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Kritik zum Plusminus Beitrag “In der Schuldenfalle: Wo Europa wackelt”

Zu diesem [1] Beitrag habe ich soeben folgenden Text an das Plusminus-Team geschickt:

Sehr geehrtes Plusminus-Team,

zu Ihrem Beitrag vom 23.8. „In der Schuldenfalle: Wo Europa wackelt“ möchte ich anmerken, dass zwar löblich hervorzuheben ist, dass sie die Verschuldung der Staaten nicht singulär betrachtet haben, sondern zugleich die Leistungsbilanz beleuchteten, da selbige eine relevante Größe zur Bewertung der finanziellen Situation von Volkswirtschaften und dem darüber geschalteten Staatssektor ist. Zudem haben Sie nicht, wie vielerorts üblich, Schulden generell verteufelt, sondern sind darauf eingegangen, dass Verschuldung unter dem Gesichtspunkt der Investition durchaus positive Auswirkungen haben kann, indem reale Strukturen für die Zukunft aufgebaut werden.

Eine deutliche ideologische Schlagseite wies der Beitrag dann jedoch in der Darstellung der Verantwortlichkeit für die Leistungsbilanzdefizite vieler europäischer Staaten wie etwa Portugal oder Frankreich auf. Zum Schuldenmachen gehören stets zwei, nämlich Schuldner und Gläubiger. Deutschland konnte seine langjährigen Leistungsbilanzüberschüsse (allein 2000 bis 2010 kumuliert: 1055 Mrd. Euro[1] [2]) nur dadurch erzielen, dass die anderen Staaten Leistungsbilanzdefizite eingefahren haben. Dieser Umstand erklärt sich jedoch primär nicht daraus, dass Deutschland so perfekte Waren- und Dienstleistungen aufweist, sondern daraus, dass die deutschen Lohnstückkosten aufgrund der stagnierenden Löhne[2] [3] im europäischen Vergleich massiv abgefallen sind[3] [4]. Die deutschen Reallöhne sind im Durchschnitt zwischen 2000 und 2009 um 4,5% gesunken, obwohl in diesem Zeitraum reales Wirtschaftswachstum vorlag. Somit hält sich Deutschland also schon seit Jahren nicht mehr an den Grundsatz produktivitätsgekoppelter Lohnsteigerungen, sondern greift durch seine konkurrenzlos günstigen Preise lieber die Nachfrage anderer Volkswirtschaften ab. Diese Volkswirtschaften müssen sich dann gegenüber Deutschland verschulden. Anstatt sein Wachstum zu einem großen Teil aus Außenhandelsüberschüssen zu erzielen und somit die Verschuldung anderer Volkswirtschaften herbeizuführen, sollte Deutschland also lieber die Inlandsnachfrage stärken, besonders da diese Form des Wachstums dann auch weniger anfällig gegenüber weltwirtschaftlichen Einbrüchen wäre. Laut Statistischem Bundesamt betrug der Außenhandelsüberschuss im Jahr 2010 1,1 Prozentpunkte am BIP-Wachstum von 3,6%, d. h. also, dass beinahe ein Drittel des deutschen Wirtschaftswachstums auf der Verschuldung anderer Volkswirtschaften gegenüber der deutschen beruhte[4] [5]. Da rund 60% seiner Exporte in EU-Länder gehen und selbige mit Sparprogrammen gesegnet wurden, werden aus dieser Richtung in Zukunft also für Deutschland wohl kaum noch Wachstumsimpulse zu erwarten sein.

Der Kulminationspunkt der Einseitigkeit erfolgte dann jedoch am Ende des Beitrags, indem der Bundesfinanzminister eine ganze Salve unterhinterfragter Botschaften in das Publikum entsenden konnte. Nicht nur, dass er die Hauptursache der Finanzkrise in der zu hohen Verschuldung der öffentlichen Haushalte überall auf der Welt sehen möchte und durch diesen Punkt eine der Kausalitätsbedingungen, dass nämlich die Ursache vor der Wirkung aufzutreten hat, vernachlässigt. Oder kam es nicht etwa erst zur Verbriefung fauler Hypothekenkredite (und weiteren „Finanzinnovationen“), die große Banken in Zahlungsschwierigkeiten brachten, welche dann aus ihrer „Systemrelevanz“ heraus von den Staaten durch Garantien und Kapitalhilfen gerettet werden mussten, was wiederum (im Verbund mit Konjunkturprogrammen) die Staaten erst in der Folge in immense Neuverschuldungen getrieben hat? Nicht zuletzt das statistische Bundesamt hat zu dieser Verschuldungsursache Position bezogen[5] [6], auch die EZB hat sich zur Verlagerung von Risiken von den Banken auf die Staaten und damit verbundenen Problemen der öffentlichen Refinanzierung im Zuge der Finanzkrise geäußert[6] [7]. Nun konstatierte der Bundesfinanzminister, dass daraus folge, dass man durch mehr Verschuldung das Problem nicht lösen könne, sondern die Verschuldung zurückführen müsse. Eine zwar richtige Aussage, doch mit einseitiger Deutung, da „Verschuldung zurückführen“ für die Bundesregierung gleichbedeutend mit „Sparen“ ist, wie wir an der politischen Agitation der Bundeskanzlerin in Bezug auf die rettungsbeschirmten Staaten sehen können. Auch hierzulande würde der Finanzminister die Verschuldung nicht etwa durch eine Erhöhung der Einnahmenseite durch Steuern anstreben, denn Steuererhöhungen wären in einer Zeit „wo wir eine nicht einfache wirtschaftliche Entwicklung haben, ganz falsch“. Nun ist diese Aussage nicht zwangsläufig falsch, doch wiederum recht einseitig, da unter Steuererhöhungen gern Steuererhöhungen für die Breite der Bevölkerung verstanden werden, wie dies etwa bei der Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19% zum Jahr 2007 beschlossen durch CDU und SPD erfolgte. Steuererhöhungen hingegen für die finanzstärksten Personen, die ohnehin den größten Teil ihres Einkommens auf die Finanzmärkte tragen, würden nicht zwangsläufig die Wirtschaft dämpfen, sondern eher die Spekulation. Nicht zuletzt waren es hierzulande auch Steuergeschenke an finanziell privilegierte Personen (etwa Aussetzung der Vermögenssteuer, Senkung des Spitzensteuersatzes, Einführung der Abgeltungssteuer), die den Staat sehr viele Milliarden an Einnahmeausfällen bescherten.

