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BVerfG: Sanktionen teilweise verfassungswidrig

“[…] hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil zwar die Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten nicht beanstandet. Allerdings hat er auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse die Sanktionen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt. Mit dem Grundgesetz unvereinbar sind die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird. Der Senat hat die Vorschriften mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt.”

(Pressemitteilung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 – Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II teilweise verfassungswidrig [1])

Kommentar: Immerhin, vorbei sind damit die fürchterlichen Streichungen, die Menschen nichts mehr gelassen haben, nicht einmal mehr Unterkunft und Heizung. Vorbei auch ihre rücksichtslose Nicht-Revidierbarkeit. Auch wenn man sich mehr gewünscht hätte, das ist ein guter Anfang, dessen Trauerspiel jedoch ist, dass er über die juristische Ebene erfolgte und nicht die politische.1 [2] Zivilisierte gesellschaftliche Verhältnisse hätten den politisch Verantwortlichen schon lang auferlegt, den Menschen nicht länger ihr letztes bißchen Existenz zu rauben, wenn sie nicht gehorchen. Und welch weiteres Trauerspiel, dass ein Verfassungsgericht mit der Würde des Menschen und der zu ihrem Erhalt gebotenen Verhältnismäßigkeit daher kommen musste (“Der sonst bestehende weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist enger, wenn er auf existenzsichernde Leistungen zugreift.”), um Gesetze teils zu kippen, die ausgerechnet von Politiker*innen beschlossen wurden, die sich der Sozialdemokratie zurechnen. Es zeigt einmal mehr den Zustand jener Kräfte in diesem Land, die sich eigentlich als Schutzanwalt der Benachteiligten und Armen verstehen sollten. Es ist immer wieder an eine grundlegende Konsequenz aus der menschlichen Bedürfnispyramide zu erinnern: Eine Demokratie muss sozial sein, ansonsten wird sich nicht mehr sein.

  1. Weitere Anmerkung JJ: Mich überkam beim Durchlesen des Urteils der Eindruck, dass doch schon sehr gutmütig in die harsche Sanktionspraxis der Verantwortlichen hineingelesen wurde, so dass der Apparat nicht zu sehr erschüttert wird. Man begründet Sanktionierung gerade damit, dass mit ihr ja das Existenzminimum gesichert werden solle. Mehr oder weniger fehle es nur an Empirie, die eine positive Wirkung über 30% hinaus belegen könnte. Diese doch sehr bedingte Argumentation für die Gewährung des realen Existenzminimums (konkrete Leistungen des Staates), statt nur eines intendierten (mögliche Erwerbsarbeit in der Zukunft), erscheint doch wesentlich weniger konsequent, als das, was das Bundesverfassungsgericht noch in einem Urteil zu einer anderen Sache [3] in 2010 festgestellt hatte: “Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Dieses Grundrecht (…) ist dem Grunde nach unverfügbar.” Aber mehr war vielleicht nicht zu erwarten, endet der Beurteilungswille von Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichtern aufgrund sehr ähnlicher bis gleicher Sozialisation [4] wohl nicht weit von dem entfernt, wo er bei den politischen Eliten endet. [ [5]]