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Wir bräuchten einen Homeshopping Kanal für Politisierung

Manche Entwicklungen sind so unverschämt, dass man Metaphern bemühen muss, um die Gewalt der abstrakten Verhältnisse durch das Nadelöhr eines Satzes zu pressen. Ich biete folgende an: Vor unseren Türen lassen sich selbstgefällige Könige mit ihren Vasallen zelebrieren, schicken ihre Raubritter durch die Ländereien und gebieten, die verhärmten Untertanen immer größerer Zahl in düstere Kerker zu werfen, doch wir fahren darin fort, der Hofnarren so hübsch purpurne Schellenkappen zu bewundern.[1]

Wäre die öffentliche Aufmerksamkeit vergleichbar mit den Wahrnehmungsleistungen des Einzelnen, so handelte es sich bei diesem Einzelnen um einen einäugigen Seelenblinden mit selektivem Ausfall für Wirtschaftslogik, politischer Amnesie, dafür jedoch geradezu infantiler Suggestibilität. Ich kann nur hoffen, dass die Menschen hierzulande nicht halb so mittelalterlich gesinnt urteilen, wie die Forenkommentare unter tagesschau.de, die sarrazin´sche Auflagenstärke oder die fehlplatzierte Händepatscherei im Günther Jauch Talk es einen Glauben machen.

Machen wir uns nichts vor, der Klassenkampf von oben gegen unten[2], der sich aktuell besonders im südlichen Teil des doch eigentlich durch die Aufklärung und turbokapitalistische Weltkriegserfahrungen gereiften Europas beobachten lässt, ist nicht neu, er hat nur eine andere Cover-Story erhalten. Heutzutage geht es nicht mehr um den von Gottes Gnaden eingesetzten absolutistischen Herrscher, dem es bedingungslos zu dienen gilt, weil hiermit ein unfehlbarer Wille die Menschen leitet. Gleichwohl, der Unfehlbarkeitsglaube ist geblieben, jedoch handelt es sich nun um die Unfehlbarkeit des Marktes (noch immer), die Unfehlbarkeit der wirtschaftlichen Theorien[3] und somit die Unfehlbarkeit dessen, was eigentlich plumpe Interessenslage ist, den Abgelenkten und anderweitig Beschäftigten jedoch als „wirtschaftliche Vernunft“, „Effizienz“, „Sachzwang“, „Alternativlosigkeit“ oder gar nüchterne Logik verkauft wird. Viele Menschen merken nachwievor scheinbar nicht, wie hochgradig normativ und somit menschengemacht, sowie partikularinteressensgeleitet die Schablonen sind, mit denen ihre Zukunft gestaltet werden soll. Und wenn sie es denn einmal merken, so scheint ihre Aufmerksamkeit doch gleich wieder andernorts vonnöten zu sein, etwa weil irgendeine Politikerin ihren Dienstwagen auf private Kilometer geschickt hat oder weil ein Promi sich zum zweiten Mal die Lippen hat aufspritzen lassen, obwohl doch erst eine Brustvergrößerung anstand. Dass die kostbare und knappe Ressource Aufmerksamkeit hier medial gesteuert auf jene Bereiche gelenkt wird, in denen es weder etwas zu lernen noch etwas für das eigene Nahumfeld Relevantes gibt, wird von manch Ertappten gern mit Referenz auf die vollkommene Relativität dessen, was wichtig ist, abzuwehren versucht. Wichtigkeit liege im Auge des Betrachters, schallt es dann entgegen. Nur schade, dass dieser Betrachter es ist, der sich heute schon und später noch darüber beschweren wird, wie er doch für Finanzmarktexzesse in Haftung genommen wird, wie seine Arbeit sich zunehmend verdichtet, sein Lohn stagniert, die Gebühren steigen, das kommunale Schwimmbad geschlossen wird, man seinen Sohn zum Dauerpraktikanten abstempelt, die Altersarmut sich ihm selbst ankündigt usw. usf., kurz: wie seine Perspektive, als jene eines Bürgers im privilegiertesten Teil der Erde, an Rosigkeit geschwind verliert, obwohl er doch alles richtig gemacht zu haben glaubt.

