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Fluchtursachen in Subsahara-Afrika – Gastbeitrag von Prof. Klaus-Dieter Kolenda

Klaus-Dieter Kolenda, der vielen Leserinnen und Lesern dieses Blogs von früheren Beiträgen bekannt sein dürfte (z.B. hier [1] oder hier [2]), beschäftigt sich in diesem Artikel mit Fluchtursachen bezogen speziell auf Subsahara-Afrika. Hierbei geht er im ersten Teil auf die Handelspolitik der Europäischen Union ein. Im zweiten Teil stellt er dann das Problem von HIV und AIDS in der Region dar, und zeigt dabei auf, dass auch dieses natürlich eine ökonomische Dimension hat, besonders jedoch als eine weitere Hauptfluchtursache zu betrachten ist. Hier berichtet er auch aus der Perspektive eines Arztes, der sich seit langer Zeit mit dem Thema auseinandersetzt.

Klaus-Dieter Kolenda1 [3]

Am 30.8.2018 fand im voll besetzten Legiensaal des Gewerkschaftshauses in Kiel eine von der hiesigen attac-Gruppe organisierte sehr interessante Vortragsveranstaltung über Afrika statt. Mit Afrika war Subsahara-Afrika gemeint. Anne Jung von der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international sprach über das Thema „Partnerschaft als Augenwischerei: Wie die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung Fluchtursachen schafft“.2 [4] Anschließend kam es zu einer lebhaften Diskussion. Der Link zu einer schriftlichen Fassung von wesentlichen Teilen des Vortrags von Anne Jung findet sich im Internet3 [5].

Da die Kieler IPPNW-Gruppe diese Veranstaltung mit unterstützt hat und einigen unserer Mitglieder das Thema Afrika besonders am Herzen liegt, werde ich im Namen unserer Gruppe einige Anmerkungen zu dem Vortrag machen, die die von Anne Jung getroffenen Aussagen inhaltlich ergänzen sollen. Ich hoffe, dass ich damit angesichts der anhaltenden starken Fluchtbewegungen aus Afrika einen Anstoß geben kann für eine unbedingt notwendige weitere Diskussion über deren Ursachen und über eine mögliche Therapie.

Freihandelsabkommen

Ein zentraler Punkt im Vortrag von Anne Jung war eine scharfe Kritik der bestehenden Freihandelsabkommen, die mit vielen einzelnen afrikanischen Staaten abgeschlossen worden sind. Dieser Kritik werde ich mich im Folgenden anschließen und darstellen, was aus linker und emanzipatorischer Sicht an Stelle der abgeschlossenen Freihandelsabkommen treten sollte. Dabei stütze ich mich vor allem auf zwei Artikel von Jens Berger, die kürzlich in den Nachdenkseiten veröffentlicht worden sind.4 [6]

Die afrikanische Misere, die den Fluchtursachen zu Grunde liegt, hat viele Ursachen und eine lange Vorgeschichte. Dazu gehören eine viele Jahrhunderte dauernde extreme Ausbeutung durch Sklaverei, Kolonialismus und Neokolonialismus, die bis heute andauert.

Das Resultat: Afrika ist wirtschaftlich abgehängt und daran ändert sich seit Jahrzehnten nur wenig bis nichts. Die meisten afrikanischen Länder befinden sich noch in einem vorindustriellen Zustand. Es findet kaum industrielle Produktion statt und exportiert werden ganz überwiegend Rohstoffe und Agrargüter. Nur 0,8 % der Exportgüter sind Fertigwaren. Die Crux ist eine rückständige Produktivität sämtlicher Sektoren der Wirtschaft.

Daher können sich afrikanische Güter und Produkte auf dem internationalen Markt nicht durchsetzen. So kann z. B. niedersächsisches Schweine- und Hühnerfleisch oder Getreide auf den Märkten in Westafrika trotz der höheren Lohnkosten bei uns und der hohen Transport- und Logistikkosten billiger angeboten werden als entsprechende einheimische Produkte. Die Folge ist, dass die afrikanischen Kleinbauern massenhaft Pleite gehen, ihre Höfe aufgeben müssen, in die Städte abwandern und dort das Heer der arbeitslosen Slumbewohner anwächst.

