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Scotty, mehr Energie auf das kritische Denken!

Liebe Konformistin,

manchmal habe ich den Verdacht, Du würdest meinen, dass wir es in unserem Lande überwiegend mit ideologiefreien Staatenlenkern zu tun hätten. Dass die Aufgabe unserer Regierungen dadurch, dass sie die Spitze einer Demokratie von aufgeklärten – weil mit Internet und Fernsehen ausgestatteten?! – Bürgern bilden und auf die kumulierten Weisheiten von Wissenschaft und Geschichtsschreibung zurückgreifen können, zwangsläufig in bloßer Sachverwaltung bestünde. In diesem Bild wäre Politik dazu da, den Status quo zu erhalten, d. h. Sorge dafür zu tragen, dass wir rund 2 bis 3% Wirtschaftswachstum haben, dass die Staatsschulden sich wieder dem Maastricht-Kriterium annähern, dass BMW seinen neuen 5er entwickeln kann und die Arbeitslosigkeit die 3-Millionen-Grenze nicht übersteigt.

So braucht es dann auch nicht verwundern, wenn politische Debatten sich wenig spannend herausnehmen, wenn sie sich immer wieder um die gleichen Themen drehen und dabei jene Begrifflichkeiten verwenden, die man schon mehr als hundertmal gehört hat. Schuldenbremse, Aufschwung, private Vorsorge, Arbeitslosigkeit, Export, Finanzmarkt, Euro usw., allzu vertraute Begriffe, bei denen es nichts weiter zu verstehen gibt als jenes, was die Protagonisten von SPD, CDU, FDP und Grünen durch ihre gewohnten Satzkonstellationen zum Ausdruck bringen, oder man in öffentlich-rechtlichen Talkrunden und auflagenstarken Zeitungen präsentiert bekommt. So zeichnet sich diese „Realpolitik“ also nicht nur durch ihre Leichtverständlichkeit aus, da sie in den relevantesten Punkten vertraut und plausibel ist, sondern auch durch ihre naturgegebene Eintönigkeit.

Politik ist eben Sachverwaltung und wir leben in ideologiefreien Zeiten!

Die SPD will den Mindestlohn, die CDU nicht. Die FDP hat mit ihren Steuersenkungsideen etwas über die Stränge geschlagen, wird aber wieder zur Vernunft kommen. Und die Grünen werden endlich in der Breite gewählt, denn Umwelt ist ja auch wichtig. Nur die Linke redet häufiger ein wenig komisch, aber da braucht man nicht hinhören, das sagen schließlich auch die anderen Parteien und die Medien.

So wird es denn also weitergehen, bis endlich auch wieder europaweit Ruhe und relative Einigkeit herrschen. Steinbrück wird Kanzler, Trittin Außenminister; der Atomausstieg wird umgesetzt; die Finanzmärkte beruhigen sich; die Arbeitslosigkeit sinkt; die Aufstände in der Welt kehren auf jenes verträgliche Niveau zurück, auf dem sie zuvor waren; deutsche Exporte sorgen weiterhin für Wirtschaftswachstum; am Sonntag wird im Park gegrillt und am Mittwoch kommt Tante Gerda zu Besuch…

Ja, mal im Ernst, liebe Konformistin: Glaubst Du das denn wirklich? Sind wir gar am Ende der Geschichte angelangt?

Im ausklingenden 19. Jh. glaubten viele Physiker etwa, sie seien am Ende der physikalischen Theoriebildung angelangt und nun ginge es nur noch um die Bestimmung naturkonstantlicher Nachkommastellen. Was erbrachte jedoch die Folgezeit? Relativitätstheorie und Quantenmechanik, Revolutionen des wissenschaftlichen Weltbildes. Vielleicht, liebe Konformistin, ist die Eintönigkeit der als seriös gekennzeichneten politischen Ideen („Sparen, Wettbewerb fördern, Lohnnebenkosten senken“[1]), die nun seit Jahren in TV und Zeitungen präsentiert werden, ja auch nicht zwangsläufig als Anzeichen dafür zu verstehen, dass die Geschichte hierzulande zu ihrem nüchternen Ende gefunden hat. Und vielleicht ist diese Eintönigkeit auch eine künstlich produzierte, hinter der starke Interessen stecken, was zu erkennen jedoch nicht ganz einfach ist, weil der Raum der Denkmöglichkeiten bereits durch Dauerbotschaften[2] und Ablenkungsprogramme[3] verengt wurde, so dass jedwede Ideen außerhalb der Paravons des vorgegebenen Systems stets wie die verschrobenen Gedanken von Außenseitern und Weltfremden oder eben Nicht-„Realpolitikern“ wirken.

