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#Aufstehen – Ein Bewegungspotential mit dem man die Superblase zum Platzen bringen sollte

“Wir wollen etwas Neues: Keine Partei, sondern eine Bewegung für alle, die gemeinsam für unsere Ziele kämpfen wollen. Wir streiten für sichere Arbeitsplätze, höhere Löhne, gute Renten & Pflege, einen Sozialstaat, der vor Abstieg schützt und nicht jedes Lebensrisiko dem Einzelnen allein aufbürdet, für Top-Bildung von der Kita bis zur Universität, bezahlbare Mieten, gerechte Steuern statt Politik für Super-Reiche, Banken und Konzerne, den Erhalt des bedrohten Planeten, den Schutz von Wasser, Luft, Böden, Tieren und Artenvielfalt, für Abrüstung, echte Friedensdiplomatie und Entspannungspolitik, gegen Stellvertreterkriege, Waffenexporte, die Ausplünderung der benachteiligten Länder, die die eigentlichen Fluchtursachen sind. Wir stehen auf gegen Fremdenhass sowie für echte Demokratie ohne Übermacht der Banken, Konzerne und Lobbyisten. Wir wollen neue Mehrheiten in Deutschland und Europa!”

Mal im Ernst, können Sie an diesen Aussagen etwas Ablehenswertes finden? Nein? Und was ist ansonsten so verkehrt an den Bemühungen der Initiator*innen und Unterstützer*innen von #Aufstehen, eine Bewegung anzustoßen, die die eklatanten Ungerechtigkeiten und die mittlerweile selbst für die glühendsten Status-quo-Anhänger*innen sichtbaren Risse, Widersprüche und Zerfallserscheinungen im Gesellschaftssystem aufgreift, um das anzugehen, was jenseits institutioneller Blockaden, Machterhaltungsängste und überkommener Ideologien ohnehin vielen Menschen auf der Seele brennt?

Wer groß darin ist derartigen Bemühungen bereits im Vorfeld allen Wind der Veränderung aus den Segeln zu nehmen, obwohl sich nun wirklich nichts finden lässt, was von theorieverliebten Linken ernsthaft als anti-aufklärerisch oder neoliberalen Systempflegern als rechtspopulistisch diffamiert werden kann, hat mit dem Blick auf die Entwicklungen unserer Zeit vielleicht keinen Rahmen, der die Dinge einzuordnen hilft. Es werden m.E.n. große gesellschaftliche Anstrengungen nötig sein, um die Wunden, die die Jahrzehnte, die hinter uns liegen, gerissen haben, wieder zu heilen. Es werden solche Anstrengungen nötig sein, die nur gesellschaftliche Bewegungen aufbringen können. Und Bewegungen können tatsächlich von Anfang an  auch auf die falschen Überzeugungen, Emotionen und Werte setzen, nämlich dann, wenn sie nicht auf mehr Demokratie, mehr Solidarität und mehr Menschenwürde abzielen, sondern nur auf eigene Selbsterhöhung auf Kosten anderer Benachteiligter. Das jedoch ist bei #Aufstehen gerade nicht der Fall.

Worum geht es, wenn man die oben aufgeführten Forderungen betrachtet, was ist ihr roter Faden? Es handelt sich ja um keine beliebige Einzelauflistung. In ihnen spiegeln sich die Verwerfungen der letzten Jahrzehnte und ihnen ist gemeinsam, dass große Mehrheiten der Bevölkerung sie unterschreiben könnten, wenn sie erst einmal von Mehrheiten als glaubwürdig zur Kenntnis genommen und durchdacht würden.

