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Die bedauerliche Lücke zwischen neoliberaler Hegemonie und linkem Wunsch – ein Erfahrungsbericht

Am vergangenen Mittwoch (27.11.) waren wir auf einer Veranstaltung der GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) in Kiel. Der Titel der sog. Podiumsdiskussion lautete „Einheit oder Spaltung – Wohin steuert Europa?“. Auf dem Podium geladen waren Wilhelm Knelangen (Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung), Hilmar Schmiedl-Neuburg (Philosoph an der Uni Kiel), Joachim Scheide (Leiter des Prognose-Zentrums des Instituts für Weltwirtschaft Kiel), sowie Lucas Zeise, der einigen etwa aus der jungeWelt bekannt sein dürfte, ein Wirtschaftsjournalist mit marxistischem Hintergrund.

Inhaltlich kam zum Thema EU/Europa und aktuelle Krise nicht viel Neues auf. Was jedoch die Wechselwirkung und Atmosphäre durch die Positionen der Podiumsteilnehmer betrifft, so wurde einem durchaus Anlass zum Nachdenken gegeben, besonders wenn man die Krisenentwicklung in Europa als brandgefährlich beurteilt und danach strebt, dass sich Lösungskonzepte aus einem sich hoffentlich formierenden sozialfortschrittlichen Lager durchsetzen (so unwahrscheinlich dies momentan auch erscheint). Veranstaltungen wie die hier genannte könnten meiner Meinung nach gerade zu einem solchen Formationsprozess innerhalb des sozialfortschrittlichen Lagers gehören. Daher will ich mich um einen kleinen Abriss der Ereignisse bemühen, um dabei einige Eindrücke und Schlussfolgerungen zu schildern.

Nachdem der Moderator, Mitglied der GEW und Doktorand der Hans-Böckler-Stiftung, mit einigen Worten über die momentane Lage in EU-Europa einleitete – wobei er hier u.a. zu der nicht nachvollziehbaren Aussage kam, dass Deutschland beinahe Vollbeschäftigung habe (ohne dies ironisch zu umrahmen) – stellte er die Podiumsteilnehmer vor, von denen der Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung, Herr Knelangen, mit seinem Blick auf die Eurokrise eröffnete. Für einen Politikwissenschaftler verständlich fokussierte er hierbei auf die demokratischen Defizite innerhalb der EU, die besonders im Zuge des Krisenregimes zum Ausdruck kommen, wenn im Gegenzug für Kreditgelder Eurozonenländern Austeritätsprogramme auferlegt werden, die die Situation in diesen Ländern nur noch verschlechtern. Er benannte die neoliberalen Maßnahmen und stellte die Verbindung mit der andauernden Deflation und Rezession besonders in den südlichen Ländern dar. Er sprach über die Art und Weise, wie Politik zunehmend an den Parlamenten vorbei betrieben wird und wandte sich zugleich gegen eine Renationalisierung. Aus diesen Gründen benannte er auch das politische Streiten als wichtiges Element zukünftiger Entwicklung. Zudem sah er die soziale Marktwirtschaft – dessen Konzeption er nicht genauer ausführte – nur auf der europäischen Ebene erhaltbar. Den Weg zu einem demokratischeren Europa sah er in der Stärkung des EU-Parlaments.

Insgesamt wurden hier also durchaus sozialfortschrittliche Positionen benannt, wenngleich sie nicht gerade in einer involviert-konkreten Form vorgetragen wurden. Es wurde hierbei zudem nicht ganz deutlich, wer welche Interessen haben könnte, und warum diese entparlamentarisierende Politik verfolgt wird. Auch wurde keine Hypothese darüber aufgestellt, weshalb sich die Bevölkerungen nicht stärker gegen diese schädliche Politik positionieren. Meiner Meinung nach wirklich ungeschickt war es, dass der Redner seine Position als jene eines Politikwissenschaftlers betonte, um hierbei gesondert zu erwähnen, dass ihn wirtschaftliche Aspekte der Krise somit überforderten. Die genaue Formulierung ist mir entfallen, doch wirkte es an dieser Stelle auf mich wie eine vorbeugende Rechtfertigung seiner eigenen Überlegungen gegenüber den erwarteten konträren Einschätzungen des neben ihm sitzenden Wirtschaftsprofessors (und somit „Experten“) Joachim Scheide.