Du und ich, liebe Konformistin, sind geistig überaus endliche Wesen, die stets nur mit einem winzigen Teil der Weltideen herumlaufen können. Deshalb verlassen wir uns bei Themen, die nicht gerade unser Steckenpferd sind, wie dies z. B. bei wirtschaftlichen Zusammenhängen der Fall sein mag, gern darauf, dass das soziale und mediale Umfeld uns gerade jenen Grundideenschatz vermitteln, der am relevantesten für das eigene Wohl und das Wohl der anderen ist. Dem liegt ein natürliches Gemeinschaftsvertrauen unsererseits zugrunde, das uns die Welt bequemer macht.

Unschön ist nun aber, dass sich hierdurch auch solche Denkweisen einander angleichen können, die falsche oder schädliche Ideen transportieren. Es genügt, wenn diese gut platziert werden und eventuelle Abweichler wenig Raum erhalten[4]. Was die Mehrheit dann sagt, wird für bare Münze genommen, weil die Mehrheit so überwältigend groß ist. Die Aufdeckung von Vorurteilen und schädlichen Ideen in der Sphäre dessen, was als Öffentlichkeit bezeichnet wird, wird auf diese Weise recht unwahrscheinlich und erreicht das Bewusstsein eben dieser Öffentlichkeit u. U. erst durch die Geschichtsschreibung, also im historischen Rückblick. So haben Du und ich sicherlich schon mehr als einmal die Nase über die Leichtgläubigen vergangener Epochen gerümpft.

Doch wir dürfen das, schließlich leben wir ja in kritischen und aufgeklärten Zeiten! Oder?!

Wenn ja, woher kommt diese Aufgeklärtheit eigentlich? Ist sie etwa die notwendige Folge der Aufklärung, also jener geschichtlichen Epoche, auf deren Gedankengut sich die Vereinigten Staaten gründeten?

Dann muss ich hier nicht weit ausholen, um die Zerbrechlichkeit aufklärerischer Bestrebungen vor Augen zu führen, es genügen Dir hoffentlich Stichworte wie Tea-Party[5] oder Kreationismus[6].

Oder kommt die Aufgeklärtheit daher, dass die Leitmedien uns hierzulande – im Gegensatz zu Berlusconis Medien[7] in Italien oder Murdochs Medien[8] weltweit – darüber informieren, wie die Welt wirklich ist und nicht darüber, wie die Medieneigentümer, d. h. überwiegend die Milliardäre und Milliardärinnen[9] sie uns sehen lassen wollen?

Wenn Du hier zustimmst, bitte ich Dich: Überlege Dir noch einmal, woher Du Deine Meinung über die Medien, besonders die Leitmedien bezogen hast, vielleicht gar aus den Leitmedien selbst? Und bedenke: Wer absolute Wahrheit sucht, muss gläubig werden, wem diese Möglichkeit hingegen zu mittelalterlich erscheint und wer lieber seine Vernunft bemüht, muss zwar auf absolute Wahrheit verzichten, kann jedoch aus besseren und schlechteren Argumenten wählen und zudem die Quellen, aus denen er seine Ansichten schöpft, diversifizieren und vergleichen, um so zumindest zu einer guten Schätzung dessen zu gelangen, was sich dereinst nicht als groteske Lüge enttarnen wird[10].

 


[10] Für mediale Verirrungen der letzten Woche siehe: http://www.nachdenkseiten.de/?p=10621

Jascha Jaworski

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