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Ungleichheit und Politik gegen Benachteiligte – der Mosaikstein “Erwerbsminderungsrente”

Armut und Ungleichheit nehmen zu in den Industrieländern, besonders auch auf der „Insel der Glückseligen“, das ist kein Geheimnis mehr. 82% der deutschen Bevölkerung stimmen mittlerweile zu, dass die soziale Ungleichheit hierzulande zu groß ist [1]. Auch die Ursachen sind kein Geheimnis, bedenkt man, wie gerade im Zuge der “Reformen” ab Anfang der 2000er Jahre die Ungleichheitsmaße nach oben gingen und die Einkommensverteilung in erheblicher Weise schiefer wurde [2]. Was den besonders Betroffenen u.a. fehlt ist eine politische Lobby, die einem politischen Apparat, der personell und ideologisch mit den Interessen der Großunternehmer und Reichen verschmolzen ist, etwas entgegensetzt. Erst in der jüngsten demokratiebezogenen Teilstudie im Rahmen des kommenden 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung kommen die extern beauftragten Autoren zu dem Ergebnis:

Was Bürger_innen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollen, hatte in den Jahren von 1998 bis 2013 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden. In Deutschland beteiligen sich Bürger_innen mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen. Damit droht ein sich verstärkender Teufelskreis aus ungleicher Beteiligung und ungleicher Responsivität, bei dem sozial benachteiligte Gruppen merken, dass ihre Anliegen kein Gehör finden und sich deshalb von der Politik abwenden – die sich in der Folge noch stärker an den Interessen der Bessergestellten orientiert. Das für die USA nachgewiesene Muster von systematisch verzerrten Entscheidungen trifft auch auf Deutschland zu.“

(Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015 [3], Elsässer, Hense & Schäfer, Juni 2016)

Diese und andere brisante Passagen, die die Befundlage zusammenfassen, wurden bereits aus dem Armuts- und Reichtumsberichts, der demnächst veröffentlicht wird, herausg [4]estrichen [4]. Umso wichtiger, dass auch Menschen, die zu den Bessergestellten gehören, sich mit ihrer Stimme erheben und andere darin bestärken, sich einzubringen und daran zu erinnern, was es ist, das die soziale Ungleichheit befördert und vielen Menschen die gesellschaftliche Teilhabe verwehrt.

Zu diesen Menschen gehört auch Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Kolenda, der u.a. über 40 Jahre als medizinischer Sachverständiger bei der Schleswig-Holsteinischen Sozialgerichtsbarkeit tätig war und in einem kleinen Gastbeitrag an ein Thema erinnert, das neben all den sozialen Zerstörungsmaßnahmen der neoliberalen Reformen, wenig zur Kenntnis genommen wurde: die Enteignung, die in der Rentenversicherung beim Schutz gegen Erwerbsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit vorgenommen wurde. Einen längeren und medizinischen Fachartikel zum Thema hat er hier [5] zur Verfügung gestellt, in diesem gelangt er u.a. zu der Schlussfolgerung:

Älteren Patienten der gesetzlichen Rentenversicherung mit gesundheitlichen Einschränkungen, die arbeitslos sind, bzw. deren Arbeitsplatz gefährdet ist, wird von ihren Ärzten häufig empfohlen, eine Erwerbsminderungsrente zu beantragen. Vielen Ärzten ist jedoch nicht klar, welche hohen Anforderungen an die erforderliche Minderung des beruflichen Leistungsvermögens bei Erwerbsminderungsrenten seit dem 1.1.2001 gestellt werden. Deshalb sind bei vielen Anträgen Enttäuschungen und Frustrationen der Patienten vorprogrammiert.“

Gastartikel von Klaus-Dieter Kolenda:

Gesetzliche Einführung der Erwerbsminderungsrenten 2001 – eine groß angelegte und klammheimliche Enteignung

Bis Ende 2000 gab es für erwerbsgeminderte Angehörige der gesetzlichen Rentenversicherung Renten wegen Erwerbsunfähigkeit oder Renten wegen Berufsunfähigkeit. Eine Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 2/3 der Vollrente stand den Versicherten zu, die ihren erlernten Beruf nicht mehr ausüben konnten und für die eine Verweisung auf eine andere zumutbare Tätigkeit von vergleichbarem Qualitätsniveau nicht mehr in Betracht kam.

Mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit“ vom 01.01.2001 wurden die gesetzlichen Vorschriften grundlegend geändert. Die Begriffe Erwerbsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit wurden vollständig gestrichen. Weggefallen ist auch der bisherige Berufsschutz, der dann bestand, wenn ein anerkannter erlernter Beruf ausgeübt wurde. An deren Stelle sind eine Rente wegen teilweiser oder vollständiger Erwerbsminderung, sowie – wie unten erläutert, nur noch für bestimmte Jahrgänge – eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit getreten.

Eine teilweise Erwerbsminderung liegt vor, wenn der Antragsteller auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch 3 bis unter 6 Stunden leichte Arbeiten täglich verrichten kann. Da gemäß eines Urteils des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 1976 der Teilzeit-Arbeitsmarkt als verschlossen angesehen wird, erhalten so beurteilte Antragsteller derzeit weiterhin allerdings die volle Erwerbsminderungsrente.

Eine vollständige Erwerbsminderung ist dann gegeben, wenn dem Antragssteller auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch leichte Arbeiten für weniger als 3 Stunden zugemutet werden können.

