Diesen Artikel drucken Diesen Artikel drucken
1

Einschätzungen und Beobachtungen zur Bewegung der “Gilets jaunes”

Erstaunlich der Blick nach Frankreich, in dem die Bewegung der “Gelbwesten” (“Gilets jaunes“) das ohnehin erschütterte politische System noch weiter erschüttert. Auch wir haben immer wieder Phänomene im Blog behandelt, die eine Krise der politischen Repräsentation aufzeigen, bei der es sich gleichwohl um ein internationales Phänomen handelt. Doch Frankreich sticht einmal mehr dadurch heraus, dass “die Straße” in Form der “Gelbwesten” wiederum ihren Ruf wahr machte und ihre wirklich auserlesenen Eliten jüngst zu Zugeständnissen zwang: Die Steuererhöung auf Benzin und Diesel wird für einige Monate ausgesetzt und auch bei Gas und Strom soll es keine Erhöhungen geben, wie die französische Regierung mitteilte.
Galt Präsident Macron noch vor einiger Zeit als der schillernde Hoffnungsträger, mindestens unter all jenen, die für soziale Verbesserungen weiterhin auf die “Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit” durch (die altbekannten) “Strukturreformen” setzen und die so weiterhin an die Weisheit der Verteilungsergebnisse “des Marktes” glauben, so besitzt der politische Innovator offenbar keine Strahlkraft mehr in Frankreichs breiter Bevölkerung (zurückhaltend formuliert).
Wir verweisen auf einen Artikel des französischen Autors Guillaume Paoli, der eine Einschätzung zur sozialen Zusammensetzung und zum politischen Hintergrund der “Gelbwesten” abgibt:

“Gelbwesten sehen rot: Der Benzinpreis war nur der Auslöser” (Mosaik-Blog, 4.12.2018)

Hier auch noch ein paar Beobachtungen und Einschätzungen unseres in Frankreich angesiedelten Lesers Andreas Meyer (Nachtrag: vielen Dank dafür an ihn!):

