Armut und Ungleichheit nehmen zu in den Industrieländern, besonders auch auf der „Insel der Glückseligen“, das ist kein Geheimnis mehr. 82% der deutschen Bevölkerung stimmen mittlerweile zu, dass die soziale Ungleichheit hierzulande zu groß ist. Auch die Ursachen sind kein Geheimnis, bedenkt man, wie gerade im Zuge der “Reformen” ab Anfang der 2000er Jahre die Ungleichheitsmaße nach oben gingen und die Einkommensverteilung in erheblicher Weise schiefer wurde. Was den besonders Betroffenen u.a. fehlt ist eine politische Lobby, die einem politischen Apparat, der personell und ideologisch mit den Interessen der Großunternehmer und Reichen verschmolzen ist, etwas entgegensetzt. Erst in der jüngsten demokratiebezogenen Teilstudie im Rahmen des kommenden 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung kommen die extern beauftragten Autoren zu dem Ergebnis:
„Was Bürger_innen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollen, hatte in den Jahren von 1998 bis 2013 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden. In Deutschland beteiligen sich Bürger_innen mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen. Damit droht ein sich verstärkender Teufelskreis aus ungleicher Beteiligung und ungleicher Responsivität, bei dem sozial benachteiligte Gruppen merken, dass ihre Anliegen kein Gehör finden und sich deshalb von der Politik abwenden – die sich in der Folge noch stärker an den Interessen der Bessergestellten orientiert. Das für die USA nachgewiesene Muster von systematisch verzerrten Entscheidungen trifft auch auf Deutschland zu.“
(Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015, Elsässer, Hense & Schäfer, Juni 2016)
Diese und andere brisante Passagen, die die Befundlage zusammenfassen, wurden bereits aus dem Armuts- und Reichtumsberichts, der demnächst veröffentlicht wird, herausgestrichen. Umso wichtiger, dass auch Menschen, die zu den Bessergestellten gehören, sich mit ihrer Stimme erheben und andere darin bestärken, sich einzubringen und daran zu erinnern, was es ist, das die soziale Ungleichheit befördert und vielen Menschen die gesellschaftliche Teilhabe verwehrt.
Zu diesen Menschen gehört auch Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Kolenda, der u.a. über 40 Jahre als medizinischer Sachverständiger bei der Schleswig-Holsteinischen Sozialgerichtsbarkeit tätig war und in einem kleinen Gastbeitrag an ein Thema erinnert, das neben all den sozialen Zerstörungsmaßnahmen der neoliberalen Reformen, wenig zur Kenntnis genommen wurde: die Enteignung, die in der Rentenversicherung beim Schutz gegen Erwerbsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit vorgenommen wurde. Einen längeren und medizinischen Fachartikel zum Thema hat er hier zur Verfügung gestellt, in diesem gelangt er u.a. zu der Schlussfolgerung:
„Älteren Patienten der gesetzlichen Rentenversicherung mit gesundheitlichen Einschränkungen, die arbeitslos sind, bzw. deren Arbeitsplatz gefährdet ist, wird von ihren Ärzten häufig empfohlen, eine Erwerbsminderungsrente zu beantragen. Vielen Ärzten ist jedoch nicht klar, welche hohen Anforderungen an die erforderliche Minderung des beruflichen Leistungsvermögens bei Erwerbsminderungsrenten seit dem 1.1.2001 gestellt werden. Deshalb sind bei vielen Anträgen Enttäuschungen und Frustrationen der Patienten vorprogrammiert.“
Gastartikel von Klaus-Dieter Kolenda:
Gesetzliche Einführung der Erwerbsminderungsrenten 2001 – eine groß angelegte und klammheimliche Enteignung
Bis Ende 2000 gab es für erwerbsgeminderte Angehörige der gesetzlichen Rentenversicherung Renten wegen Erwerbsunfähigkeit oder Renten wegen Berufsunfähigkeit. Eine Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 2/3 der Vollrente stand den Versicherten zu, die ihren erlernten Beruf nicht mehr ausüben konnten und für die eine Verweisung auf eine andere zumutbare Tätigkeit von vergleichbarem Qualitätsniveau nicht mehr in Betracht kam.
Mit dem „Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit“ vom 01.01.2001 wurden die gesetzlichen Vorschriften grundlegend geändert. Die Begriffe Erwerbsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit wurden vollständig gestrichen. Weggefallen ist auch der bisherige Berufsschutz, der dann bestand, wenn ein anerkannter erlernter Beruf ausgeübt wurde. An deren Stelle sind eine Rente wegen teilweiser oder vollständiger Erwerbsminderung, sowie – wie unten erläutert, nur noch für bestimmte Jahrgänge – eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit getreten.
Eine teilweise Erwerbsminderung liegt vor, wenn der Antragsteller auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch 3 bis unter 6 Stunden leichte Arbeiten täglich verrichten kann. Da gemäß eines Urteils des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 1976 der Teilzeit-Arbeitsmarkt als verschlossen angesehen wird, erhalten so beurteilte Antragsteller derzeit weiterhin allerdings die volle Erwerbsminderungsrente.