Wirklich alles?! Hier sollten wir nicht müde werden, unseren Mitmenschen vor Augen zu halten, dass sich ihr Leben in einem System ereignet, ob sie es nun wollen oder nicht. Und dass dieses System wieder einmal großen Veränderungen unterworfen wird, von denen sie nicht annehmen sollten, dass es unter der Zielvorgabe ihres eigenen Besten, also – im Falle all jener von ihnen, die zur Bevölkerungsmehrheit gehören – zum Wohle der Allgemeinheit sich ereignet. Wer dieser Vorstellung anhängt, möge sich fragen, warum sogar im scheinbaren Eurozonengewinnerland[4] sowohl die private wie auch die öffentliche Armut weiter steigen[5] und die insolvente Zukunft bereits begonnen hat. Der einstmals Rheinische Kapitalismus, mit seiner Massenkaufkraftsteigerung, seinem Chancenwachstum, dem Versprechen des besseren Lebens für die nächste Generation, dem Versprechen auf ein Dasein in gesellschaftlicher Teilhabe existiert nicht mehr. Er hat sich transformiert[6] in ein System, in dem Löhne als Kosten betrachtet werden, die es zu minimieren gilt, in dem die Unternehmen nicht der Allgemeinheit zu dienen haben, sondern in dem sie einen profitablen Standort durch die Willfährigkeit der ängstlichen Mehrheit garantiert bekommen. Das Kapital als „scheues Reh“ droht mit der Standortverlagerung, sollten wir, die wir sozial verankert und wenig mobil sind, nicht seinem kindischen – wenngleich Jahrhunderte alten – Willen entsprechen. Steuern und Abgaben werden nicht mehr verstanden als Mechanismus der allgemeinen Daseinsfürsorge, des Ausgleichs, der wohlbedachten Aufwendung, um individuelle Risiken zu mildern und Menschen zu befähigen, sondern als Faktor, den es im Standortwettbewerb zu „optimieren“ gilt.

Die Sätze hier sind nur Wiederholungen dessen, was schon unzählige Male geschrieben, gesagt und gebrüllt wurde, sie scheinen jedoch noch nicht im Bewusstsein der betroffenen Mehrheiten angekommen zu sein. Darum lasst uns nicht müde werden, sie auch weiterhin zu wiederholen! Solange, bis selbst der konservativsten Großmutter oder dem in apolitischer Selbstillusion lebenden Karrieristen bewusst geworden ist, dass wir eben nicht in ideologiefreien Zeiten, in der bloßen Sachverwaltung des einzig Möglichen leben. Zu den Utopisten gehören nicht diejenigen, die lautstark auf die täglichen Kollektivverbrechen hinweisen und eine Welt der Konzerne ablehnen, in der selbst alten Marktwirtschaftlern sich die Haare sträuben dürften in Anbetracht oligopoler Vermachtung. Alle Kinderstubenmoral droht eines Tages aufgebraucht zu sein und dem verdeckten Antihumanismus folgt ein offenkundiger, in dem die Menschen ganz unverblümt zugeben, dass es ihnen nur noch um das schnelle Auto, die Führungsposition, das privilegierte Leben geht, auch wenn es auf dem Elend Milliarden anderer und der Gleichgültigkeit gegenüber dem Nachbarn beruht. Zu den Utopisten gehören hingegen jene, die meinen, dass es hierzu nicht kommen könnte. Sie sind es doch, die unter Geschichtsausblendung in die Zukunft blicken. Sie sind es auch, die technischen Fortschritt mit moralischem verwechseln und an eine zivilisatorische Konservierung glauben, die voraussetzungslos ist. Wie weit sich die Zivilisation bereits auf dem Rückzug befindet, können wir etwa in Griechenland erblicken, einem ehemals modernen Land, in dem Eltern nun ihre Kinder aus Armut in Heime geben, Angehörige der gestrigen Mittelschicht ihren Lebensbedarf zunehmend aus Mülltonnen decken und eine Bevölkerung auf die gesundheitliche Katastrophe zusteuert. Doch fragt die Öffentlichkeit hierzulande danach, weshalb dieser Zivilisationsbruch nötig ist? Wohin die Kürzungen führen sollen? Worin makroökonomisch der Sinn liegt, wenn man Bevölkerungen verarmen lässt?[7] Fragen sie, wer eigentlich über wessen Verhältnisse gelebt hat und wie dies möglich war?

Nein! Die Mehrheit der Utopisten delegiert die Gestaltung der Welt weiterhin an provinzielle Figuren, Schuhputzer der an Egomanie und Individualitis Erkrankten, die mit Nationalchauvinismus und Stammtischkleingeisterei sich selbst in den Mittelpunkt und ihre Schäfchen ins finanziell Trockene schieben.

