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No 613

“Wenn man sich einmal alle Probleme der Privatisierung an einem Fallbeispiel vor Augen führen möchte, muss man sich nur die Geschichte der Bahn anschauen. So ziemlich alle Klischees über die Zerstörung der öffentlichen Daseinsvorsorge lassen sich hier finden: Profitorientierung, Wettbewerb, Entlassungen. Nachdem die Deutsche Bundesbahn und die Deutsche Reichsbahn der DDR nach der Wiedervereinigung zusammengelegt wurden, verwandelte man die Bahn in eine Aktiengesellschaft, mit dem Bund als alleinigem Aktionär. Nur der Börsengang wurde abgewendet. […]
Da sich das Geschäft der Bahn – beziehungsweise die Geschäfte der 600 Verbundunternehmen, die wir »Bahn« nennen – als Aktiengesellschaft rechnen musste, wurden seit den 1990er Jahren 5.400 »unwirtschaftliche« Streckenkilometer stillgelegt. Das sind satte 16 Prozent der Schienenstrecke in ganz Deutschland. Das Angebot wurde weder günstiger noch größer und das Netz verwahrloste. Denn aufgrund des Rendite-Zwangs wurden Sanierungen vernachlässigt. Das hat dazu geführt, dass heute nur jede fünfte Bahn mängelfrei ist und sich Baumaßnahmen häufen, die sich über Jahrzehnte angestaut haben. […]
Gefährlich wird es, wenn trotz maroder Technik zu viel Verantwortung auf zu wenige Beschäftigte übertragen wird, die dieser Verantwortung mangels Entscheidungsgewalt im Unternehmen und begrenzten Kapazitäten schlichtweg nicht gerecht werden können. Der Bund hat mit der Profitorientierung der Bahn eine künstliche Verknappung der Finanzen verschuldet, während die wirklich knappe Ressource, menschliche Arbeitskraft, vollkommen überstrapaziert wird.
Die Beschäftigten sind einem Schichtsystem ausgesetzt, das einen Dienstbeginn zu jeder Tages- und Nachtzeit erfordert. Sechs oder mehr Tage am Stück zu arbeiten, gehört dabei zur Norm. Hinzu kommen Schichten von bis zu zwölf Stunden, auch an Wochenenden und Feiertagen. Angesichts dieser Bedingungen könnte man meinen, dass zumindest etwas Planungssicherheit gewährleistet wird, indem man langfristige und verbindliche Dienstpläne festlegt – dem ist aber nicht so. […]
Eine echte Klimawende muss die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht nur einbinden, sie wird erst durch sie möglich. Die Deutsche Bahn ist der Schlüssel zur Verkehrswende und ihre Beschäftigten sind ihre kostbarste Ressource. Es wird Zeit, dass sie auch so behandelt werden.”

(Atdhe Zymberi, Autor bei Jacobin – Warum die Bahn-Beschäftigten unsere Solidarität brauchen [1], Jacobin, 24.3.2023)