Weltweit gab es immer Staaten, die hinsichtlich ihrer Produktivität gegenüber den wirtschaftlich führenden Ländern deutlich zurücklagen, z. B. im 19. Jahrhundert das Deutsche Kaiserreich oder Japan und im 20. Jahrhundert Südkorea oder China. Wie haben diese Länder es geschafft, wirtschaftlich aufzuholen? Sie haben vor allem eine rigorose protektionistische Zoll- und Subventionspolitik betrieben, um den heimischen Markt abzuschirmen und die Produktion im eigenen Land zu unterstützen, bis die hier produzierten Waren wettbewerbsfähig waren.

Eine protektionistische Handelspolitik ist den afrikanischen Staaten aber im globalen Wirtschafts- und Handelssystem untersagt. Wer sich dem Diktat, keine Schutzzölle auf EU-Importe zu erheben, nicht beugt, verliert den Zugang zum EU-Markt.

Deshalb dominieren EU-Agrarprodukte den afrikanischen Mark (z. B. industriell produziertes und subventioniertes Milchpulver aus Deutschland, Hühnerfleisch aus den Niederlanden und Tomatenmark aus Italien) und die einheimischen Produzenten haben das Nachsehen.

Hinzu kommt eine aggressive Fischereipolitik. Senegal wurde gezwungen, Fischereikontingente an EU-Unternehmen abzutreten, europäische Fabrikschiffe fischen den Ostatlantik leer und die Fischer im Senegal kommen mit leeren Netzen heim. Nach Schätzungen von NGOs sind circa 1/5 der afrikanischen Flüchtlinge „Fischerei-Migranten“.

Die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström hat kürzlich die Freihandelsabkommen zwischen der EU und afrikanischen Staaten als „Partnerschaft unter Gleichberechtigten“ bezeichnet. Das ist zynisch, denn es handelt sich ja in Wirklichkeit um eine Beziehung zwischen völlig ungleichen Partnern, bei denen der Eine das Sagen hat und der Andere gehorchen muss.

Bei „gerechten“ Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und den afrikanischen Ländern kann es nicht um eine „Partnerschaft unter Gleichberechtigten“ gehen. Zu allererst muss Afrika die Freiheit bekommen, sich vom Freihandelssystem abzukoppeln. Afrika kann sich nur dann entwickeln, wenn es massive Wettbewerbsvorteile bekommt, wenn es seine eigenen Märkte abschotten und gleichzeitig seine Güter in den globalen Norden zollfrei einführen darf.

Denn wichtig ist vor allem, dass in Afrika möglichst schnell möglichst viele qualifizierte Jobs geschaffen werden. Und wenn diese sich „im Markt“ selbst refinanzieren und ihrerseits wirtschaftliche Impulse auslösen, wären die afrikanischen Länder ein großes Stück weiter.

Es müssen vor allem neue Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit den armen Ländern Afrikas durchgesetzt werden, die vom Prinzip der Nicht-Reziprozität ausgehen. Darunter versteht man nicht auf Gegenseitigkeit beruhende Handelsbeziehungen, die stattdessen die armen afrikanischen Länder begünstigen.

Solche Beziehungen waren im GATT (völkerrechtsverbindliche Vereinbahrung über den Welthandel aus dem Jahre 1947) für den Handel mit armen Entwicklungsländern vorgesehen, werden aber von der WTO (Welthandelsorganisation) unter der Herrschaft des Neoliberalismus nicht umgesetzt.

Jean Feyder, international anerkannter Experte für Entwicklungsfragen und langjähriger Vertreter Luxemburgs bei den Vereinten Nationen in Genf, fordert in seinem im Frühjahr 2018 erschienenen neuen Buch “Leistet Widerstand!” die Politik mit klaren Worten auf, endlich zu handeln und der globalisierten Gleichgültigkeit den Riegel vorzuschieben.5 [7]

Hier sei ein kurzer Auszug aus seinem neuen Buch zitiert:

