“Das Fatale ist, dass der wohlfeile deutsche Befund vom schludernden Italiener in etwa das Gegenteil von dem ist, was die Italiener seit Jahren tatsächlich erleben. Spätestens seit dem Antritt von Mario Monti 2011 folgte über sieben Jahre eine Reformregierung der nächsten.
Es wurden Renten gekürzt und Arbeitsverträge flexibilisiert. Nach OECD-Auswertungen gab es in der Zeit kaum irgendwo anders so viele Strukturreformen nach orthodoxem Lehrbuch. In keinem anderen großen Land gibt der Staat jenseits der Zinszahlungen seit Jahren weniger aus, als er von seinen Bürgern eintreibt. Was heißt, dass stetig weniger Geld an die Leute im Land geht (zumindest an die, die keine Staatsanleihen besitzen). Kein anderes EU-Land hat in den vergangenen Jahren seine öffentlichen Investitionen derart gekappt.
Genau hier beginnt das Drama. All das haben die Regierungen in Rom im Namen einer Heilslehre gemacht, nach der das Land mit jeder Entbehrung und neuen Wohltat für Wirtschaft und, na ja, Leistungsträger dynamischer werden sollte – und sich die Entbehrungen irgendwann auszahlen. Kennen wir. Spätestens seit der Zeit, als unser Gerd Bundeskanzler war. […]
Es spricht viel dafür, dass das geschwundene Vertrauen in glorreiche Globalisierung und immer neue Spar- und Reformrunden zum Aufstieg der italienischen Populisten um Matteo Salvini beigetragen haben. So wie das anderswo auch der Fall ist. Wenn das stimmt, ist es nur grotesk fahrlässig, das Problem nun dadurch beheben zu wollen, die Regierungen zu noch mehr Sparen und Reformen gegen einen Gutteil der Bevölkerung zu drängen.
Das funktioniert weder in Italien noch sonstwo. Mit ähnlichem Ansatz haben Deutschlands Sozialdemokraten es hinbekommen, von einst 40 auf nun teils weniger als 10 Prozent Wählerstimmen zu stürzen. Wie die italienischen oder französischen Kollegen. Kein Zufall. […]
All das gilt so oder so ähnlich für Briten, Amerikaner, Franzosen und Deutsche, von denen erschreckend viele derzeit dazu neigen, lieber Populisten zu wählen. Überall gibt es dieses vage Gefühl des Kontrollverlusts. Auch das wird nicht besser, wenn eine Regierung jetzt aus Brüssel (oder Berlin) nahegelegt bekommt, in etwa das Gegenteil von dem zu tun, wofür sie sich hat wählen lassen.”1
(Thomas Fricke, Wirtschaftsjournalist – Habt ihr noch alle Espresso-Tassen im Schrank?, SpiegelOnline, 19.10.2018)
- Thomas Fricke leistet eine in der Form fluffige, jedoch inhaltlich treffende Darstellung für das, was eigentlich zu kollektiver Empörung führen müsste, doch haben die meisten sich ja das knappheitsbesessene Modell der schwäbischen Hausfrau andrehen lassen, mit all den Verlusten an Demokratie und politischer Steuerungsfähigkeit, die es bedeutet. Ausnahmsweise sei hier noch ein Hinweis für Leserinnen und Leser aus der Region rund um Kiel gegeben: Wer einen der sachkundigsten Kritiker dieses gesellschaftszerstörenden Dogmas hören möchte, hätte hierzu am 8.11. zu einer leider nicht ganz erwerbsfreundlichen Uhrzeit in der Fachhochschule Kiel die Gelegenheit, siehe hier. [↩]