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Totschlagargument “Unsicherheit”: Die ökonomischen Institutionen lenken von ihrer Ahnungslosigkeit ab

Es ist doch eigentlich ganz klar: Durch politische Ereignisse wie den Brexit und die handelspolitischen Drohungen und Handlungen der USA haben sich große Unsicherheiten (ARD [1] / DIW [2]) aufgebaut, infolge derer nun die Unternehmen international mit einer Zurückhaltung ihrer Ausgaben reagieren. Die Folge wäre, dass vor allem Deutschland mit seinem starken Export darunter leidet. Unabhängig davon, wie man diese Politik findet, stellt sich die Frage, wie stark sind denn nun die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Unsicherheiten der Firmen. Schließlich kann es viele denkbare Gründe für eine wirtschaftliche Dynamik geben. Wo sind die statistischen Belege dafür, dass diese Unsicherheiten die signifikante Ursache der wirtschaftlichen Probleme Deutschlands sind?

Die konjunkturelle Lage in Deutschland

Nach einer guten wirtschaftlichen Entwicklung zwischen 2014 und 2019 fing die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr zu schwächeln an. Die Auftragseingänge im verarbeitenden Gewerbe [3], die wichtigste Stütze des deutschen Exports, sind schon seit über einem Jahr in der Tendenz deutlich rückläufig und das Wachstum im Jahr 2019 sowie im 4. Quartal [4] waren schwach. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt [5] ist aufgrund eines gutes Bestands an offenen Stellen noch gut, aber der Bestand sinkt spürbar, der Beschäftigungsaufbau verlangsamt sich deutlich und der Umfang der Kurzarbeit steigt stark an. Die Exportzahlen sind zwar noch stabil, treiben die Wirtschaft aber nicht mehr und werden aufgrund der gesunkenen Aufträge in diesem Jahr vermutlich sinken. Die Situation auf dem Binnenmarkt sieht besser aus. Aufgrund der im Vergleich zu den letzten 20 Jahren besseren realen Lohnentwicklung [6] und dem Anstieg der Beschäftigung ist der private Konsum stärker als der Export gewesen. Die Bauinvestitionen laufen gut, doch die Ausrüstungsinvestitionen, die ebenfalls stark am Export hängen, schwächeln. Der sich abzeichnende Abschwung kommt daher tatsächlich vom Export.

Die Handelssituation mit den “Verunsicherern”

Jetzt stellt sich also die Frage, ob diese Effekte durch Verunsicherungen der Unternehmen hervorgerufen wurden. Die größten Verunsicherungen gehen laut einschlägiger Medienbrichte durch die Androhung von Zöllen seitens den USA aus, sowie durch den Ausstieg Großbritanniens aus der EU. Auch die Reaktionen Chinas könnten verunsichern. Vielleicht hat ja auch das außenpolitische Verhalten Russlands und der Streit um Nordstream 2 zu einem geringeren Handel beigetragen. Oder haben vielleicht die Demonstrationen in Frankreich den Handel mit Deutschland stark belastet? Wenn tatsächlich diese Länder für eine geringere Aktivität der Wirtschaft verantwortlich sein sollten, dann müsste sich insbesondere beim Handel mit diesen Ländern ein deutlicher Rückgang abzeichnen. Da alle diese Länder einen größeren Anteil am Handel mit Deutschland haben, könnten diese durchaus starke Effekte auf den Export Deutschlands ausüben.

Beim statistischen Bundesamt [7] muss man jedoch feststellen, dass der Handel mit diesen Ländern eher überdurchschnittlich zugenommen hat.

Es stellt sich die Frage, wie zum Beispiel ausgerechnet der Handel mit den USA so stark zulegen konnte. Zwar gab es auch einen nicht zu unterschätzenden Wechselkurseffekt [8] beim Handel mit den USA, doch dieser schlägt sich auch nicht automatisch in höheren Einnahmen nieder, da Unternehmen auch ihre Preise anpassen. Wenn Güter aus den USA durch den Wechselkurs um ca. 5% teurer werden, ist ein verbleibender Anstieg von 5% beim Importwert immer noch hoch. Es ist erstaunlich, wie man in Anbetracht der Handelsdaten von Verunsicherung als Ursache sprechen kann, wo doch der Handel mit den anderen Ländern offenbar stärker schwächelt. Auch anhand der Auftrageingänge im verabreitenden Gewerbe [9] kann man sehen, dass die Nachfrage aus der Eurozone im gleichen Maße und zum Teil noch stärker als die Nachfrage aus dem anderen Ausland sinkt. Ebenso findet über verschiedene Gütergruppen hinweg eine Verringerung des Exports statt, und nicht nur bei den Investitiongütern. Es mag zwar auch Kettenreaktionen geben, weil bspw. eine geringere Nachfrage der USA in Drittstaaten deren Nachfrage nach unseren Gütern dämpft, aber diese sollte in der Regel nicht höher ausfallen, als der direkte Ausfall im Handel mit den “Verunsicherern”. Beachtenswert ist zudem, dass sich die Entwicklung der Austragseingänge in Deutschland zeitlich auch gar nicht nach den Zolldrohungen [10] oder der Pauserierung der TTIP-Verhandlungen seit Ende 2016 richtet. Auch der beschlossene Brexit sollte damals in 2016 und 2017 ganz große Unsicherheiten hervorufen, die jedoch ausblieben. Jens Berger [11] von den Nachdenkseiten schrieb einen guten Artikel dazu.

