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No 620

“>>Wie realistisch bilden die Medien die Welt ab?<< ist eine der Kernfragen der Medienwissenschaften und auch eine Frage, die sich wohl jeder Zuschauer oder Leser irgendwann einmal gestellt hat. Die vorliegende Langzeitstudie, die u.a. die fünfzehnminütige Hauptausgabe der wichtigsten deutschsprachigen Nachrichtensendung, der Tagesschau, in den Jahren 2007 bis 2016 (sowie zum Vergleich 1996 und als Ergänzungen 2017–2019) ausgewertet hat (also insgesamt ca. 5.100 Sendungen bzw. etwa 1.275 Stunden), zeigt, dass die Berichterstattung geografisch sehr unausgewogen ist (Abb. 1). So hat die >>20:00 Uhr<<-Tagesschau, die aktuell von ca. 10 Mio. Menschen verfolgt wird, zwischen 2007 und 2016 22.213 Berichte ausgestrahlt, in denen Deutschland erwähnt wurde. Ein Staat wie Tansania mit mittlerweile über 55 Mio. Einwohnern, wurde in dieser Zeit in nur 12 Berichten erwähnt, die Republik Madagaskar, die aktuell etwa 25. Mio. Einwohner hat, sogar in nur 3. Noch deutlicher fällt die Differenz bei den Topthemen (Schlagzeilen) aus: Nur selten schaffen es Länder in Lateinamerika, Subsahara-Afrika oder Südasien in die Topnachrichten des Tages (Abb. 2).
[…] Die unausgewogene Berichterstattung kann teilweise höchst dramatische Formen annehmen. Auf die bis heute anhaltende Hungersnot in Ostafrika und der Tschadseeregion, von der am Ende des Jahres 2017 fast 37 Mio. Menschen betroffen waren, entfielen in der Hauptausgabe der Tagesschau von den insgesamt ca. 3.160 ausgestrahlten Berichten (ohne Sport) nur 11 Beiträge. Diese hatten eine Gesamtdauer von ca. 20 Minuten (Abb. 6). Mit der weltweit größten jemals gemessenen Cholera-Epidemie, die sich im Jemen ausbreitete, beschäftigte sich die Tagesschau im Jahr 2017 sogar in lediglich etwa 16 von insgesamt ca. 5.475 Sendeminuten. Beiden Katastrophen widmete die Tagesschau-Hauptsendung nur äußerst geringe Anteile ihrer Gesamtsendezeit (Abb. 7).
Ähnlich äußerst unverhältnismäßig in der Berichterstattung sah es bereits 2011 aus, als am Horn von Afrika ca. 11 Mio. Menschen vom Hungertod bedroht waren und infolgedessen über eine Viertel Million Menschen, darunter über 130.000 Kinder unter fünf Jahren, starben. Trotz der verzweifelten Lage in den betroffenen Gebieten wie in Somalia, die der damalige UN-Flüchtlingskommissar António Guterres (geb. 1949) als >>worst humanitarian disaster in the world<< bezeichnete, wurden Staaten wie Äthiopien, Eritrea, Somalia oder Kenia in keiner einzigen Topnachricht der Tagesschau erwähnt (Abb. 8/9).”

(Ladislaus Ludescher, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt – Vergessene Welten und blinde Flecken: Die mediale Vernachlässigung des Globalen Südens [1], publiziert bei heiBOOKS, Universitätsbibliothek Heidelberg, 2020)