Eine vollständige Erwerbsminderung ist dann gegeben, wenn dem Antragssteller auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch leichte Arbeiten für weniger als 3 Stunden zugemutet werden können.
Ein Sonderfall ist nun die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Diese gilt nur für die vor dem 02.01.1961 Geborenen, d.h. für diejenigen, die heute älter als 56 Jahre sind. Diese genießen weiterhin auf der Grundlage ihrer beruflichen Qualifikation Berufsschutz. Aber auch für diesen Personenkreis ist die alte Berufsunfähigkeitsrente (2/3 der Vollrente) entfallen. Wer gemäß dieser Sonderregelung als berufsunfähig beurteilt wird, erhält nur die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit in Höhe nur einer halben Vollrente. Für die nach dem 02.01.1961 Geborenen, d.h. für diejenigen, die heute jünger als 56 Jahre sind, ist der Berufschutz jedoch vollständig entfallen, d.h. es ist nach den jetzigen gesetzlichen Regelungen gleichgültig, ob der Versicherte einen erlernten Beruf oder eine ungelernte Tätigkeit ausgeübt hat.
Einerseits stellen im Gegensatz zu der Zeit vor 2001 die jetzigen gesetzlichen Regelungen höhere Anforderungen an die erforderliche Minderung des beruflichen Leistungsvermögens bei Erwerbsminderungsrenten und verengen dadurch den Zugang. So besteht noch eine vollschichtige Leistungsfähigkeit, wenn mindestens 6 Stunden täglich (früher mindestens 8 Stunden) leichte Arbeit geleistet werden kann.
Andererseits erhielt vor 2001 jeder Versicherte eine Berufsunfähigkeitsrente, sofern ein Berufsschutz vorlag. Diese Bedingungen waren bereits erfüllt, wenn der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr imstande war, die erlernte Berufstätigkeit oder eine zumutbare Verweisungstätigkeit von vergleichbarer Qualifikation auszuführen. Seit 2001 kann jedoch ein Antragsteller, der vor dem 1.1.1961 geboren ist, auch wenn er einen erlernten Beruf ausgeübt hat, auf jede Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden, wobei ein sozialer Abstieg in Kauf genommen werden muss.
Darüber hinaus wird im Normalfall nur eine Zeitrente gewährt, die bis zu drei Jahre befristet sein kann. Renten wegen verschlossenem Teilzeit-Arbeitsmarkt sind immer Zeitrenten. Eine Rente auf Dauer kommt, wie bisher, nur in Betracht, wenn eine Besserung des beruflichen Leistungsvermögens unwahrscheinlich ist.
Außerdem werden bei Erwerbsminderungsrenten vor dem 63. Lebensjahr Abschläge bis 10,8 Prozent abgezogen, d. h. bei Renteneintritt vor dem 65. Lebensjahr pro Jahr 3,6%-Punkte, obwohl dadurch keine steuernde Wirkung zu erzielen ist. Bei dieser Gruppe von Versicherten handelt es sich ja um eine krankheitsbedingte Frühverrentung, deren Zeitpunkt von ihnen selbst nicht zu beeinflussen ist.
Die durchschnittliche volle Erwerbsminderungsrente liegt heute bei 740 €. Ein Teil der krankheitsbedingten Frührentner erhält jedoch nur eine halbe Erwerbsminderungsrente.
2013 machten die Erwerbsminderungsrenten bei den Männern 21 % und bei den Frauen 22 % der Rentenzugänge aus.
Schlussfolgerungen
1.) Die 2001 erfolgte Rentenreform hat mit der Einführung der Erwerbsminderungsrenten anstelle der früheren Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsrenten zu einem Abbau von sozialen Rechten für große Teile der arbeitenden Bevölkerung geführt. Es war eine groß angelegte Enteignung im Bereich der Daseinsfürsorge. Diese konnte wohl nur deshalb fast ohne Widerstände durchgesetzt werden, weil die Gesetze unter Leitung eines sozialdemokratischen Ministers (Walter Riester) erarbeitet und von der damaligen rot-grünen Koalition beschlossen wurden.
2.) Von den Sozialverbänden und Gewerkschaften wird eine gesetzliche Neuorientierung bei Erwerbsminderungsrenten vorgeschlagen. Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass jene ältere Versicherte einen erleichterten Zugang zur Erwerbsminderungsrente erhalten sollten, die nur noch leichte Arbeiten für 6 Stunden und mehr täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten können, bei denen vielfältige Einschränkungen bestehen und denen in einer angemessenen Frist kein ihrem beruflichen Leistungsvermögen entsprechender konkret vorhandener Arbeitsplatz nachgewiesen werden kann. Außerdem wird die Abschaffung der Abschläge durch z. B. eine Verlängerung der Zurechnungszeiten bis zum 65. Lebensjahr, wie das bei Arbeitsunfällen und Kriegsopfern der Fall ist, gefordert, und die Wiedereinführung der Berufsunfähigkeitsrente, wie sie vor 2001 bestanden hat, vorgeschlagen.