Wenn es also keine statistischen Daten gibt, die klar belegen, dass eine Verunsicherung der Unternehmen die Abschwächung des Exports verursacht hat, wieso wird diese Behauptung denn dann überhaupt so selbstbewusst von sogar eher linken ökonomischen Instituten [12] vertreten?

Betriebe agieren sehr oft unter großer Unsicherheit

Schon das theoretische Fundament der Unsicherheit als Ursache für gesamtwirtschaftliche Schwäche wackelt, wenn man sich in die Situation eines einzelnen exportierenden Betriebes versetzt, der sich aufgrund dieser Unsicherheit dazu verleiten lassen soll, weniger nachzufragen. Jedes Unternehmen arbeitet nämlich ständig unter enormen Unsicherheiten. Es hat meistens eine breite Palette an verschiedenen Gütern, die auf verschiedenen weltweiten Märkten angeboten werden. Durch das Konsumentenverhalten, Wettbewerb & Konkurrenzinnovationen, Wechselkursschwankungen, Unfälle, Umwelteinflüsse und politische Entscheidungen schwanken die Absätze dieser einzelnen Güter ohnehin stark. Verlässliche Erwartungen gibt es bei Unternehmen in der Regel nicht und trotzdem wirtschaften diese Unternehmen jeden Tag weiter. Warum sollten Unternehmen also infolge von ein paar mehr Unsicherheiten ihr Geschäftsverhalten ändern? Wenn die Spalte, die man überspringen muss, bereits eine tödliche Tiefe hat, was ändern dann ein paar weitere Meter?

Betriebe müssen in unserer arbeitsteiligen Wirtschaft einfach die Güter anderer Unternehmen kaufen, die sie für ihre eigenen Güter und damit für ihre Gewinne brauchen. Selbst wenn sie in einem Land nicht mehr kaufen wollen, müssen sie die Vorleistungen woanders herbeziehen. Und wenn man die Investition in eine Anlage in einem Land aufschiebt, dann sind ja nicht die Absatzerwartungen verschwunden, die diese Produktionsanlage bedienen sollte. Dementsprechend wird die Anlage wohl später gebaut, in einem anderen Land gebaut oder die Produktion eines anderen Standortes wird aufrechterhalten. Außerdem wird der Handel heutzutage durch so viele Handelsgesetze reguliert, dass durch einen Austritt aus der EU oder kleine Zölle nur eine geringe Kostenveränderung für die meisten Unternehmen anfallen würde, die man einfach auf den Preis aufschlagen. Nachfrage wird möglicherweise umverteilt, aber die Gesamtnachfrage ändert sich wahrscheinlich fast gar nicht.

Andere mögliche Gründe für die schwache Export- und Investitionsdynamik

Ich möchte gar nicht behaupten, dass ich sagen kann, woran die derzeitige Abwärtsdynamik beim Export konkret liegt. Ich vermute trotzdem, dass beim aktuellen Abschwung Faktoren wie die Einkommensverteilung keine entscheidende Rolle spielen, denn dann hätte es zuvor auch keinen Aufwärtstrend bis 2017 geben können. Möglich ist, dass die etwas stärkere Einkommens- und Lohnstückkostenentwicklung [13]in Deutschland im Vergleich zur Eurozone etwas dazu beiträgt, dass deutsche Güter an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Aber auch hier bleiben Fragen offen, denn der niedrige Wechselkurs des Euro [8] hat Deutschland bisher nicht geholfen. Dazu passt, dass auch der Rest Europas [14] seit zwei Jahren bei der Industrieproduktion stagniert und schwächelt, wenn auch meistens nicht ganz so stark wie Deutschland.