Sie müssen doch einmal gründlich nachdenken: Wenn alle Staaten der Welt verschuldet sind, bei wem sind diese eigentlich verschuldet? Und wenn Deutschland einer der Nettogläubiger gegenüber dem Rest der Welt ist, wer hat das Geld eigentlich auf seinen Konten oder in Finanzmarktfonds, wenn selbst Deutschland hoch verschuldet ist? Als Hinweis möchte ich u. a. auf eine Studie des DIW zur Vermögensverteilung in diesem Lande verweisen[7] [8]. Aber auch die Gegenüberstellung der Entwicklung von Privatvermögen und Staatsverschuldung dürfte sehr aufschlussreich sein[8] [9]. Und wenn Ihnen dies nicht genügt, werfen Sie doch noch einen Blick in den World Wealth Report 2011[9] [10]. Geldvermögen und Schulden sind weltweit betrachtet zwei Seiten derselben Medaille. Die Wirtschaftsakteure Staat, Banken, Privatpersonen, Unternehmen und Ausland können Forderungen immer nur gegeneinander haben und in der Gesamtsumme haben sie ebenso viele Verbindlichkeiten wie Forderungen. Und Ungleichgewichte zwischen diesen Akteuren führen dann trotz realem weltwirtschaftlichen Wachstum dazu, dass wir es mit riesigen Problemen wie jetzt beobachtbar zu tun haben, indem sich nämlich die einen (Staaten) immer weiter gegenüber den anderen (reiche Minderheiten) verschulden. Laden Sie sich doch aber einmal Volkswirte zum Thema ein, die ihnen diese Sachverhalte darlegen können, z. B. Prof. Heiner Flassbeck[10] [11], der schon seit Jahren gegen die europäischen Ungleichgewichte predigt, anstatt immer wieder die gleichen Personen zu Wort kommen zu lassen, die dann die Sendezeit lediglich dazu benutzen, ihre eingeschränkte Sichtweise zu reproduzieren oder mit inhaltsleeren Aussagen wie „…eine solide Finanz- und Wirtschaftspolitik kommt den Menschen unmittelbar zugute…“ oder „…wir müssen mit einem Kurs der Stetigkeit die zu hohe Verschuldung schrittweise zurückführen…“ oder „…das Menschenmögliche tun, um eine stetige und nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen…“. Nehmen Sie sich doch ein Beispiel an Frontal21. Diese Sendung hat am gleichen Tag den Beitrag „Eurokrise – höhere Steuern für Reiche?“ ausgestrahlt und war somit wesentlich näher dran an guten Ideen zur Bekämpfung der weltweiten Schuldendramatik.

Mit freundlichen und hoffnungsvollen Grüßen,

Jascha Jaworski

 


http://www.bundesbank.de/download/volkswirtschaft/zahlungsbilanzstatistik/2011/zahlungsbilanzstatistik072011.pdf [12]

http://www.ilo.org/public/german/region/eurpro/bonn/download/wagereport_german_brief.pdf [13]

http://www.boeckler.de/cps/rde/xbcr/hbs/impuls_2011_06_1.pdf [14]

http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pk/2011/BIP2010/Pressebroschuere__BIP2010,property=file.pdf [15]

http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/2011/02/PD11__069__713,templateId=renderPrint.psml [16]

http://www.ecb.int/pub/pdf/scpwps/ecbwp1127.pdf [17]

http://www.diw.de/documents/publikationen/73/93785/09-4-1.pdf [18]

http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.364647.de/10-50.pdf [19]

http://www.de.capgemini.com/insights/publikationen/world-wealth-report-2011/ [20]

https://springerlink3.metapress.com/content/l5616714585p253l/resource-secured/?target=fulltext.pdf&sid=xdnejpxsnqwmawmwmhjpxjka&sh=www.springerlink.com [21]