gauck nun jedoch weiterhin sieht, deutet sich in dem Spurenelement von Kausalanalyse an, die seine Rede enthält. Er dankt den „Soldatinnen und Soldaten“, die „gegen die Wurzeln des Terrors […] eingesetzt sind“. Es verwundert nicht, Herr Gauck vertritt schließlich den Kurs der „neuen Verantwortung“, die ganz auf außenpolitische Militarisierung setzt, und so bedeutet Waffengewalt und Bombardierung in seinem „christlichen“ Weltbild eben, an „die Wurzeln des Terrors“ zu gehen.

Ansonsten bietet er in seiner Rede jedoch keine Erkenntnisse darüber, wo die Ursachen und somit die Lösungsansätze der negativen Entwicklungen liegen könnten. Er lobt die Ehrenamtlichen und Amtlichen in ihrer Flüchtlingshilfe, deutet jedoch nicht an, weshalb eines der reichsten und produktivsten Länder dieser Erde nicht mehr Kapazitäten nutzt, um die Menschen (möglichst alle Menschen) vor eklatantem Mangel zu bewahren. Er spricht nicht davon, warum die Verzweifelten dieser Erde immer häufiger von zu Hause fliehen. Er spricht zwar von „Lösungen“, die „wir“ finden werden, die „unseren ethischen Normen entsprechen und den sozialen Zusammenhalt nicht gefährden“, verweigert sich jedoch, zurückzublicken, um sich zu fragen, inwiefern „ethische Normen“ und „sozialer Zusammenhalt“ nicht bereits seit geraumer Zeit attackiert wurden. So vermag er dann auch nicht zu benennen, wodurch „Gewalt und Hass“, die er in seiner Rede verdammt, so viel Boden gewinnen konnten.

Am Ende bleibt dem Bundespräsidenten und ehemaligen Pfarrer Gauck somit nichts anderes übrig, als die “Familie” und das “Weihnachtsfest” zu beschwören, um Quellen der “Sicherheit und Geborgenheit” zu benennen, auf die offenbar er und seinesgleichen setzen wollen, in dieser, unserer konfliktreichen Welt. Aber immerhin, er spricht vom „Meinungsstreit“, der „keine Störung des Zusammenlebens“ sei, sondern „Teil der Demokratie“.

Ist dies etwa ein Aufruf zur ernsthaften politischen Auseiandersetzung, zur politischen Teilnahme und somit ein Aufruf zum Ende von Alternativlosigkeit und Sachzwang? Das darf man sich von Herrn Gauck freilich nicht erwarten, schließlich hält er Menschen in der Bevölkerung, die sich gegen Tod durch Kriegseinsätze aussprechen für „glücksüchtig“, er gehört zu jenen, die verkünden, dass diejenigen, die eine „freiheitliche Gesellschaft“ wollen, sich einsetzen müssen für „Markt und Wettbewerb“1 und für ihn sind Vorstellungen jenseits des Kapitalismus “unsäglich albern”.

Wenn so jedoch der „Meinungsstreit“ als „Teil der Demokratie“ aussehen soll, die ihm vorschwebt, dann handelt es sich eben um nicht mehr, als die Teilhabeillusion in den engen Grenzen des gewohnten Elitenkonsenses. Dessen Wirken hat in den letzten Jahrzehnten ein Konkurrenz- und Ausgrenzungssystem befördert, das jene Ängste und gesellschaftliche Orientierungslosigkeit hervorbringt, die nun nutzbar gemacht werden bei dem Unterfangen, eine neoliberale Führungsstruktur durch eine offen autoritäre abzulösen, für die selbst der bürgerliche Rechtsstaat (für alle sichtbar) zum Hindernis geworden ist (siehe etwa Ungarn, Polen, Türkei oder Frankreichs Ausnahmezustand).

Es gibt jedoch auch Positives. Ich hatte bereits in der Artikelserie „Das Europa der zwei Gesichter“ darauf verwiesen. In manchen Ländern scheint die neoliberale Krise eher mit einem Linksruck beantwortet zu werden, der den Menschen verdeutlichen könnte, wie eine soziale und friedensmotivierte Alternative aussieht. Eine Alternative, für die Repräsentanten wie Herr Gauck freilich viel zu eitel und unweise sind, als dass sie zugeben könnten, dass ihre ursprünglichen Überzeugungen grandios gescheitert sind. Sie werden sich also weiterhin darum bemühen, wenn schon nicht mehr von den Wesentlichkeiten selbst, so doch von deren Ursachen abzulenken. Sie werden sich bemühen, weiterhin an jener elitären Welt zu basteln, in der ihnen eine so unentbehrliche Funktion als Wächter vor „unsäglich albernen“ Ideen, als Verfechter ihrer wirtschaftsverdrehten Version von Freiheit und Umdeuter von Friedensüberzeugung zur „Glücksucht“ zukommt. Das Besondere jedoch ist, dass sie in dem nun entstehenden Vielklang – der nicht allein schöne Töne hervorbringt – sich mehr und mehr auch den Ideen und Argumenten jener stellen müssen, die noch nicht hinreichend verbittert, verblendet oder korrumpiert sind, um den Menschen ihre Lebensperspektive zu verdüstern.

Um die unübersehbaren Widersprüche unserer Zeit, die so nahe sind, dass man sich ihnen nicht mehr entziehen kann, ist ein Deutungskampf entbrannt. Und die große Chance liegt darin, nicht unbeteiligt daneben zu stehen. Ich empfehle, sich einzubringen, mitzustreiten und eben teilzunehmen an der Demokratie, auch wenn dies nicht so verläuft, wie ein Herr Gauck es sich wünschen dürfte. (Das wäre doch was!)

Die Entwicklungen in Spanien können hier ein Bezugspunkt sein für ein friedlicheres, sozialeres und demokratischeres Europa:


(Quelle: Owen Jones auf YouTube, “Spain’s general elections: behind the scenes of the Podemos campaign”, 21.12.2015)

 

  1. Zitat: „Denn die Freiheit wurde als wichtiges Thema in die Gesellschaft eingebracht, indem man über die Freiheit der Wirtschaft redete. Denn Freiheit in der Gesellschaft und Freiheit in der Wirtschaft, sie gehören zusammen. Wer eine freiheitliche Gesellschaft möchte, möge sich einsetzen für Markt und für Wettbewerb […]“, Festrede beim Walter Eucken Institut, Januar 2014 []

Jascha Jaworski

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