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Eine Reform, die sich als Anleitung zur Auflösung einer Gesellschaft lesen lässt

Wir hatten kürzlich auf die Online-Plattform “Sanktionsfrei” hingewiesen. Die Initiative, die Dank Verlängerung immer noch per Crowdfunding unterstützt werden kann, will Menschen zur Seite stehen, denen das Existenzminimum unter Hartz IV wegsanktioniert wird. Hierdurch wird hoffentlich auch eine zunehmend kritische Öffentlichkeit auf den Würdebruch aufmerksam, der hierzulande tagtäglich staatlich ausgeübt wird. Meinem Eindruck nach wissen immer noch zu wenig Menschen darüber Bescheid, wie geradezu selbstverständlich Menschen in diesem Sanktionsregime ihre Lebensgrundlage entzogen wird, um Zwang auszuüben und die besonders Benachteiligten, die über keine sonstigen Mittel verfügen, gefügig zu machen.

Doch die Hartz-Reform insgesamt ist wohl  unbestreitbar der schwerwiegendste Angriff auf den Sozialstaat (und zugleich die abhängig Beschäftigten) in der Geschichte der Bundesrepublik. Sie hat – im Verbund mit den umfassenden Steuersenkungen für Wohlhabende und Unternehmen, sowie der Demontage der gesetzlichen Rente (alles Agenda 2010) – das Machtgefüge noch einmal überdeutlich in Richtung der Kapitalseite verschoben. Dabei wurde das politisch-gesellschaftliche Klima willentlich vergiftet, schließlich war ein derartiger Angriff auf die sozialen Grundrechte der Menschen nur möglich, indem die geeigneten  Bilder in den Köpfen der Bevölkerungsmehrheit hervorgerufen wurden, um Gruppen gegeneinander auszuspielen (z.B. Niedriglöhner gegen Menschen in Sozialhilfe), Gegenkräfte zu fragmentieren und Menschen mit Falscherzählungen zu lähmen. Man sollte die “Reformer” mit ihrer Version der Realität jedoch nicht so davon kommen lassen, da wir heute sehen, wie tiefgreifend die Veränderung ist. Sie hat die Sozialdemokratie vor dem Neoliberalismus auf die Knie gezwungen und die SPD, als dessen traditionellen Behälter, für viele Menschen verständlicherweise zum leidenschaftlichen Feind gemacht. Die konservativen und wirtschaftsliberalen Kreise dürfen sich über einen derart umfassenden und nachhaltigen Triumph freuen. Die Wahlergebnisse der letzten eineinhalb Jahrzehnte sprechen eine doch recht eindeutige Sprache, die von allerlei selbsterfüllenden Prophezeiungen durchsetzt ist.

Kürzlich hatte ich im Rahmen einer Lehrveranstaltung die Gelegenheit einen Vortrag zur Hartz-Reform zu halten. Zu diesem Zweck hatten wir unsere Folien von 2014 etwas aktualisiert. Wir wollen auch die neue Version verlinken. Die darin enthaltenen Informationen liefern vielleicht eine nützliche Grundlage dafür, mit anderen, bislang skeptischen Menschen, ins Gespräch zu kommen, um sie davon zu überzeugen, dass es einen grundlegenden sozialfortschrittlichen Wandel in diesem Land braucht und ein entscheidender Hebel dafür eben die Sozialgesetzgebung wäre. Kurzfristig wäre das Sanktionsregime in Hartz IV abzuschaffen, langfristig müsste die gesamte Reform rückgängig gemacht werden, da nicht nur ihre Begründungen erwiesenermaßen falsch sind, sondern eben auch ihre ökonomischen und sozialen Konsequenzen verheerend. Dazu muss es jedoch zunächst gelingen, mit den Propagandastories von der “Notwendigkeit” und dem “Erfolg” der Reformen aufzuräumen, sie beherrschen immer noch weite Teile der öffentlichen Meinung und lassen viele Menschen stillhalten, auch weil sie nicht als “unvernünftig” gelten wollen.

Unsere Vortragsfolien (nachfolgend mit einer Kommentierung als rotem Faden):

“Die Hartz-Reform – Eine Erfolgsgeschichte? Wessen Geschichte und Erfolg für wen?” (März 2016)

Folie 3 bis 5 erinnern ein wenig an die politische und ökonomische Ausgangssituation vor der Reform. Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und die Beiträge zur Sozialversicherung waren in den 90er Jahren relativ rasch angestiegen, jedoch nicht, weil die Bevölkerungsmehrheit “über ihre Verhältnisse gelebt” hat, sondern v.a., da die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Wiedervereinigung eben über Sozialversicherung und Staatsverschuldung finanziert wurde. Die Menschen, die in Ostdeutschland ihren Arbeitsplatz verloren1, wurden in die Arbeitslosenversicherung übernommen oder frühverrentet. Während viele westdeutsche Unternehmen durch billigsten Aufkauf in Ostdeutschland (Stichwort: Treuhand) ihren Reibach machen konnten, wurde auf eine höhere Besteuerung von Vermögen oder gar eine Vermögensabgabe wie beim Lastenausgleich 1952 verzichtet. Aufgeführt sind auch einige Spiegeltitel aus dem Zeitraum, die exemplarisch verdeutlichen, wie hier Stimmung gemacht wurde. Es lohnt sich, einmal für diese Jahre im Spiegelarchiv zu stöbern.