(2.12.2018)
“Hallo, letzte Woche habe ich kaum daran geglaubt, dass das “mouvement des gilets jaunes” perenne sein wird. Komplett getäuscht. Laut Umfragen unterstützen mittlerweile über 80% der Mitbürger diese Bewegung. In den meisten franz. Medien wird eine recht offene Diskussion über Ungleichheit geführt und über die Frage wer die Lasten der bevorstehenden Herausforderungen (Klimaschutz, Energiewende, Globalisierung, etc.) zu tragen hat. Gerade die Tatsache, dass diese Bewegung so unstrukturiert ist und die Forderungen immer umfangreicher werden, scheint diese Diskussion zu verbreitern und zu beflügeln. Was mich besonders beeindruckt: Viele der Gilets Jaunes haben ganz offensichtlich kaum oder wenig Kenntnisse über die wirtschaftlichen Zusammenhänge, ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, solche komplexen Sachverhalte z.B. vor einer Kamera verständlich zu formulieren. Aber es wird deutlich, dass die Ungerechtigkeiten (auch jene durch die EU induzierten) deutlich “gefühlt” werden. Parallel dazu werden von konservativen Politikern alle üblichen Sterotype (“Neiddebatte”, “wer soll die Forderungen bezahlen”, nicht selten gepaart mit offener Hochnäsigkeit vor der Kamera, etc.) bedient, manchmal in einem Maße, dass es fast schon unreal, ja geradezu komisch wirkt. Unglücklich, dass Macron (oder “Menu” wie wir ihn hier nennen) als eine der ersten Aktionen nach seiner Wahl die ISF [Anm. JJ: “impôt de la solidarité sur la fortune”, grob: “Solidaritätssteuer auf Vermögen”] für die reichsten 1% abgeschaft hatte. Somit fehlen nun 3,5 bis 5 Millarden Euro im Haushalt. Es wird wohl spannend hier in Frankreich!”
(4.12.2018)
“Am Sonntagabend gab es auf France 2 (ÖR TV-Sender) eine 2,5 stündige Sondersendung mit hochkarätiger Besetzung: T. Piketty, E. Todd, Mélenchon, Vertreter der Gilets Jaunes, N. Dupont-Aignan (rechtes Lager), et al.
Sehr gute Moderation der Sendung, sehr neutral und sachlich. Die einzig seriösen und ruhigen Teilnehmer der Runde waren im Übrigen – die 4 (überparteilichen) Gilets Jaunes. Klare und kohärente Statements. Wovon, so scheint es mir, die deutschen Medien nicht berichten […]: die Gilets Jaunes sehen Frankreich konfrontiert mit einem systemischen Problem der Demokratie und fordern, aus meiner Sicht zurecht, u.a. die Auflösung des Parlaments und die Reformierung des parlamentarischen Systems (proportionales Wahlrecht, Möglichkeit von Referenden, etc.). Was die Ausschreitungen in Paris betrifft, so wurde von nahezu allen Seiten darauf hingewiesen, dass auch das aktuelle (neoliberale) System mit seiner systemischen Arbeitslosigkeit >10% sehr brutal sei (Neoliberalismus und Austerität töten). Des Weiteren, nachdem Macron mehrere Wochen gezögert hat, wünscht die Mehrheit der Gilets Jaunes keine weiteren fruchtlosen Diskussionsversuche. Auch dies ist verständlich. Noch erstaunlicher: der Konflikt bekommt vermutlich eine europäische Komponente. Emanuel Todd (als “souverainist”) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es angesichts des Haushaltsdefizites Frankreichs kaum Handlungsspielraum innerhalb der EU gibt (cf. Six-Pack) [Anm.JJ: Vereinbarung, die u.a. die Verschärfung des “Stabilitäts- und Wachstumspaktes” beinhaltet, Stichwort: Verschuldungsgrenzen und -strafen]. Der Kern des Problems bleibt daher die Krise der EU in Hinblick auf ihre mangelnde Fähigkeit, angemessen und ausreichend Steuern zu erheben (meine persönliche Deutung, cf. Wolfgang Streeck, “Gekaufte Zeit”) und den Wohlstand in Europa angemessen zu verteilen (cf. z.B. Lohndumping Deutschland, H. Flassbeck). In Frankreich ist das Bewusstsein, dass die derzeitigen ersten “Auflösungserscheinungen” der EU bereits in den Maastrichter Verträgen angelegt waren, weit verbreitet: es hätte keinen gemeinsamen Markt geben dürfen, wenn dabei die Steuerhoheit bei den Nationalstaaten verbleibt, und obendrein Länder wie Irland, Luxemburg, Niederlande, Malta, Zypern, England, etc. dank Sonderregelungen Steuerdumping betreiben dürfen. Ganz zu schweigen von den massiven demokratischen Defiziten der EU-Institutionen. Zirka 50% der Franzosen sind europaskeptisch (obwohl mehrheitlich pro europäisch, aber eben für ein anderes Europa). Die Äußerung Emmanuel Todds, “die Gilets Jaunes haben mir den Stolz, Franzose zu sein, zurückgegeben” hat besondere Beachtung erfahren. Es ist noch zu früh, um die Tragweite des Mouvements zu beurteilen, aber die Bewegung hat das Potential den folgenden Satz wahr zu machen: Europa muss reformiert werden oder es zerbricht. Es wird spannend, und ich befürchte dass die deutschen Medien auch hier nicht auf der Höhe sein werden.”

Jascha Jaworski

Ein Kommentar

  1. Hallo,

    ich hab eben (ganz zufällig) diesen Blog gefunden und ich wollte nur sagen wie gut ich ihn finde, danke schön also für die guten Posts, ich glaube ich werde eine regelmäßige Leserin :)

    Alles Gute

    L.

Schreibe einen Kommentar zu Lorena Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.