Eine immer wieder spannende Frage ist, inwiefern technologische Innovationen die Konjunktur beeinflussen. Zwar gibt es ständig neue Entwicklungen und Erfindungen, doch es könnte durchaus technologische Durchbrüche mit größerer wirtschaftlicher Bedeutung geben, die Unternehmen zu neuen Investitionen veranlassen. Die Investitionen waren seit jeher ein wichtiger wirtschaftlicher Treiber von Aufschwüngen. Solche technologischen Effekte würden auch erklären, warum nach einer gewissen Phase die Investitionen wieder nachlassen. Nach der Anschaffung der Technologie, die man unter dem Druck der Konkurrenz schnell installiert, braucht man nämlich nur noch bedingten Ersatz und die Nachfrage lässt wieder nach. Ebenfalls würden sie erklären, warum Konjunkturaufschwünge in westlichen Staaten zeitlich oft zusammenfallen. Leider gibt es keine gute Datengrundlage, um solche Theorien zu überprüfen. Aber man könnte ja daran arbeiten, neue Daten zu erfassen, um solche Theorien auf ihre Substanz hin zu prüfen. Gäbe es diese technologischen Effekte tatsächlich, wäre dies auch ein großer Gewinn für eine andere Betrachtung der Geldpolitik [15] und die Möglichkeiten des Staates, sich über die Zentralbank selbst Geld zu leihen und damit die Beschäftigung der Menschen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zu sichern. Schließlich bräuchte man einen handlungsfähigen Staat für die Phasen, in denen die Unternehmen keine guten technologischen Verbesserungen als Investitions- und somit Aufschwungsgrundlage vorfinden. Unabhängig von meinen Überlegungen kann es natürlich auch ganz andere Einflüsse geben.

Fundamentale Kritik an den eigenen Theorien wird ausgelassen

In jedem Fall müssten die ökonomischen Institute und die Staaten als Hauptnachfrager der volkswirtschaftlichen Studien anfangen, die gängigen Theorien auch im Hinblick auf den jetzt einsetzenden Abschwung in Frage zu stellen. Es gab schon zuvor mehr als genug Gründe, die gängigen VWL-Theorien, insbesondere die neoklassischen, als ungültig anzusehen und Druck auf die Wirtschaftswissenschaften auszuüben (zum Beispiel die Niedriginflation und geringen Investitionen trotz andauernder Niedrigzinsen, die schwache Produktivitätsentwicklung in westlichen Staaten, die Wirtschaftskrisen in den Austäritätsländern, die guten Entwicklungen der Länder, die sich in den letzten Jahrzehnten nicht den neoliberalen Ansätzen des IWF untergeordnet haben, die Wirkungslosigkeit von Steuersenkungen und Niedriglöhnen auf die Konjunktur im Binnenmarkt, etc). Doch mit dem angeblichen Grund der “Unsicherheiten” steigert sich die Willkür in großen Teilen der Volkswirtschaftslehre auf ein neues Höchstmaß. Niemand scheint mehr danach zu fragen, ob es noch einen anderen Grund zu geben scheint. Niemand kann genau sagen, welches Ausmaß solche Unsicherheiten haben. Warum gibt man unter den Ökonomen dann nicht einfach zu, dass man vor allem selbst unsicher und damit de facto ahnungslos ist? Dann würde man nämlich endlich mal anfangen, sich zu hinterfragen.

An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass man bei komplexen und abstrakten Wissensbereichen wie der Volkswirtschaftslehre darauf angewiesen ist, sich immer wieder selbst zu hinterfragen. Schließlich gibt es keine einfache Möglichkeit für den Menschen, durch seine körperlichen Sinne einen Beweis für die Gültigkeit einer Theorie zu erbringen. Eine Theorie über das große Ganze ist leider nicht wie ein technisches Produkt, das uns durch seine anwendbare und visuell betrachtbare Technik den Beweis für sein Funktionieren liefert. Es bleiben bei abstrakten Wissenschaften nur Zahlen, Daten und klar nachvollziehbare Zusammenhänge, um der Wahrheit möglichst nahe zu kommen. Man muss davon ausgehen, dass man bei seinen Überlegungen Fehler macht und Faktoren außer Acht lässt. Nur durch ein fortwährendes Infragestellen der bisherigen Theorien kann man gute Fortschritte in einer abstrakten Wissenschaft erzielen. Genau diese Einsicht ist es, die die Volkswirtschaftslehre schon lange braucht. Auch deshalb, um ein schlüssiges Fundament für die Zeit zu liefern, in der die Menschen eine starke gesamtwirtschaftliche Handlungsfähigkeit brauchen, um die wirtschaftlichen Prozesse ökologisch nachhaltig zu gestalten, ohne dabei wirtschaftliche Verwerfungen großen Ausmaßes in Kauf nehmen zu müssen.