„Von größter Wichtigkeit sind gerechtere Beziehungen und Handelsspielregeln gegenüber den Entwicklungsländern. Anstatt eine noch stärkere Liberalisierung ihrer Wirtschaften einzufordern, anstatt wirtschaftliche Partnerschaftsabkommen aufzuzwingen und ratifizieren zu lassen, wäre es für die EU notwendig und sinnvoll, eine neue Entwicklungs-, Handels- und Landwirtschaftspolitik einzuführen.
Diese müsste den enormen Produktivitätsunterschieden in Industrie und Landwirtschaft Rechnung tragen, Exporte zu Dumpingpreisen stoppen und das Prinzip der Nicht-Reziprozität wieder zur Anwendung bringen. Schluss muss sein mit der skandalösen Doppelmoral einer EU, die die Entwicklungsländer zu mehr Liberalisierungsmaßnahmen nötigt, zugleich aber den eigenen Agrarmarkt schützt und hohe Zölle auf die Importe sensibler Agrarprodukte erhebt!
Technologietransfer ist zu begünstigen, Subventionen und Schutzzölle als legitime Politikinstrumente für Entwicklungsländer zu erlauben. Die EU müsste Partner für arme Entwicklungsländer werden beim Aufbau neuer Produktions- und Handelskapazitäten in Industrie und Landwirtschaft. Die Importsubstitution, das heißt das Ersetzen von Importen durch Eigenproduktion, wäre zu fördern. Dies wäre auch im Sinne des Abbaus der Transportwege und der Reduzierung der Treibgas-Emissionen. Das Prinzip des lokalen und regionalen Produzierens und Konsumierens ist in die Realität umzusetzen.
Nur so haben Produzenten und Kleinbauern im Süden eine Chance, ihre Produkte zu gerechten Preisen auf den Märkten zu verkaufen und ein Einkommen zu erzielen, das ihnen eine sichere Zukunftsperspektive bieten kann. Die Industrienationen müssen bereit sein, diesen Preis zu zahlen, wenn sie die Fluchtursachen der Afrikaner ernsthaft bekämpfen wollen.“

(Feyder J., Leistet Widerstand! Eine andere Welt ist möglich, Westend Verlag, 1. März 2018)

Das ungerechte Freihandelsregime der EU ist eine der wichtigsten Ursachen für die anhaltende Unterentwicklung Afrikas und zugleich eine der wichtigsten Ursachen für die Fluchtbewegungen. Durch diese Art der „Partnerschaft“ werden ständig neue Fluchtursachen geschaffen. Bei einer kürzlich in mehreren Staaten West-Afrikas durchgeführten Umfrage hätten in Senegal 46 Prozent der Befragten angegeben, das Land verlassen zu wollen, sollten sie über die notwendigen Mittel und die Gelegenheit dazu verfügen. In Ghana äußerten 75 Prozent der Befragten, in Nigeria 74 Prozent diesen Wunsch, berichtete German-Foreign-Policy in einem Beitrag am 30.8.2018.6 [8]

In einem bemerkenswerten Essay schreibt der langjährige Afrika-Korrespondent der ZEIT und intime Kenner Subsahara-Afrikas, Bartholomäus Grill, am 18.8.2018 im Spiegel7 [9]:

„Der Westen predigt den afrikanischen Regierungen weiterhin Sparmassnahmen, Privatisierung, Deregulierung, also die neoliberalen Konzepte der Strukturanpassung, die schon in den achtziger Jahren den geschwächten Patienten noch kränker gemacht haben. Inzwischen drückt ihnen die EU sogenannte Economic Partnership Agreements (EPAs) auf, Freihandelsabkommen, die auf einer gegenseitigen Öffnung der Märkte basieren.“

Die Diagnose, was der Misere Afrikas vor allem zugrunde liegt, ist also klar. Aber wie kann die oben beschriebene hoffentlich wirkungsvolle Therapie in Europa durchgesetzt werden? Wie können wir darauf einwirken, dass auf der EU-Ebene eine andere Handels- und Wirtschaftspolitik gegenüber Afrika durchgesetzt wird, die den Menschen dort eine Lebensperspektive eröffnet und damit die Fluchtursachen vermindert?

HIV-Infektionen und AIDS

Wenn man sich über die Misere in Afrika, die eine entscheidende Ursache für die Fluchtbewegungen nach Europa ist, Gedanken macht, darf aus der Sicht von Medizinern der IPPNW auch über HIV-Infektionen und AIDS nicht geschwiegen werden.8 [10] Deshalb sollen hier die wichtigsten Aspekte der gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen von HIV/AIDS in Subsahara-Afrika und beispielhaft in Uganda, das ich 2013 auf einer Reise besucht habe, beschrieben und mit der Situation in Deutschland verglichen werden, damit man verstehen kann, welche Katastrophe diese Erkrankung für die Menschen in Afrika bedeutet und welche enormen zusätzlichen Belastungen damit verbunden sind.

