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No 609

“1989 ist eine Ordnung zerbrochen, die man korrekter als „Pax atomica“ bezeichnet hat, ohne dass eine neue Friedensordnung an ihre Stelle trat. Diese zu schaffen, wäre die Aufgabe der Stunde gewesen. Aber die visionäre Phantasie Europas und des Westens in der Wendezeit reichte nicht aus, um sich das haltbare Konzept einer stabilen europäischen Friedensordnung auszudenken, das allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion einen Platz verlässlicher Sicherheit und Zukunftshoffnungen anzubieten vermocht hätte.
Zwei Gründe sind dafür entscheidend. Beide haben mit alten europäischen Irrtümern zu tun: Zum einen wurde der umfassende wirtschaftliche und politisch Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 einseitig als triumphaler Sieg des Westens im Systemkonflikt zwischen Ost und West interpretiert, der damit endgültig die historische Niederlage des Ostens besiegelte. Dieser Hang, sich zum Sieger zu erklären, ist eine alte westliche Hybris und seit jeher Grund für viele Demütigungen, die das ungleiche Verhältnis zum Osten prägen.
Die Unfähigkeit, nach so umfassenden Umbrüchen andere gleichberechtigte Lösungen zu suchen, hat in dieser fatalen Überheblichkeit ihre Hauptursache. Vor allem aber wurde so das ungeheure und einzigartige Verdienst der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow mit einer verblüffenden Ignoranz als gerngesehenes Geschenk der Geschichte eingeordnet: Die große Vorleistung des Gewaltverzichts in der Reaktion auf das Freiheitsbestreben der Völker des Ostblocks galt als nahezu selbstverständlich. […]
Es ist ein fataler Irrtum, zu meinen, durch den Widerstand gegen die anderen imperialen Mächte gewinne der eigene Nationalismus so etwas wie eine historische Unschuld. Das ist Selbstbetrug und einer der folgenschwersten europäischen Irrtümer. Er verführt auch heute noch viele junge Demokratien dazu, sich nur als Opfer fremder Mächte zu sehen und die eigene Gewaltgeschichte, die eigenen Gewaltphantasien für berechtigt zu halten.”1 [1]

(Antje Vollmer, Pädagogin, Publizistin und von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags – Antje Vollmers Vermächtnis einer Pazifistin: >>Was ich noch zu sagen hätte<<, Berliner Zeitung, 23.2.2023)

  1. Anm. JJ: Antje Vollmer wirft ihren Blick auf die vergangenen Jahrzehnte und arbeitet mit ruhigen und nachdenklichen Worten heraus, was den Frieden von europäischem Boden leider auf absehbare Zeit verhindern wird. Zu hoffen bleibt, dass es in Anbetracht nuklearer Eskalationspotentiale überhaupt noch eine Zukunft geben wird, für die man aus der Vergangenheit lernen könnte. Das mag einmal mehr dramatisch klingen, die Geschichte jedoch zeigt, dass derartige Szenarien im atomaren Zeitalter keine schwarzen Schwäne sind. Hier möchte ich noch auf den Telepolis-Artikel von Klaus-Dieter Kolenda aus dem November ’22 hinweisen, der seinen Beitrag dazu zu leisten versucht, reale und schreckliche Gefahren nicht weiter kollektiv zu verdrängen: “Ukraine-Krieg: Einsatz von Atomwaffen wieder möglich” [2] [ [3]]