3.) Der Versicherungswissenschaftler Prof. Hans-Peter Schwintowski hat 2015 bei Report Mainz und in einem Interview auf den Nachdenkseiten die Meinung vertreten, dass die Streichung der Absicherung gegen Berufsunfähigkeit unter Walter Riester ein Verfassungsbruch gewesen sei. Er schlägt deshalb eine Verfassungsbeschwerde vor.
Eine Einschränkung oder Zurücknahme wird es nicht mehr geben, da die Betroffenen durch unterschiedliche Druckmittel und Medienberichte sich längst aus der öffentlichen Wahrnehmung verabschiedet haben. Der Verwaltungswahnsinn, der dann Institutionen wie die Sozialverbände gut beschäftigt, lässt neben der Gesundheitsvorsorge keinen Raum für Widerstand.
Es ist ein Vegetieren am untersten Ende. Krank sein, keine Teilhabe, Armut.
Und dabei die Tatsache, dass wir alle betrogen worden sind um unseren Anteil an der Rente, es ist zum Verzweifeln und unerträglich. Aber vielleicht ist dies auch gewollt, genauso wie bei den Hartz IV Gesetzen, dem neuen Sklaventum. Wer nicht mehr verwertbar ist, der soll einfach krepieren.
Wer würde uns helfen bei einer Verfassungsklage? Wer würde uns beistehen? Daran kann ich einfach nicht mehr glauben……
Ja, es ist richtig die Erwerbsgeminderungsrentner haben keine Lobby.
Weder Unterstützung durch die Sozialverbände noch von den Gewerkschaften.
Was ist vom VdK zu erwarten?. Die Vorsitzende war selbst an den Schandtaten beteiligt.
Von 1998 bis 2002 war sie Staatssekretärin bei Arbeitsminister Walter Riester dabei war sie federführend an den Gesetzesvorlagen für die Riester-Rente beteiligt.
Deutschland verstösst gegen die Behindertenrechtskonvention.
Kein weiteres Land hat Rentenabschläge bei Erwerbsminderung.
Mit dem Urteil vom Bundesverfassungsgericht vom 11.1.2011 ist noch einmal erkennbar, dass auch diese Richter den politisch gewollten Sozialabbau unterstützen.
Rentenabschläge bei Erwerbsminderung, Unterstützung durch die Politik = Irrglaube.
Alle Versuche, die unternommen wurden: Petition, Kanzlerin direkt, persönliche Vorsprachen bei Bundestagsabgeordneten usw. alles wurde abgeschmettert.
Die Antwortschreiben der Politiker strotzen nur so von Überheblichkeit, Arroganz und Ignoranz.
Das Rentenrecht ab 2001 ist ein großes Versagen der Politik.
Für die Erwerbsgeminderten sind keine 1,5 Milliarden übrig.
Generell haben Sozialversicherte keine Lobby. Das stellen auch unsere obersten Bundesrichter immer wieder klar und ermuntern die Bundesregierung förmlich, permanent die Sozialversicherungen zu plündern oder abzubauen (beispielhaft hierfür: BSG-Urteil vom 29.2.2012, B 12 KR 10/11 R). Beiträge der Arbeitnehmer stellen angeblich kein Eigentum dar. Bei Privilegien für Richter und Beamte sind das zuständige BVerwG und das BVerfG hingegen kompromisslos und das BVerfG scheut auch nicht davor zurück, merkwürdig detaillierte Vorgaben zu machen, die eigentlich dem Gesetzgeber vorbehalten sind (Richterprivilegien: Urteil 5. Mai 2015 – 2 BvL 17/09 u.a. und im wesentlichen gleichlautend zu Beamtenprivilegien: Beschluss vom 17. November 2015 – 2 BvL 19/09, Beamtenprivilegien.
Strenggenommen hatte Blüm die Abschaffung der Berufsunfähigkeitsrente bereits im RRG99 angelegt. Rot-Grün hat sie dann in leicht abgeänderter Form durchgezogen. Interessanterweise hat keine einzige Regierung die Regeln zur Dienstunfähigkeit von Beamten angepasst (“wirkungsgleiche Übertragung” ? Fehlanzeige!). Eine Dienstunfähigkeit ist gemäß § 26 BeamtStG sehr einfach zu erreichen und selbst die Rürup-Kommission hatte schon 2003 in ihrem Abschlussbericht darauf hingewiesen, dass die nach wie vor hohen Frühpensionierungszahlen gesenkt werden könnten, wenn die Dienstunfähigkeit gegen eine Erwerbsminderung “ersetzt” werden würde. Aber wie das halt so ist mit Reformen, die einen selbst betreffen könnten, vergessen unsere Regierenden eine Umsetzung seit mittlerweile 14 Jahren.
Mich würde es wirklich interessieren, ob all die harten Reformen der Rentenversicherung so umgesetzt worden wären, wenn auch Beamte, Richter und Selbständige in die GRV einzahlen müssten.
Glauben Sie, dass für den Neoliberalismus, Minderheiten verantwortlich waren und sind? Denn die haben doch gar kein Wahlrecht in Deutschland.