Heute weiß man, dass die HIV-Erkrankung wahrscheinlich vor etwa 100 Jahren in Zentralafrika (Kamerun?) durch den Übergang des Simian-Immunschwäche-Virus (SIV) vom Schimpansen auf den Menschen entstanden ist. Die Erkrankung hat sich dann langsam und über viele Jahrzehnte unerkannt über Ostafrika bis ins südliche Afrika ausgebreitet. Die erste HIV-positive Gewebeprobe eines Menschen stammt aus dem Jahr 1959 aus Kinshasa (Kongo). 1982 wurde erstmals die Diagnose AIDS in Kalifornien bei jungen homosexuellen Männern gestellt, die daran verstorben sind.

Die HIV-Erkrankung ist eine chronische Infektion mit dem HI-Virus, die zu einem langsam fortschreitenden Immundefekt führt. Nach einer langjährigen Symptom-Freiheit treten 2 bis 4 Jahre nach der Infektion leichtere Erkrankungen und 8 bis 10 Jahre danach die so genannten AIDS-definierenden Erkrankungen auf, an denen die Patienten ohne wirksame Therapie innerhalb weniger Jahre versterben.

Eine effektive antiretrovirale Therapie (ART) gibt es seit 1995. Unter einer ART kommt es meist zu einer ausreichenden Wiederherstellung des Immunsystems, so dass AIDS-definierende Erkrankungen ausheilen können. Die Wirksamkeit der Behandlung hält aber nur so lange an, wie die ART weitergeführt wird.

In Deutschland gab es 2014 etwa 83.000 Personen, die mit dem HI-Virus infiziert waren, das sind 0,1 Prozent der Bevölkerung. 80 Prozent davon sind Männer und 20 Prozent Frauen. 3200 Personen haben sich 2015 neu infiziert und 450 sind an AIDS verstorben.

2014 hat UNAIDS weltweit das 90-90-90-Ziel proklamiert. Danach sollen große Anstrengungen gemacht werden, um bis 2020 das Ziel zu erreichen, dass 90 Prozent der HIV-Infizierten diagnostiziert, 90 Prozent mit antiretroviralen Medikamenten behandelt und in 90 Prozent eine Unterdrückung des Virus erreicht ist, so dass es nicht mehr nachweisbar ist. An dieser Zielsetzung gemessen waren 2015 in Deutschland 85 Prozent der wahrscheinlich bestehenden HIV-Infektionen diagnostiziert, 84 Prozent davon behandelt und in 93 Prozent war das Virus nicht mehr nachweisbar.

Die Diagnose AIDS bedeutet heute in Deutschland nicht mehr die Ankündigung des baldigen Lebensendes, sondern eher „bedingte Gesundheit“, solange eine effektive ART durchgeführt wird. Somit handelt es sich bei HIV/AIDS heute in Deutschland eher um ein medizinisches Randproblem.

In Subsahara-Afrika ist die Situation aber gänzlich anders. Von weltweit circa 37 Millionen mit dem HI-Virus infizierten Personen sind etwa 50 Prozent Frauen. Davon leben allein 26 Millionen Erwachsene und Kinder in Subsahara-Afrika, das am schwersten betroffen ist. Die Häufigkeitsrate der HIV-Infektion lag hier 2014 bei durchschnittlich 4,7 Prozent der erwachsenen Bevölkerung und war damit etwa 50-mal höher als in Deutschland. Dahinter verbergen sich jedoch erhebliche Unterschiede. Während die Häufigkeitsraten in Zentral- und Ost-Afrika einen Wert zwischen 5 Prozent und 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung aufweisen, liegen sie in Südafrika und den angrenzenden Ländern bei 20 Prozent und in einigen Landesteilen sogar noch deutlich höher.

AIDS ist in Subsahara-Afrika zur häufigsten Todesursache überhaupt geworden. Jeder fünfte Todesfall in Afrika ist inzwischen auf HIV/AIDS zurückzuführen, die Lebenserwartung ist in einigen Ländern um bis zu 20 Jahre gesunken. Mehr als 10 Millionen Kinder wurden bereits zu Waisen, weil ihre Eltern an AIDS verstorben sind. 2014 starben in Subsahara-Afrika etwa 790.000 Menschen an AIDS. In Subsahara-Afrika ist der Hauptübertragungsweg der heterosexuelle Geschlechtsverkehr, wobei sich mehr Frauen als Männer infizieren. Ein großes Problem ist aber auch die Mutter-Kind-Übertragung. Ohne adäquate Behandlung werden bis zu 40 Prozent der Kinder HIV-infizierter Mütter ebenfalls infiziert. Mit einer effektiven ART lässt sich diese Quote auf unter 1 Prozent senken.