Die Folien 6 bis 12 gehen ein wenig auf das Gesellschaftsbild und die offenkundig zweifelhaften Annahmen ein, die den Boden für die Reform bereiteten. Arbeitslosigkeit, in Form der seit der neoliberalen Wende der 70er beobachtbaren Massenarbeitslosigkeit wurde nun in konzertierter Weise individualisiert. Die Bilder in den Köpfen, die die Reform flankierten und als Feindfigur dienten, fanden in “Florida-Rolf”, “Arno Dübel” und anderen Kunstfiguren ihre massenmediale Verbreitung. Gut dokumentiert wurde dies in einem Radiobeitrag auf Bayern 2: “Warum unsere Gesellschaft die Armen verachtet”. Bereits einige wenige ökonomische Daten und Überlegungen machen deutlich, dass die Argumentation bei der Hartz- und Agenda-Politik nicht stimmen kann.

Folie 13 und 14 greifen den Umstand auf, dass es neben der Hartz-Kommission noch eine weitere, jedoch intransparente Gruppe von Personen gab, die offenbar die eigentlichen Erdenker der einschneidendsten vierten Stufe des Hartz-Konzeptes waren. Hier wird verwiesen auf die Darstellungen der Sozialrechtsprofessorin Helga Spindler.

Auf Folie 15 und 16 wird an zentrale Inhalte der Reform erinnert. Ihre Wirkung lässt sich auf späteren Folien noch beobachten. Die Verkürzung des Arbeitslosengeldes auf 12 Monate unabhängig von der bisherigen Beitragsdauer und die Komplettstreichung der Arbeitslosenhilfe, waren die besonders schwerwiegenden Angriffe auf das, was bei den Menschen, die politischen Widerstand leisteten, als “besitzstandsorientiert” oder “strukturkonservativ” diffamiert wurde.

Die Folien 17 bis 19 behandeln den Regelsatz im Arbeitslosengeld II, der 2010 für verfassungswidrig erklärt wurde. Bei der Neuberechnung wurde schließlich ein blinder statistischer Ansatz gewählt, bei dem das Ausgabeverhalten der ärmsten Haushalte in der EVS (Einkommens- und Verbrauchsstichprobe) herangezogen wurde, um den angeblichen existentiellen Bedarf zu ermitteln, der ja zugleich auch die “soziokulturelle Teilhabe” sicherstellen soll. Hier haben die Macher es nicht versäumt zugleich eine willkürliche Methode obendrauf zu setzen, die einzelne Posten aus dem statistischen Korb herauszieht, weil man sie den Menschen im Arbeitslosengeld II nicht zugestehen möchte (u.a. Schnittblumen, Imbissbesuche und Haustiere). Diese statistisch-lieblose Methode wird also um eine willkürliche, normative Komponente ergänzt, so dass die Verantwortlichen sich nicht vorhalten lassen müssen, die Betroffenen wären ihnen gleichgültig. Nein, nein, trotz aller Technokratie zielt der Ansatz zugleich unschwer erkennbar darauf ab, die Restrisiken bescheidenster Lebenszufriedenheit aus den materialisierten sozialen Grundrechten zu extrahieren.

Die Folien 20 bis 24 gehen auf die Sanktionspraxis ein. Streichung von Unterkunft und Heizung, bloße Ermessensspielräume bei Lebensmittelgutscheinen und ein Anstieg der verhängten Sanktionen gerade in jenen Jahren, die dem Bundesverfassungsgerichtsurteil folgten, das davon sprach, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums “dem Grunde nach unverfügbar” sei, machen deutlich, dass mit der Hartz-Reform ein negatives Menschenbild gestiftet wurde, das sehr resistent gegenüber Erfahrungen ist, die sich im Grundgesetz niedergeschlagen haben.

Die Folien 25 und 26 schlüsseln die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II nach einigen wenigen sozialen Merkmalen auf. Allein diese gröbste Unterteilung macht deutlich, dass sich hinter den Statistiken diverse Lebenswelten und Biographien von Menschen verbergen, die mit der Darstellung eines “Arno Dübel” wenig gemein haben dürften. Besonders an Kinder, die in existenzminimierten und sanktionierten Haushalten leben, dürften bei der Konstruktion des Systems die politisch und bürokratisch Verantwortlichen und ihre Claqueure wenig  gedacht haben (oder wenig gedacht haben wollen).

