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Arbeitsagentur diffamiert Inge Hannemann

Auch wir hatten über Inge Hannemann berichtet, die als sozial denkende Person ihre Erfahrungen als Mitarbeiterin der Agentur für Arbeit nutzte, um über die Missstände des Hartz-Systems zu berichten, siehe z.B. hier.

Nachdem sie zunächst von ihrem Arbeitgeber freigestellt wurde, hat die Bundesagentur für Arbeit nun noch eine ihre Person diffamierende Pressemitteilung nachgeschoben, in der ihr eine selbstdarstellerische (“Darüberhinaus gefällt sie sich in der Rolle der Märtyrerin”) und gefährliche Motivlage (“Inge Hannemann gefährdet tausende Mitarbeiter der Jobcenter”) unterstellt wird.

Vielleicht mögen sich ja noch mehr Menschen kritisch in die Debatte einbringen. Ich hatte folgende Mail an die Bundesagentur für Arbeit abgesetzt:

Sehr geehrte Damen und Herren,

zu Ihrer Pressemitteilung vom 14.6.2013, was Frau Inge Hannemann anbelangt (http://www.arbeitsagentur.de/nn_27044/zentraler-Content/Pressemeldungen/2013/Presse-13-035.html) möchte ich zunächst feststellen, dass die Fomulierungen, die Sie wählen aus meiner Sicht heraus einer Behörde nicht angemessen sind.

Zitat: “Frau Hannemann missbraucht ihre angeblichen Insider-Ansichten, um sich in der Öffentlichkeit als einsame Kämpferin für Entrechtete darzustellen”. Hier unterstellen Sie Frau Hannemann eine bestimmte psychologische Motivlage, für die es keine faktische Basis geben kann, da es sich um nicht beobachtbare Konstrukte handelt. Dies kommt mir als Bürger für eine Behörde doch eher ungewöhnlich vor, legt aber wiederum Vermutungen über die Motivlage der Verantwortlichen der Presseerklärung nahe. Sachlichkeit ist hingegen etwas anderes.

Zudem möchte ich auf eine Erwiderung der Plattform gegen-hartz.de verweisen: http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/hartz-iv-bundesagentur-diffarmiert-inge-hannemann-9001471.php

Außerdem ermuntere ich zu einer kritischen Auseinandersetzung zu den Hintergründen der Hartz-Reform: http://www.uni-due.de/edit/spindler/ghostwriter_spindler_2012.pdf

Auch mir ist dereinst der unpflegliche Umgang mancher AgenturmitarbeiterInnen mit den “Kunden” aufgefallen. Hierbei räume ich weniger den MitarbeiterInnen die Verantwortlichkeit ein, doch wäre ein systemisches Denken sicherlich angebracht, das Probleme nicht “unter den Teppich kehrt”. Das Hartz-System hat unbestreitbar zu einer Verknappung sozialer Ressourcen bei den Schwächsten einer Gesellschaft geführt und viele Sorgen erzeugt. Die Not drückt sich hierbei bei allen direkt Betroffenen aus, zu denen durchaus auch überforderte MitarbeiterInnen zählen. Eine kritische Aufarbeitung der konzeptuellen Umsetzung, sowie ihrer Vereinbarkeit mit den Grundwerten des Sozialstaats wäre hier jedoch wichtig und sollte gesellschaftlich bestärkt werden.

Mit freundlichem Gruß,

Jascha Jaworski

Nachtrag Johannes Stremme:

Da sich die Bundesagentur in ihrer Attacke so kenntnisreich und selbstsicher über das Hartz-System äußert, habe ich aber immer noch viele Fragen:

  • Warum sind die Verbraucherpreise (2005-2012) in Deutschland um 12,9% gestiegen, der Hartz IV-Regelsatz aber nur um 8,4% gestiegen, wenn der Regelsatz genau das Existenzminimum definiert?
  • Wie sollen Stromkosten aus dem Regelsatz bestritten werden und eine menschenunwürdig Stromsperre (Abschaltung) verhindert werden, wenn die Strompreise (seit 2005) um 44% angestiegen sind?

