Ich schätze campact! dafür progressive Kampagnen/Anliegen anzustoßen bzw. zu unterstützen. Trotzdem halte ich es immer für wichtig (siehe hier) auch kritikwürdiges Vorgehen von campact! anzusprechen.
Wie in seinem Blog begründet, hat campact! zur Wahl von Karl Lauterbach (SPD) mit der Erststimme (Köln IV/Leverkusen) aufgerufen (Facebook, Mail-Verteiler).
Hintergrund ist das üblicherweise knappe Erststimmen-Ergebnis zwischen SPD und CDU (seit 2005 zugunsten von Lauterbach) in diesem Wahlkreis. Unterstützt campact! nun die SPD? Nein, so campact!:
Für uns ist klar: Campact war, ist und bleibt parteipolitisch strikt neutral. Deswegen rufen wir nicht zur Wahl der SPD oder einer anderen Partei auf. Stattdessen machen wir uns eine Besonderheit des Wahlrechts zu Nutze. Bei der Bundestagswahl hat jeder Wahlberechtigte zwei Stimmen: Die Erststimme bestimmt, wer als Abgeordneter aus dem Wahlkreis Leverkusen/Köln IV in den Bundestag einzieht – ein progressiver Kandidat wie Karl Lauterbach oder der CDU-Kandidat Helmut Nowak.
Auf den ersten Blick könnte man geneigt sein, dieser Vorstellung zuzustimmen. Allerdings wissen nicht nur die die campact!-Macher von der gängigen Praxis im Bundestag, mit der eigenen Fraktion zu stimmen (Fraktionsdisziplin). Da nun campact! Lauterbach mit dem Begriff „progressiv“ geadelt hat, ist dies bei Lauterbach offenbar nicht der Fall?
Im Gegenteil: Sowohl in der 17., als auch in der 18. Legislatur hat Karl Lauterbach kein einziges mal gegen die SPD-Fraktion (bei 167 bzw. 116 Abstimmungen) gestimmt. Dafür wurde Lauterbach offenbar sogar zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden (seit Ende 2013) “gekürt”.
Ansonsten hat Lauterbach aber jedenfalls stets progressive Positionen vertreten, oder campact!?
Karl Lauterbach ist ein Politiker, der wirklich etwas verändert und dem progressive Anliegen wie mehr ökologische und soziale Gerechtigkeit am Herzen liegen.
Im Gegenteil, Lauterbach hat die Arbeitsmarktreformen unter Rot-Grün gelobt. Lauterbach machte die Reformen für den Abbau der Arbeitslosigkeit verantwortlich und verteidigte die Ausweitung des Niedriglohnsektors.
Wir steckten damals in einer historischen Krise. Wir hatten die höchste Arbeitslosigkeit nach der Vereinigung. Jetzt haben wir die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 15 Jahren. Insofern sind die Arbeitsmarktreformen ein großer Erfolg.
(…)
Tatsächlich ist der Niedriglohnsektor gewachsen. Aber nur dadurch haben Menschen wieder in Beschäftigung zurückgefunden, die ausschließlich zu niedrigen Löhnen vermittelbar sind. Diese Menschen wären sonst arbeitslos.
(Frankfurter Rundschau, 23.9.2008)
Lauterbach vertritt hier also hammerhart die neoklassische Wirtschaftsideologie, die den Arbeitsmarkt für einen Kartoffelmarkt1 hält und an die mehrfach widerlegte These „Lohnsenkung schafft Arbeitsplätze“ glaubt.
Laut campact! legt sich Lauterbach mit multinationalen Konzernen (campact! meint hier Bayer beim Thema Glyphosat) an.
Es gibt nur wenige Abgeordnete, die sich mit multinationalen Konzernen anlegen. Und noch weniger, die so mutig sind und dies mit einem Konzern aus dem eigenen Wahlkreis tun. Der Wahlkreisabgeordnete Prof. Karl Lauterbach gehört dazu.
Lauterbach saß im Aufsichtsrat (2001-2013) der Rhön-Klinikum als der Konzern die 1 Mrd. Euro Umsatz-Marke sprengte bzw. ihren Umsatz verdoppelte. (Bild von “Krankenhaus statt Fabrik“)
Hätte er nicht als „Kämpfer“ (Zitat campact!) gegen die Zwei-Klassen-Medizin medienwirksam und als Symbol gegen die Gewinnerzielung im Krankenhaus diesen Posten verlassen müssen, wenn er tatsächlich „verändern“ wollte? Oder hätte er nicht die Rürup-Komission verlassen können, um die Interessenpolitik gegenüber den Versicherungskonzernen bei der Demolierung der gesetzlichen Renten aufzudecken?
Seine Ablehnung von Glyphosat erscheint eher wie ein Feigenblatt, zumal z.B. Lauterbachs entscheidender ablehnender Tweet vor dem Übernahmeangebot von Bayer für Monsanto (23.5.2016 laut Wikipedia) getätigt wurde.
Da der ein oder andere Autor dieses Blogs selbst mit dem Gedanken spielt, bei der Erststimme in den sauren SPD-Apfel zu beißen, hätte ich sehr wohl verstanden, wenn campact! einen „kleineres Übel wählen“-Aufruf (gerne auch unter der Hervorhebung der Glyphosat-Ablehnung) gestartet hätte. Aber den Ex-Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung Lauterbach mehr oder weniger zu einem progressiven SPD-Rebellen aufzublasen, geht komplett an der Realität vorbei.
Die Ausrede, die Befragten campact!-Unterstützer aus Köln und Leverkusen hätten dieses Vorgehen „abgesegnet“, hätte zudem für mich sowieso nur Bestand, wenn campact! zumindest einige der hier aufgeführten Schattenseiten des Herrn Karl Lauterbach in der Befragungsinformation – im Gegensatz zum Blog-Artikel – kenntlich gemacht hätte.
- Arbeitskräfteangebot und -nachfrage seinen unabhängig voneinander [↩]
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