Die Folien 27 bis 33 zeigen die sozialen und ökonomischen Entwicklungen nach Hartz-Reform und Agenda 2010 auf. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Dahinter steht jedoch eine Fragmentierung und Prekarisierung des Arbeitsmarktes, mit der fast kein Beschäftigungsaufbau einherging (siehe Arbeitsvolumen, Folie 28). Gleichwohl, es ist – einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik – gelungen, die Löhne von der Produktivitätsentwicklung zu entkoppeln und die Gewinne einseitig explodieren zu lassen.

Was mag wohl die wichtigste Aussage aus dem Kanzleramtspapier von 2002 zur Agenda-Politik gewesen sein?:

“Der Königsweg für mehr Vertrauen und Beschäftigung ist eine Absenkung der Steuer- und Abgabenbelastung. Denn so behalten die Menschen mehr Netto von ihrem Bruttoeinkommen. Sie können mehr konsumieren und mehr sparen, d.h. für das Alter vorsorgen. Lohnsteigerungen können moderater ausfallen, ohne dass dadurch der Konsum belastet würde. Gleichzeitig verbilligt sich der Faktor Arbeit (Abgaben), für die Unternehmen wird es wieder interessanter, mehr Mitarbeiter einzustellen.”

Die letzte Folie erinnert daran, wie die deutsche “Erfolgsreform” nicht zu scheitern aufhören will, indem ihre Konzepte nun europäisiert werden. Doch damit hatten wir uns an anderer Stelle beschäftigt.

 

  1. befördert zusätzlich durch die hochproblematische Währungsumstellung zum Kurs 1:1 []

Jascha Jaworski

4 Kommentare

  1. Danke für diesen Beitrag und den Link zu Sanktionsfrei. Was meines Erachtens bisher überhaupt nicht thematisiert wird, auch nicht in den einschlägigen linken blogs (zumindest mir sind keine bekannt), ist die Erosion des deutschen Rechtsstaates. Ein Urteil des Verfassungsgerichtes über die Unterschreitung des Existenminimums ist vorhanden. Die Sozialgerichte könnten mit Leichtigkeit diese Sanktionspraxis unterbinden, indem jeder Sanktionsklage Recht gegeben wird und das Jobcenter bestraft wird. Die rechtlichen und moralischen Voraussetzungen sind da. Warum wird das nicht praktiziert?

  2. Das Urteil von 2010 kam hauptsächlich zu dem Schluss, dass die Regelsätze intransparent berechnet wurden, weshalb dann ja das große Getrickse mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aufkam.
    Was nun die Sozialgerichte betrifft, so hat das Bundessozialgericht in einem Sanktionsfall die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz festgestellt, da der Kläger die Sanktionen ja hätte vermeiden können. Das Sozialgericht Gotha jedoch hatte vor einiger Zeit aufgrund eines anderen Falls die Frage der Vereinbarkeit mit dem GG dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt. Darüber wird evtl. noch in diesem Jahr ein Urteil ergehen.
    Unabhängig von der Frage, ob Sanktionen mit dem GG vereinbar sind, muss man zusätzlich jedoch feststellen, dass die hohe Erfolgsquote von Klagen (ca. 40%) belegt, dass sehr häufig Rechtsbruch begangen wird, da eben nur ein sehr kleiner Anteil der Sanktionen von den Betroffenen bis zur Klage geführt wird. Daher ist die die Initiative “Sanktionsfrei” ja auch noch einmal sehr unterstützenswert.

  3. Ein Grund für die Misere dieses menschenverachtenden Hartz IV System dürfte auch sein, dass viele LeistungbezieherInnen im Unterbewusstsein denken, der Staat gewähre ihnen diese Sozialleistung aus karitativen und humanitären Gründen.

    Ich habe in einem ähnlichen Bereich nämlich der Grundsicherung die Erfahrung gemacht, dass sogar Rechtsanwälte sich sehr defensiv verhalten haben.
    Daraufhin habe ich als Antwort auf die Verzögerungs- und Demütigungsstrategie des Amtes, die ganze Sache selbst in die Hand genommen und unter Zuhilfenahme des Leitfadens “Alg II/ Sozialhilfe von A-Z” eine Fachaufsichtsbeschwerde an den zuständigen Bezirksbürgermeister gerichtet. Das hat gewirkt…

    Leider ist diese Einsicht, nämlich, dass man „die Verhältnisse dadurch zum Tanzen bringen kann, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorspielt“ viel zu wenig bei den Opfern dieses brutalen Paradigma-Wechsels im einstigen Sozialstaat verbreitet.

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