So wie sich auf den Aktienmärkten erneut eine Superblase herausgebildet hat, die weit von dem entfernt ist, was man mit plausiblen Überlegungen als “real” und “gerechtfertigt” erachten kann, so, wie auch eigentlich jede interessierte Beobachterin hierüber Bescheid weiß, ohne dass sich – vorläufig zumindest – genau an dem Zustand etwas ändert, so hat sich auch im gesellschaftlichen System eine Superblase herausgebildet. Auch sie ist gekennzeichnet davon, dass etwas eklatant von seinen Fundamentalwerten abweicht, von dem, wie es sein sollte (und zwar nicht nur aus einschlägig “linker” Sicht). Man könnte hier lange und grundlegend aufzählen, und eigentlich wissen es wiederum die meisten:

Die ökonomische Ungleichheit hat erneut historische Ausmaße angenommen und steigt weiter, politische Maßnahmen in Gegenrichtung sind nicht in Sicht. Extreme Ungleichheit ist zugleich etwas, das Gesellschaften krank macht. Die ökonomische Entwicklung ist dabei nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis politischer Entscheidungen, eines (Welt-)Wirtschaftsrahmens, der noch nie zuvor in der Geschichte über so lange Zeit einer übergeordneten Ideologie unterworfen wurde. Das politisch-institutionelle System scheint dabei von sich aus nicht mehr in der Lage, wesentliche Veränderungen zum Besseren hervorzurufen. Die gescheiterten Theorien haben nicht nur tiefen Einzug in das institutionelle Gefüge gefunden und beschneiden effektiv und grundlegend den demokratischen Spielraum – von Finanzmärkten, die ganze Staaten und ihre Bevölkerungen “disziplinieren” bis zu Schuldenregeln, die, von neoliberal Altvorderen erdacht, mittlerweile erfolgreich dem Gemeinwesen Gestaltungsspielraum entreißen. Die gescheiterten Theorien bleiben auch fest verankert in den Köpfen der zunehmend geschlossenen Eliten. Und selbst ein Gutachten im Auftrag des Arbeitsministeriums kam bereits zu dem Ergebnis, dass der demokratische Übertragungsmechanismus ziemlich kaputt ist. Was gerade diejenigen wünschen, für die sich etwas ändern müsste, zählt nicht mehr, Zitat: “Das für die USA nachgewiesene Muster von systematisch verzerrten Entscheidungen trifft auch auf Deutschland zu.” Und über all dem thront – nicht zu vergessen – eine groteske Machtansammlung der großen Unternehmen und Finanzmarktakteure, die sich in einer “Spielanordnung” (Stephan Schulmeister) befinden, die ökonomische Ressourcen derart fehlleitet, dass nicht nur Finanzkrisen unausweichlich geworden sind, sondern auch Massenarbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung und künstliche Knappheit häufig vergessen lassen, wie zivilisiert und zum Guten der Wohlstand doch eigentlich eingesetzt werden könnte.

Dem Gemeinwesen wurde die Steuerungsfähigkeit entrissen, und zwar, ohne dass dies allen Menschen bewusst gemacht wurde. Davon zeugt auch das größte unangegangene Problem unserer Zeit: die ökologische Krise.

Das sind keine gute Aussichten. Doch verändern sie sich ja auch auf die eine oder eben andere Weise. Der Rechtspopulismus scheint zur Zeit der erfolgreichste Bewerber darin zu sein, den Menschen ein Ende der Unordnung und Orientierungslosigkeit zu versprechen. Das sollte er allerdings nicht sein, aus vielen bekannten Gründen.

Daher sollte man jede Anstrengung unterstützen, die auf einem menschenrechtsbezogenen Wertefundament mit Forderungen auftritt, die das Potential haben ohne ein Hoffen auf große Wertwandlungswunder Mehrheiten zu überzeugen, weil sie sich an der beobachtbaren Welt mühelos rechtfertigen lassen. Wer hier mit Zögern auftritt und allen Ernstes das Potential auf solch eine Bewegung selbsterfüllend hinwegreden will, ist nicht nachvollziehbar. Wir jedenfalls unterstützen eine gestaltungsoffene Bewegung wie #Aufstehen und ermuntern andere, es gleichzutun.

In Abwandlung an Susan George:
Kein beklagenswerter Zustand verändert die Dinge aus sich selbst heraus, nur Organisierung kann sie verändern.

Jascha Jaworski

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