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No 388

“Wir durchleben gerade einen dieser seltenen historischen Momente allgemeiner Krisenhaftigkeit, in der die gesamte Gesellschaftsordnung den Anschein der Normalität verliert und sich als dysfunktional erweist. Das zeigen der Vertrauensverlust in traditionelle Parteiensysteme und das Erstarken neuer politischer Alternativen. Beispiele dafür sind Trump und Bernie Sanders, der Brexit und die Neuausrichtung der Labour Party unter Corbyn, Mélenchon und der Front National, Podemos oder die AfD. Ich spreche hier bewusst von rechten und linken Populismen, da sie alle Ausdruck derselben Sache sind: der hegemonialen Krise des progressiven Neoliberalismus. Wir wissen alle, was Neoliberalismus ist: das Projekt der Liberalisierung, Globalisierung und Finanzialisierung der kapitalistischen Weltwirtschaft, der Entfesselung der Marktkräfte von staatlicher Kontrolle und des absoluten Vorrangs der Interessen von Investoren. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass es unterschiedliche Spielarten des Neoliberalismus gibt. Eine neoliberale >>Verteilungspolitik<<, die das Kapital begünstigt und die Wohlhabenden bereichert, kann sich mit verschiedenen Formen der Anerkennungspolitik verbinden. […]Es ist gerade die Hegemonie des progressiven Neoliberalismus, die den Aufstieg Trumps ermöglichte. Wenn der >>Widerstand<< nur darauf abzielt, liberale Institutionen zu verteidigen, und sich nicht auch mit der politischen Ökonomie des Neoliberalismus befasst, stellt das bestenfalls den status quo ante wieder her. Aber das bedeutet, den Boden für zukünftige und noch schlimmere Trumps zu bereiten!”1 [1]

(Nancy Fraser, US-amerikanische Philosophin und Feministin – “Wir brauchen eine Politik der Spaltung” [2], Philosophie Magazin, 28.11.2018)

  1. Anm. JJ: Leider scheint der sich selbst als links verstehende Teil des politischen Spektrums in weiten Teilen Europas derzeit in eine Sackgasse zu fahren, weil er nicht in der Lage zu sein scheint, inne zu halten für eine tiefere gemeinsame Analyse der gesellschaftlichen Zerfallsprozesse. Da scheinen Faktoren wie persönliche Befindlichkeiten, mangelnde Perspektivübernahme, unbedachte Signalwörter, liebgewonnene Gewohnheiten, der Wunsch, dazu zu gehören, der Wunsch, sich wohl zu fühlen, die Verwechslung von Inhalten, Werten und Strategien usw. usf. eine große Rolle zu spielen. So kann denn der “regressive Populismus” (i.S. Nancy Frasers) zunehmend Oberwasser gewinnen. Man kann es auch so lesen, dass auf die entpolitisierende und entfremdende Phase neoliberaler Hegemonie mit ihren Elitenkonsensen nun ein zwangsweises chaotisches Gesellschaftslernen und -kennenlernen folgt, das eben so seine Zeit in Anspruch nimmt, weil alle Seiten bisher mit zahlreichen falschen Annahmen über sich selbst und die anderen herumliefen. Eine Reihe meiner Annahmen hat sich in Anbetracht der erweiterten Befundlage auch immer wieder als unzureichend bis falsch herausgestellt. Nancy Fraser macht hier neben anderen, wie ich finde, ein spannendes Orientierungsangebot. [ [3]]