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No 464

“[Ulrich Schneider:] Ein Erwachsener in Grundsicherung bekommt für einen Tag fünf Euro für Lebensmittel, Schulkinder 3,50 Euro. Das heißt, die Politik hat von vornherein darauf spekuliert, dass hier Tafeln einspringen und Kinder in der Schule essen können. Jetzt sind die Lebensmittelpreise gestiegen, bei den frischen Nahrungsmitteln um zehn Prozent. Milchpreise werden auch um acht beziehungsweise neun Prozent angehoben. Dazu kommen zusätzliche Ausgaben für einen Mund-Nasen-Schutz oder Desinfektionsmittel. Für eine Stoffmaske werden schnell 10 Euro fällig, ein Liter Desinfektionsmittel kostet nach unseren Recherchen derzeit 27 oder 30 Euro. Im Regelsatz sind aber für den gesamten Bereich der Gesundheitspflege für einen Erwachsenen nur 16 Euro im Monat vorgesehen, für ein Kind 10 Euro. […]
[Interviewer:] Der Paritätische fordert in einer aktuellen Kampagne unter dem Motto #100EuroMehrSofort eine Erhöhung der staatlichen Unterstützung für alle, die auf existenzsichernde Sozialleistungen angewiesen sind. Das wird von der Bundesregierung bisher abgelehnt, auch mit Blick auf die Kosten: Bei sieben Millionen Grundsicherungsbezieher*innen entspräche eine Erhöhung um 100 Euro pro Monat in Summe 700 Millionen Euro. Das sind über fünf Milliarden Euro bis Jahresende.
[Ulrich Schneider:] Wenn ich mir anschaue, welche Summen derzeit ausgegeben werden, ist das Kostenargument nicht nachvollziehbar. Die vergangenen Regierungsjahrzehnte waren davon geprägt, dass man armen Menschen nichts gönnt. Das hat sich in der Pandemie nicht geändert. Es wird – zu Recht – an alle gedacht, an kleine Selbstständige, den Mittelstand, die Gastronomie, nur für die Armen hat man offensichtlich einfach nichts übrig. Vielleicht hat die Politik Angst, den Fokus auf diese Gruppe zu lenken, weil dann eine Bedarfsdiskussion über den Regelsatz entsteht, der dieses Jahr noch neu berechnet werden muss. Man weiß, wie brisant das wird und will diesen Deckel nicht öffnen.”1

(Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands – >>In der Corona-Krise wird aus Armut Existenzangst<< – Ulrich Schneider im Interview, Der Paritätische Gesamtverband, 11.5.2020)

  1. Anm. JJ: Und hier der Aufruf des Paritätischen, unterzeichnet von zahlreichen gemeinnützigen Verbänden und Gewerkschaften: “100 Euro mehr, sofort: Solidarisch für sozialen Zusammenhalt und gegen die Krise”. Ein Antrag der Grünen im Bundestag sah coronabedingt eine Erhöhung des Erwachsenenregelsatzes von 100 Euro, sowie einen Zuschlag für Kinder und Jugendliche von 60 Euro, vor. Er wurde am 14.5. mit den Stimmen von CDU/CSU, AfD und auch SPD abgelehnt. Eine Schande für das, was eigentlich der Hauptbehälter der Sozialdemokratie hierzulande sein soll. Ob beim bisherigen Sanktionsregime, das erst durch das Verfassungsgericht entschärft und der Würde des Menschen näher gebracht werden musste oder bei der damaligen Regelsatzberechnung, bei der man ALG-II Bezieher*innen auch noch Schnittblumen, Imbissbesuche etc. aus der Berechnung strich, beim ALG-II und der Grundsicherung geht es weiterhin darum, den Armen im Lande das Restrisiko auf ein angstfreies Leben aus dem untersten Haltenetz des Sozialstaates zu extrahieren. (Weitere Anmerkung: Bei der Darstellung des Abstimmungsergebnisses haben die beiden Regierungsfraktionen plus AfD mit “ja” gestimmt, was bedeutet, dass sie der ablehnenden Empfehlung aus dem Sozialausschuss – in dem natürlich CDU/CSU und SPD die Mehrheit haben – zustimmten, womit der Antrag der Grünen, unterstützt von der LINKEN und unter Enthaltung der FDP also gescheitert ist.) Hier auch noch der wiederholte Verweis auf die Rüge des Prüfausschusses zum UN-Sozialpakt gegenüber Deutschland in Sachen Grundsicherung aus dem Jahr 2018. []

Jascha Jaworski

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