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No 565

“Ein Staat, welcher sich auf das Selbstverteidigungsrecht beruft, muss – ungeachtet eines gewissen sicherheitspolitischen Einschätzungsspielraums – bestimmte Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, welche den Tatbestand des Selbstverteidigungsrechts begründen. Dazu gehört, dass ein bewaffneter Angriff gegenwärtig stattfindet, noch andauert oder unmittelbar bevorsteht. An die dem Staat obliegende substantiierte Darlegung sind, um Missbrauch vorzubeugen, umso höhere Anforderungen zu stellen, als es sich nicht um ein >>klassisches<< zwischenstaatliches Angriffsszenario handelt, sondern um eine (potentielle) grenzüberschreitende terroristische Bedrohungslage. Dieser Darlegungs- und Beweispflicht hinsichtlich einer akuten Selbstverteidigungslage ist die Türkei (bislang) jedoch nicht hinreichend nachgekommen. Ähnlich wie vor der Operation >>Olivenzweig<< im Jahre 2018 ist auch im Vorfeld der Operation >>Friedensquelle<< in den Medien nichts über singuläre grenzüberschreitende Vorfälle, welche die Intensitätsschwelle zu einem >>bewaffneten Angriff<< im Sinne des Art. 51 VN-Charta erreichen – bloße >>Grenzscharmützel<<, sogenannte >>measures short of war<<, reichen dazu nicht aus – berichtet geworden. […]
Zwar wird in der Völkerrechtswissenschaft die Frage diskutiert, ob sich auch einzelne punktuelle Übergriffe und Grenzverletzungen, die für sich betrachtet die Schwelle zu Art. 51 VN-Charta noch nicht erreichen, zu einer >>Angriffsserie<< kumulieren können (>>Nadelstichtaktik<<, accumulation of events-Doktrin). Doch zeigt sich die Staatenpraxis hinsichtlich der Frage eines >>kumulierten Angriffs<< im Rahmen des Art. 51 VN-Charta doch eher zurückhaltend und weitgehend uneinheitlich. […] Ebenso wenig existiert ein generelles unbeschränktes >>Dauerselbstverteidigungsrecht.<<
Im Ergebnis lässt sich selbst bei großzügiger Auslegung des Selbstverteidigungsrechts eine akute Selbstverteidigungslage im Sinne des Art. 51 VN-Charta zugunsten der Türkei nicht erkennen.”1

(Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags – Völkerrechtliche Aspekte der türkischen Militäroperation >>Friedensquelle<< in Nordsyrien, Deutscher Bundestag, 17.10.2019)

  1. Anm. JJ: Diese Beurteilung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags dürfte sich ebenso auf die aktuellen Kriegseinsätze der Türkei im Nordirak übertragen lassen, die von den Hauptmedien wahlweise ausgeblendet oder beschönigt werden: “Die Türkei hat eine Offensive auf Stellungen und Munitionsdepots der Kurdischen Arbeiterpartei PKK im Nordirak begonnen. Doch richten sich die Angriffe ebenso gegen die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien. Offenbar eine konzertierte Aktion im Schatten des Ukraine-Krieges. Wieder einmal sollen kurdische Bestrebungen unterdrückt werden, einer Autonomie, wenn nicht dem eigenen Staat näherzutreten.” (“Affront und Aggression”, der Freitag, 21.4.2022). Und immer wieder: Das Völkerrecht wird vom Westen ebenso leider nur dann herangezogen, wenn es nicht gerade den eigenen Interessen widerspricht. Das NATO-Mitglied Türkei wird als geopolitischer “Partner” gebraucht, sie muss zu den Guten gehören, daher heißt es: Augen zu und durch. Eklig instrumentell. []

Jascha Jaworski

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