Doch genug der Schimpferei. Lasst uns eine Republik von Vertreterinnen und Vertretern werden! Wenn Werbung der einzige Eingabemodus ist, den die Menschen noch verstehen können, so lasst uns denn werben, nicht für Vorwerk-Staubsauger, elektrische Saftpressen oder kalorienarmen Schmelzkäse, sondern für ein Gemeinwesen, in dem alle wieder beginnen, über politische Werte und Entscheidungen zu streiten und zwar täglich. Wo kann man mehr gesellschaftliche Expertise entwickeln als in der sozialen Kontroverse? Und was würde die Systemkonservierer schon mehr erschüttern als eine interessierte und ungläubige Öffentlichkeit? Wohl nur die Erkenntnis, dass die Zivilgesellschaft sich nicht mehr in den politischen Schlaf hineinöden lässt. Empörung wird v.a. dann entstehen, wenn die Menschen begreifen, was die Machthabenden gerne hätten, das die Menschen zu begreifen glauben. Für diese Überzeugung zweiter Ordnung braucht es jedoch mehr politisches Interesse, für das zu werben, es sich lohnt.

 


[1] Wer etwas Hilfestellung für die Metapher will, der/die denke an europäische Regierungschefs und Wirtschaftslobbyisten, die sich mit Technokraten aus Investmentbanken als Euroretter aufspielen, indem sie den Bevölkerungsmehrheiten durch Kürzungs- und Rezessionsprogramme ihre Zukunft verdunkeln und nun auch noch zu Schleuderpreisen das wenige öffentliche Eigentum in Privathand veruntreuen, während jene Menschen, die solidarisch zu protestieren hätten, da sie zeitverschoben im selben Boot sitzen, sich etwa damit begnügen, den Glückskeksweisheiten eines Eckart von Hirschhausen zu lauschen.

[2] Zitat Warren Buffet (US-amerikanischer Milliardär): „It’s class warfare, my class is winning, but they shouldn’t be.“, CNN Interview, Mai 2005.

[3] Bei denen es sich im Falle der hegemonialen Neoklassik um die degeneriertesten Formen von Theorien handelt, die die moderne „Wissenschaft“ hervorgebracht hat, siehe etwa hier, hier, hier oder hier. Annahmenwust und Mathematisierung ersetzen eben keine empirische Angemessenheit und methodische Sauberkeit.

[4] Zwar eine Momentaufnahme, doch Deutschland hat in dem Sinne vorläufig „gewonnen“ – und man kann von gewinnen sprechen, da es sich ja um den, zwar quatschigen, jedoch propagierten Wettbewerb der Nationen handelt – dass Deutschland als Volkswirtschaft durch seine Exportüberschüsse (zur Begründung und Entwicklung siehe hier, ab Folie 3) viele hundert Mrd. Euro an Forderungen gegenüber dem Ausland aufgetürmt hat und nun die Bedingungen für die Exportdefizit- und Hilfskreditländer maßgeblich mitbestimmt. Und es hat in dem Sinne gewonnen, dass die Exportüberschüsse unter dem schwachen Euro bislang noch anhalten, sowie deutsche Staatsanleihen durch ausländische Kapitalflucht zu so niedrigen Zinsen gehandelt werden wie noch nie. Wohlgemerkt: Deutschland hat gewonnen (vorläufig), nicht seine Arbeitnehmer_innen hingegen, denn selbige durften den Vorteil des Exportsektors durch Lohnverzicht und Arbeitsprekarisierung bezahlen. Zudem sind nicht sie die Halter der Auslandsforderungen, sondern die Kapitaleigner der profitierenden Unternehmen. Erstere werden es hingegen sein, die über weiteren Sozialabbau in die Pflicht genommen werden, sollten die nun notwendigen Hilfskredite an die südeuropäischen Staatshaushalte (die größtenteils direkt an Banken weitergeleitet werden) nicht mehr rückzahlbar sein, wenn die Wirtschaftssysteme dort unter den Spardiktaten erst völlig in den Kollaps gestürzt wurden.

[5] Zur Entwicklung der privaten Armut in Deutschland siehe z.B. Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, PDF-Seite 13, zur öffentlichen Armut siehe z.B. DIW-Wochenbericht Nr. 50 2010.

[6] Als Antikapitalist sollte man sagen: „zwangsweise transformiert“

[7] Für Alternativrezepte zur plörrigen Konsenssauce von Leitmedien und neoliberaler Bundestagsmehrheit siehe etwa Alexis Tsipras: http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2012/oct/08/greek-message-for-angela-merkel oder Heiner Flassbeck: http://publik.verdi.de/2012/ausgabe-05/gewerkschaft/brennpunkt/seite-3/A0

Jascha Jaworski

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