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“Change” diesmal ohne Geld von oben

Es ist schon beeindruckend, was sich nach mehreren Jahrzehnten demokratischer Entleerung, institutionalisierter Menschenfeindlichkeit und forcierter ökonomischer Ausgrenzung aktuell in den Vereinigten Staaten beobachten lässt. Wer hätte gedacht, dass das Land, in dem sich der Neoliberalismus unter allen westlichen Ländern in seiner rohesten und rücksichtslosesten Variante durchgesetzt hat, eine Bewegung hervorbringt, die aktuell einen Mann zumindest zum gefühlten Präsidenten macht, der etwas tut, von dem man im Mainstream der meisten europäischen Länder derzeit nur träumen kann: die zentralen und drängendsten gesellschaftlichen Probleme unverblümt und ohne Bückling vor den herrschenden Kreisen auf die Agenda zu setzen, um so die Köpfe der Menschen zu defragmentieren und ein kollektives Bewusstsein zu schaffen, das sich so einfach nicht mehr beseitigen lassen wird.

Bernie Sanders Wahlkampf kann man getrost als Aufklärungskampagne sehen, in der die Breite der Bevölkerung darauf aufmerksam gemacht wird, dass es sich bei den Vereinigten Staaten um keine Demokratie, sondern eben eine Oligarchie handelt, in der Wahlen gekauft werden und die Walton Milliardärsfamilie (Walmart) beispielsweise mehr Vermögen besitzt, als die unteren 40% der US-Bevölkerung zusammen. Sanders erinnert in seiner Kampagne an jüngere US-Kriege und jahrzehntelange Regime Changes, die die Welt verwüstet haben und holt auf diese Weise das nach, was im Geschichtsunterricht gern ausgelassen wird. Er legt den Finger unnachgiebig in die Wunde der explodierten Ungleichheit, der enormen Armut und zerfallenden Infrastruktur und des tiefgreifenden Rassismus im Land. Dabei vertritt er einen konsequenten inklusiven gesellschaftlichen Ansatz, der die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen und benachteiligten Minderheiten zusammenführt (als Antithese zu Trumps Rassismus und Misanthropie, die die Überspitzungen eines verrohten Zeitgeistes darstellen, der über lange Jahre von oben angestiftet wurde). Und er ruft die Menschen dazu auf, dass sie füreinander eintreten und sich dabei einem Establishment entgegenstellen, das egoistische und verheerende Interessen verfolgt.

Wie bekannt finanziert sich sein Wahlkampf durch Millionen kleiner Spenden aus der Bevölkerung und hängt somit nicht am großen Geld derjenigen, die später daran erinnern werden, wie ihre eigentliche Bestellung aussah. Ein wichtiges Element der Authentizität. Sanders ist aktuell das Symbol einer progressiven Gegenbewegung zur jahrzehntelangen neoliberalen Verwüstung in den USA. Auch sollte er am Dienstag die bedeutsame Wahl im New Yorker Primary nicht für sich entscheiden, u.a. da seine Gegnerin Clinton als ehemalige Senatorin von New York einen politischen Vorteil hat, der trotz der letzten sieben Bundesstaaten, die Sanders teils haushoch gewonnen hat, nicht mehr einholbar sein könnte, bleibt es weiterhin sehr empfehlenswert die Ereignisse in den USA zu verfolgen,  da man hier beobachten kann, wie gescheit und energiegeladen die öffentliche Meinung aus einer Bevölkerung von unten heraus gestaltet werden kann, trotz des immensen Ressourcenvorteils der Etablierten und ihrer publizistischen Übermacht.

Hier sei auf zwei Beiträge verwiesen, die den Charakter des Wahlkampfes von Sanders verdeutlichen und ein Bild zur Stimmungslage in den USA liefern. Bei dem ersten Beitrag handelt es sich um die Wahlkundgebung vom 13.4., die Sanders zur New Yorker Vorwahl im Washington Square Park (New York City) abgehalten hat und bei der er mit rund 27000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine Menschenmenge zusammenbrachte, die jene aus Obamas Wahlkampfzeit am gleichen Ort sogar übertraf. In dem zweiten Beitrag sind drei prominente Unterstützerinnen (u.a. die Schauspielerin Rosario Dawson) in der gesellschaftskritischen Sendung “The Young Turks” zu Gast und unterhalten sich mit dem Moderator Cenk Uygur über das politische und ökonomische System in den USA, den Wahlkampf von Sanders, die Bedeutung von klassischen Medien und Internetaktivismus, sowie die Rolle der Demokratischen Partei.

Die Jahrzehnte des fabrizierten neoliberalen Konsens sind wohl vorüber, auch und besonders in den USA.

“FULL EVENT: Bernie Sanders, Tim Robbins, Rosario Dawson Rally in Washington Square Park (4-13-16)”, Sanders Rede ab Min. 56:47:


(Quelle: YouTube-Kanal von Bernie Sanders Speeches & Events)

“Rosario Dawson, Linda Sarsour & Nomiki Konst – Full TYT Interview”:


(Quelle: YouTube-Kanal von The Young Turks, 14.4.2016)

Jascha Jaworski

3 Kommentare

  1. Großartige Rede, leider hat sich mein Rechner eine halbe Stunde vor dem Ende aufgehängt. Hat ewig gedauert, bis er wieder lief. Zufall? VT? Keine Ahnung. Ist das anderen Lesern auch so gegangen?

  2. Dann können wir für den kommenden Dienstag Sanders nur die Daumen drücken!
    Die SPD sollte sich ein Beispiel an Sanders nehmen, wenn sie nicht weiter in der Wählergunst abnehmen will. Die SPD hat sich in ihrem Parteiprogramm ja dem demokratischen Sozialismus verschrieben. Wann will sie das wohl umsetzen?
    Wenn Ralf Stegner sein Programm: “Mehr Gerechtigkeit wagen” noch einmal überarbeitet und die Agenda 2010 als gescheitert erklärt, die gesetzliche Rente zur einzigen Säule der Alterssicherung für eine lebensstandardsichernde Rente macht, kann die SPD m. E. wieder mehr Zustimmung in der Bevölkerung erfahren.

  3. In 2012 haben amerikanische Soldaten massenweise ihe Orden weggeworfen und für Frieden und Freiheit protestiert. Mal suchen auf youtube “amerikanische Soldaten werfen ihre orden weg.” Die Bewegung gegen diese menschenverachtende Politik der herrschenden Klasse schwelt also schon länger. Sanders kommt wie gerufen und ich wünsche ihm und der Freiheit liebenden, friedlichen Welt, dass er sich durchsetzt und nicht vorher erschossen wird.

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