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No 527

“Es gibt jedoch eine weitere Episode in ihrer Karriere, die nicht nur die nächste Regierung, sondern womöglich ganze Generationen belasten wird: ihre Sozialpolitik. In einem der wohlhabendsten Länder der Erde, das der Legende nach immer wohlhabender geworden ist, müssen immer mehr Personen in Armut leben, allen voran Kinder und alte Menschen. […]
Laut dem Paritätischen Wohlfahrtsverband werden rund 2,8 Millionen Minderjährige in Deutschland trotz sozialpolitischer Reformen als arm eingestuft, über die letzten zehn Jahre ist die Zahl armer Kinder überdurchschnittlich gestiegen. Nur zur Einordnung dieser ohnehin schon viel zu großen Zahl: insgesamt sind etwa 13 Millionen Menschen minderjährig, das bedeutet, in Deutschland lebt fast jedes vierte Kind oder Jugendlicher in Armut. […]
Noch gefährdeter sind nur Rentnerinnen und Rentner. Nach den Zahlen des Verbandes ist die Armutsquote seit 2006 um sage und schreibe 66 Prozent gestiegen. Während – und ich weiß, ich wiederhole mich hier – man zugleich stolz darauf ist, dass die Wirtschaft zunehmend wächst. Selbst Arbeit schützt nicht vor Armut. Ein Drittel der Personen, die in Armut leben, ist erwerbstätig, das andere Drittel in Rente. Nur knapp acht Prozent aller Armen im erwerbsfähigen Alter sind arbeitslos.
Dabei existieren mindestens drei Faktoren, die den Gegensatz zwischen Arm und Reich verschärfen – und die in den letzten sechzehn Jahren als alternativlose Normalität kultiviert wurden: Hartz IV, die Unmöglichkeit, Vermögen anzusparen, sowie die Mär von der Chancengleichheit. […]
Was die hiesige Armut anbelangt, waren die Merkel-Jahre von einer pragmatischen Gleichgültigkeit geprägt. Bei echtem Interesse an sozialer Mobilität hätte man den Hartz-Zombie nicht fast zwei Jahrzehnte künstlich am Leben gehalten. Und angesichts des überdurchschnittlich neoliberalen und klientelpolitischen Wahlprogramms der Union sieht es für die kommenden Jahre gruselig aus.”

(Samira El Ouassil, Autorin und Schauspielerin – Ein Armutszeugnis für Angela Merkel [1], Spiegel.de, 29.7.2021)