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No 444

“Stellen Sie sich also bitte jetzt […] nur eine Minute lang vor: Jeden Freitag nachmittag, oder auch nur in der letzten Stunde: im Unterricht, im Betrieb, in den Büros von Abgeordneten, Stadtplanern, Krankenhausstationen, Pflegeheimen, in den dazu gehörigen Bürokratien, den Zentralen und Stationen von Bahn und Telekom und Post, in den Kindertagesstätten und den Montagehallen … würde eine Stunde lang darüber geredet, was schief läuft, werden Ideen ventiliert, wie man sich Abhilfe, Verbesserung, Veränderung vorstellen kann, in der eigenen Arbeit, im Betrieb, in der Stadt, im Land. In jedem Mietshaus, jeder Stadtbibliothek, jedem Fuhrhof, jedem Schlachthof, jeder Filiale von Lidl, Aldi, Rewe, in den Shopping-Malls, wo Billigklamotten, elektronischer Schnickschnack oder überteuerter Luxustand verkauft werden, in den Theatern und Museen, den Polizeirevieren und den Büros des BND, in den Ministerien und Forschungslaboren der Pharmachemie, den Konstruktionsbüros von Motoren aller Art, den Planungsbüros von Airbus, Siemens, Bahn, den Universitätsseminaren, Max-Planck-Instituten und den Lehrerzimmern der Grundschulen in Problembezirken … würden nur eine Stunde lang die Mitarbeiter, die Mieter, die Verwalter, die Lehrenden, die Kinder darüber reden, wo man eigentlich hinwill, mit der ganzen Arbeit, der ganzen Mühe, wo der Frust herkommt, was getan werden könnte, über das, was man gleich ändern könnte, über das, was man sich vorstellen kann, auch wenn man es sich gerade nicht vorstellen kann, über die Delegation von Aufträgen an unsere Repräsentanten – und meinetwegen auch, wie man sich dabei gerade fühlt…eine Stunde lang: Gesellschaft.
[…] Die Minute ist vorbei. Und die Anschlussfrage lautet: Ist das naiv, sich so etwas vorzustellen, so ein kleines, rituelles, analoges, Menschen verbindendes Ritual? Ein wenig mehr Gesellschaft? Ist das utopisch? Könnte das interessant, gar vergnüglich sein, so ein basisdemokratisches Palaver? Könnte das Menschen zu Verabredungen veranlassen? Könnte das unsere Politiker ermutigen? Würden Sie bei so etwas mitmachen? Würden Sie sich unfrei dabei fühlen? Oder könnten sich daraus Konsequenzen für unsere Demokratie ergeben?”1 [1]

(Matthias Greffrath, Schriftsteller und Journalist – Saisonschluss (2/3) – Rückblick und Ausblick [2], Deutschlandfunk, 15.12.2019)

  1. Matthias Greffrath versucht eine gesellschaftliche Positionsbestimmung zu leisten und spannt dabei in seinen drei Teilen einen weiten Bogen, der zum sinnsuchenden Denken im Größeren anregt. Seine Ausführungen möchte ich gern empfehlen, auch wenn man in einigen Punkten nicht zum gleichen Bild wie der Autor gelangen mag. Ich persönlich teile seine um Positives bemühte Zeichnung der eigentlichen Absichten einer Angela Merkel nicht, zudem halte ich seinen Fokus auf “Wachstum” als eigentliche Ursache des Klimawandels für verkürzt in Anbetracht der Interessen auf der Kapitalseite und des damit verbundenen mangelnden Gestaltungswillens in der Politik. Doch das ändert nichts an dem Umstand, dass der Autor einen humanistisch motivierten und dabei breit informierten Blick auf die Verhältnisse wirft und uns daran erinnert, wie sehr das tagespolitische Feuerwerk doch die tieferliegenden politikfähigen Bedeutungsfragen der Menschheit unterdrückt. Teil 1 siehe hier [3], Teil 3 hier [4]. [ [5]]