Für die armen Länder in Subsahara-Afrika ist bedeutsam, dass antiretrovirale Medikamente immer noch sehr teuer sind und die für das Gesundheitswesen zur Verfügung stehenden Mittel weit überschreiten. Deshalb sind die meisten dieser Länder auf (leider unregelmäßig erfolgende) Medikamentenspenden internationaler Organisationen angewiesen. Auch wenn in den letzten 10 Jahren sicherlich Fortschritte bei der Behandlung von HIV/AIDS erzielt worden sind, zeigt eine aktuelle Studie, dass wir derzeit noch sehr weit von dem 90-90-90-Ziel von UNAIDS entfernt sind. Das gilt vor allem für die armen Länder in Subsahara-Afrika, zu denen auch Uganda gehört.

2017 gab es in Uganda 1,4 Millionen Menschen (15 bis 49 Jahre), die mit einer HIV-Infektion lebten. Das waren 6,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Frauen sind davon überproportional betroffen: 7,6 Prozent der Frauen waren gegenüber 4,7 Prozent der Männer infiziert. Weitere besonders betroffene Gruppen sind neben Personen, die der Prostitution nachgehen, homosexuellen Personen und Personen, die intravenöse Drogen konsumieren, vor allem Mädchen und junge Frauen im Alter von 15 bis 24 Jahren, die vierfach häufiger betroffen sind als junge Männer im selben Alter. In jedem Jahr wurden 52.000 neue Infektionen und 28.000 Todesfälle durch AIDS registriert. In Uganda gibt es etwa 2 Millionen AIDS-Waisen, jedes fünfte Kind gehört zu dieser Gruppe.

In den letzten Jahren ist es zu einem langsamen Anstieg der behandelten HIV-Infizierten gekommen. Unter Berücksichtigung des 90-90-90-Ziels von UNAIDS ist in Uganda 74 Prozent der Infizierten ihr HIV-Status bekannt und 67 Prozent der Erwachsenen erhalten eine antiretrovirale Behandlung, aber nur 47 Prozent der infizierten Kinder. Das bedeutet, dass 2016 rund 33 Prozent der infizierten Erwachsenen und 53 Prozent der infizierten Kinder nicht behandelt wurden. Anhaltende soziale Ungleichheiten bestehen fort, die bestimmen, wer eine Behandlung erhält, und viele Infizierte erfahren Stigmatisierungen und Diskriminierungen.

Die demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen von HIV/AIDS in Subsahara-Afrika sind verheerend. AIDS ist die wichtigste Todesursache noch vor Tuberkulose und Malaria und für jeden 5. Todesfall verantwortlich. Ein großes soziales Problem sind die AIDS-Waisen. Ihre Zahl wird auf circa 10 bis 12 Millionen geschätzt (ca. 20 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren). Ein Viertel aller Familien hat AIDS-Waisen aufgenommen. Besonders im Bildungsbereich und im Gesundheitswesen ist es zu erheblichen Ausfällen gekommen, da hier viele gut ausgebildete jüngere Beschäftigte entweder erkrankt oder an AIDS verstorben sind. Nicht zuletzt sind verheerende wirtschaftliche Auswirkungen zu verzeichnen. Durch den vorzeitigen Tod beziehungsweise Ausfall vieler Menschen im besonders aktiven Alter erleidet die Wirtschaft massive Einbrüche und es ist zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion und des Wachstums gekommen, der auf bis zu ein Drittel geschätzt wird.

Für die am meisten durch HIV/AIDS betroffenen Länder in Subsahara-Afrika gilt: Keine Ökonomie der Welt kann den Verlust von einem großen Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung bei gleichzeitiger Zunahme der sozialen Anstrengungen (für Kranke und Waisen) allein aus eigener Kraft stemmen. Es wird Zeit, auch HIV/AIDS als einen Faktor anzuerkennen, der in Subsahara-Afrika völlig neue wirtschaftliche und soziale Bedingungen geschaffen hat.