Ein Sonderfall ist nun die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Diese gilt nur für die vor dem 02.01.1961 Geborenen, d.h. für diejenigen, die heute älter als 56 Jahre sind. Diese genießen weiterhin auf der Grundlage ihrer beruflichen Qualifikation Berufsschutz. Aber auch für diesen Personenkreis ist die alte Berufsunfähigkeitsrente (2/3 der Vollrente) entfallen. Wer gemäß dieser Sonderregelung als berufsunfähig beurteilt wird, erhält nur die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit in Höhe nur einer halben Vollrente. Für die nach dem 02.01.1961 Geborenen, d.h. für diejenigen, die heute jünger als 56 Jahre sind, ist der Berufschutz jedoch vollständig entfallen, d.h. es ist nach den jetzigen gesetzlichen Regelungen gleichgültig, ob der Versicherte einen erlernten Beruf oder eine ungelernte Tätigkeit ausgeübt hat.

Einerseits stellen im Gegensatz zu der Zeit vor 2001 die jetzigen gesetzlichen Regelungen höhere Anforderungen an die erforderliche Minderung des beruflichen Leistungsvermögens bei Erwerbsminderungsrenten und verengen dadurch den Zugang. So besteht noch eine vollschichtige Leistungsfähigkeit, wenn mindestens 6 Stunden täglich (früher mindestens 8 Stunden) leichte Arbeit geleistet werden kann.

Andererseits erhielt vor 2001 jeder Versicherte eine Berufsunfähigkeitsrente, sofern ein Berufsschutz vorlag. Diese Bedingungen waren bereits erfüllt, wenn der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr imstande war, die erlernte Berufstätigkeit oder eine zumutbare Verweisungstätigkeit von vergleichbarer Qualifikation auszuführen. Seit 2001 kann jedoch ein Antragsteller, der vor dem 1.1.1961 geboren ist, auch wenn er einen erlernten Beruf ausgeübt hat, auf jede Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden, wobei ein sozialer Abstieg in Kauf genommen werden muss.

Darüber hinaus wird im Normalfall nur eine Zeitrente gewährt, die bis zu drei Jahre befristet sein kann. Renten wegen verschlossenem Teilzeit-Arbeitsmarkt sind immer Zeitrenten. Eine Rente auf Dauer kommt, wie bisher, nur in Betracht, wenn eine Besserung des beruflichen Leistungsvermögens unwahrscheinlich ist.

Außerdem werden bei Erwerbsminderungsrenten vor dem 63. Lebensjahr Abschläge bis 10,8 Prozent abgezogen, d. h. bei Renteneintritt vor dem 65. Lebensjahr pro Jahr 3,6%-Punkte, obwohl dadurch keine steuernde Wirkung zu erzielen ist. Bei dieser Gruppe von Versicherten handelt es sich ja um eine krankheitsbedingte Frühverrentung, deren Zeitpunkt von ihnen selbst nicht zu beeinflussen ist.

Die durchschnittliche volle Erwerbsminderungsrente liegt heute bei 740 €. Ein Teil der krankheitsbedingten Frührentner erhält jedoch nur eine halbe Erwerbsminderungsrente.

2013 machten die Erwerbsminderungsrenten bei den Männern 21 % und bei den Frauen 22 % der Rentenzugänge aus.

Schlussfolgerungen

1.) Die 2001 erfolgte Rentenreform hat mit der Einführung der Erwerbsminderungsrenten anstelle der früheren Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsrenten zu einem Abbau von sozialen Rechten für große Teile der arbeitenden Bevölkerung geführt. Es war eine groß angelegte Enteignung im Bereich der Daseinsfürsorge. Diese konnte wohl nur deshalb fast ohne Widerstände durchgesetzt werden, weil die Gesetze unter Leitung eines sozialdemokratischen Ministers (Walter Riester) erarbeitet und von der damaligen rot-grünen Koalition beschlossen wurden.

2.) Von den Sozialverbänden und Gewerkschaften wird eine gesetzliche Neuorientierung bei Erwerbsminderungsrenten vorgeschlagen. Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass jene ältere Versicherte einen erleichterten Zugang zur Erwerbsminderungsrente erhalten sollten, die nur noch leichte Arbeiten für 6 Stunden und mehr täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten können, bei denen vielfältige Einschränkungen bestehen und denen in einer angemessenen Frist kein ihrem beruflichen Leistungsvermögen entsprechender konkret vorhandener Arbeitsplatz nachgewiesen werden kann. Außerdem wird die Abschaffung der Abschläge durch z. B. eine Verlängerung der Zurechnungszeiten bis zum 65. Lebensjahr, wie das bei Arbeitsunfällen und Kriegsopfern der Fall ist, gefordert, und die Wiedereinführung der Berufsunfähigkeitsrente, wie sie vor 2001 bestanden hat, vorgeschlagen.

3.) Der Versicherungswissenschaftler Prof. Hans-Peter Schwintowski hat 2015 bei Report Mainz [6] und in einem Interview auf den Nachdenkseiten [7] die Meinung vertreten, dass die Streichung der Absicherung gegen Berufsunfähigkeit unter Walter Riester ein Verfassungsbruch gewesen sei. Er schlägt deshalb eine Verfassungsbeschwerde vor.