  • Warum kann das Jobcenter den Regelsatz bis zu 100% (mit Wegfall der Krankenversicherung) kürzen, obwohl das Bundesverfassungsgericht ein „unverfügbares soziokulturelles Existenzminimum“ (ohne Gegenleistung) vorschreibt?

  • Und kann man glauben, dass über die Hälfte dieser verfassungswidrigen Sanktionen durch Sozialgerichte zurückgenommen werden, weil sie unrechtmäßig waren, wenn Jobcentermitarbeiter_innen nicht durch ihre Vorgesetzten zu „Sanktionsstrenge“ animiert würden? (Droht den Mitarbeiter_innen die Entlassung bei zu vielen unrechtmäßigen Sanktionen?)
  • Warum werden im manchen Jobcenter zu 80% Leiharbeitsstellen angeboten und Jobsuchende zu Leiharbeit gezwungen, von dessen Lohn man z.T. nicht mal in Vollzeit vernünftig leben kann, wenn die Arbeitsagentur sich um das Wohl ihrer „Kunden“ kümmert?
  • Warum subventioniert die Arbeitsagentur den Niedriglohnsektor, indem sie 1,3 Mio. Jobsuchende dazu zwingt Niedriglohnjobs anzunehmen und den Lohn dann auf das Existenzminimum aufstockt (mit einem Gesamtvolumen von 70 Mrd. Euro seit 2005), obwohl laut Produktivitäts-/Gewinnentwicklung die Unternehmen zum Zahlen höherer Löhne fähig wären?

Für die „Unzufriedenheiten“ der „Kunden“ ist laut Arbeitsagentur also nicht die Gesetzgebung der rot-grünen Bundesregierung und ihrer Nachfolger oder die Organisationsstruktur der Jobcenter a la McKinsey mit Geschäftsführer (dessen Spar- bzw. „Erfolgspotential“ außer der Reduzierung von Jobcenterbleistiften nur in der Kürzung oder Verweigerung von Leistungen bestehen kann) verantwortlich, sondern Inge Hannemann. Die Bundesagentur wird persönlich gegenüber Frau Hannemann, um offensichtlich eine Drohkulisse für die Jobcentermitarbeiter_innen aufzubauen und nicht wie vorgegebem, um diese in Schutz zu nehmen.

Inge Hannemann hat eine Gegendarstellung zur Pressemitteilung veröffentlicht.

Telepolis zum Thema.

Jascha Jaworski

2 Kommentare

  1. Die wenigen Fragen von Johannes Stremme an die Bundesagentur verdeutlichen in großer Klarheit die
    zutiefst unsoziale Konstruktion des Hartz IV -Systems.Ihm gelingt es in wenigen Sätzen, die abstrusen “sozialstaatlichen” Rechtfertigungsversuche für diese zynische Mindestversorgung aufzudecken.

    Andreas Meyer

  2. Die von der Bundesregierung gewollte Stigmatisierung der Arbeitslosen wird stillschweigend hingenommen, weil sich die Betroffenen schämen, arbeitslos zu sein. Dieses System läuft nun schon seit Jahren so. Keiner traut sich, auf die Straße zu gehen, weil er sich wehrlos fühlt und von denen, die noch Arbeit haben, verachtend als “Sozialschmarotzer” beschimpft wird. Die Ausbeutungsidee vieler Zeitarbeitsfirmen wird immer größere Formen annehmen, da diese vom Staat belohnt werden. Es werden jetzt sogar öffentlich an Litfaßsäulen ehrenamtliche Mitarbeiter für immer mehr notwendig gewordene Tafeln gesucht, um die Arbeitslosen mit Lebensmitteln zu versorgen. Wohin soll das alles führen? Wir haben hier in diesem Land sehr kompetente Sozialwissenschaftler, die lieber in die Politik gehen sollten, weil diese noch ein reales soziales Verständnis haben. Ich danke Frau Hannemann für die Courage und für ihren Einsatz, Missstände aufzudecken und etwas verändern zu wollen. Sie wird es schaffen, sie hat viele Leute, die hinter ihr stehen.

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