Deshalb ist bei der Bekämpfung von HIV/AIDS mehr Solidarität von Seiten der wohlhabenden europäischen Länder dringend erforderlich, auch im Sinne einer Wiedergutmachung, z. B. durch konkrete Hilfe beim Aufbau einer medizinischen Grundversorgung besonders auf dem Lande, wo die große Mehrheit der Bevölkerung lebt, und durch die kostenlose Zurverfügungsstellung von wirksamen antiretroviralen Medikamenten.

Ein Argument für die Wiedergutmachung könnte die Anerkennung des Unrechts sein, das den Menschen in vielen afrikanischen Ländern in den letzten Jahrhunderten von Seiten der europäischen Länder durch Sklavenhandel, Kolonialismus und Neokolonialismus und in den letzten Jahrzehnten auch durch den Neoliberalismus angetan worden ist.

Schlussfolgerungen

Meine Überzeugung ist, dass Verfolgten Schutz gewährt werden muss. Deshalb muss das Asylrecht verteidigt werden. Aber man kann das Problem der Armut in Afrika nicht durch grenzenlose Zuwanderung lösen.

Ebenso wie wir uns angesichts der Krise rund um die vielen Geflüchteten dafür einsetzen müssen, dass andere wesentliche Fluchtursachen wie die völkerrechtswidrigen Rohstoffkriege des Westens im Nahen und Mittleren Osten sofort zu beenden sind, müssen wir alles dafür tun, dass Europa und Deutschland nicht weiter Lebensperspektiven der Bevölkerung in den afrikanischen Ländern zerstören, sondern durch eine geänderte Wirtschafts- und Handelspolitik solche ermöglichen. Dazu gehört auch, Afrika dabei zu unterstützen, vorhandene moderne effektive Behandlungen von häufig dort vorkommenden tödlichen Krankheiten wie HIV/AIDS, aber auch Malaria und Tuberkulose, zu gewährleisten. Die Menschen dort brauchen vor Ort eine Perspektive!

  1. Zur Person: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., war von 1985 bis 2006 ärztlicher Leiter einer Rehabilitationsklinik in der Umgebung von Kiel. Ab 1990 hat er dort auch viele Patienten mit einer HIV-Erkrankung behandelt. Darunter befanden sich auch Migrantinnen und Migranten aus Afrika. Er arbeitet in der Kieler Gruppe der IPPNW mit. Weiterhin ist er Mitglied von attac, des Freundschaftsvereins Kronshagen-Bushenyi/Ishaka und des Vereins Kieler Ärzte für Afrika (KÄFA) [ [11]]
  2. Vortragsfolien siehe hier [12]. [ [13]]
  3. https://www.medico.de/blog/suche-rohstoffe-biete-fluchtursachen-17152/ [14] [ [15]]
  4. Berger J., Afrikas Flüchtlinge, Afrikas Probleme und unsere Verantwortung, https://www.nachdenkseiten.de/?p=27289 [16]; Berger J., Brennpunkt Afrika – Auch wenn die Debatte unbequem ist, müssen wir sie jetzt führen, https://www.nachdenkseiten.de/?p=45160 [17] [ [18]]
  5. Feyder J., „Leistet Widerstand! Eine andere Welt ist [19]möglich“ [19], 256 Seiten, Westend Verlag, 1. März 2018 [ [20]]
  6. Wie man Fluchtursachen schafft”, German-Foreign-Policy vom 30.8.2018, https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7705/ [21] [ [22]]
  7. Grill B., “Angst vor Afrika. Wie stoppt man die Massenflucht übers Mittelmeer? Die klassische Entwicklungshilfe ist Flickwerk, es gibt bessere Ideen für den Kontinent.”, Der Spiegel Nr. 3 / 18.8.2018, S. 78-79 [ [23]]
  8. Kolenda KD., “HIV-Erkrankung und AIDS- ein Vergleich zwischen Subsahara-Afrika und Deutschland”, https://www.nachdenkseiten.de/?p=41544 [24]; Kolenda KD., “Eine kurze Geschichte der HIV-Erkrankung und der antiretroviralen Therapie – ein Nachtrag aus gegebenem Anlass”, https://www.nachdenkseiten.de/?p=42266 [25] [ [26]]