Dieser tat sodann auch, was man von ihm als Mitglied des Instituts für Weltwirtschaft, dessen Leiter dereinst der führende Neoliberale der Bundesrepublik, Herbert Giersch1 war, erwarten konnte: Herr (Prof. Dr.) Scheide intonierte das Thema „Freiheit“, um auf diese Weise sogleich dem Publikum den positiv korsettierenden Interpretationsrahmen für alles nachfolgend Gesagte vorzugeben. Er sprach davon, wie gegen die Freiheit verstoßen wurde, indem Banken gerettet wurden, Eigentümer nicht in Haftung genommen wurden, wie die EZB „mit Steuergeldern spielt“, indem sie Staatsanleihen kaufe und zum Kauf selbiger motiviere2, wie man gegen die Maastricht-Kriterien verstieß, er sprach davon, dass die EZB ihre Unabhängigkeit verloren habe, dass die Griechen selber entscheiden müssten, wie sie wirtschaften wollen, dass man Schluss machen müsse mit der Rettungspolitik und dass jedes Land natürlich selbst Schuld sei an seinen wirtschaftlichen Problemen. Die Positionen, die Herr Scheide referierte, hätte der Marktextremist Friedrich August von Hayek nicht reiner formulieren können.

Dass solche Positionen, die nur das Wirken des Marktes kennen und dabei alle wirtschaftlichen Akteure als isolierte Einzelatome betrachten, solche Positionen, die jedwede Form von Ausgleichs- und Notmechanismen ablehnen, noch ernst genommen vertreten werden, besonders in Zeiten des totalen Marktversagens (Stichwort: Finanzmarktkrise) und unter Bedingungen einer Währungsunion, die ja die Atome (Wirtschaftsakteure) – die niemals Atome waren – quasi in einer Kristallstruktur aneinander gekoppelt hat, kann man fast nur noch als skurril bezeichnen. Es ist jedoch eine gefährliche Skurrilität, da viele der einzelnen Elemente, die Herr Scheide benannt hat, vielen Menschen natürlich Angst machen („Wenn es schief geht, müssen >>wir<< zahlen“) oder sie anderweitig bewegen und somit die nötige Aufmerksamkeit für die anderen Aussagen des Redners einwarben, die dann allerdings nicht mehr waren als empirieblinde Ideologie. Auch mögen manche seiner Aussagen irgendwie liberal (sogar im allgemeineren Sinne) geklungen haben, wenn er z.B. sagt, dass man die Griechen selbst entscheiden lassen müsse, wie sie wirtschaften wollen. Was Herr Scheide den Menschen dabei jedoch verschwieg, war, dass sich diese gönnerhafte Pseudofreiheit innerhalb eines – ohne entsprechende politische Eingriffe – geradezu gnadenlosen Konkurrenzsystems ereignet, das Vertreter wie er zugleich leidenschaftlich befürworten. Gemeinsamer Binnenmarkt und gemeinsame Währung bedeuten schließlich, dass totale Konkurrenz zwischen den Wirtschaftsräumen der beteiligten Länder herrscht, bei der es keine Dämpfungsmechanismen (z.B. Zölle, hohe Transfers, Wechselkursänderungen) gibt. Da Herr Scheide die in der späteren Diskussion aufgeworfene Lohnkoordination zudem als „Planwirtschaft“ diffamierte, wird deutlich, was ihm vorschwebt: Er will die reinen Marktkräfte walten lassen, keiner hilft keinem, es gibt keine Ausgleichsmechanismen und keinerlei Koordination. Auf diese Weise würden also wirtschaftliche Akteure nur wählen können zwischen Verelendung (durch Massenpleiten, komplette Zahlungsunfähigkeit, explodierende Arbeitslosigkeit und (in der Konsequenz) mangelnde medizinische Versorgung, Hunger und Kälte) oder sie müssten sich den profitgetriebenen Marktkräften fügen und es würde ein transnationaler Wettbewerb von Lohn- und Sozialsenkung, Arbeitsrechteabbau etc. ohne Halteseile losbrechen, was wiederum auch eindeutig auf Massenarmut hinausläuft. Ja, dieses Bild ist weitgehend das, was wir bereits jetzt in einigen Ländern der Eurozone beobachten können3, doch Herr Scheide würde hier offenbar gern den Turbo einlegen. Der an diesen Stellen ausbleibende Protest deutete leider daraufhin, dass weite Teile des Publikums den Extremismus dieser Position nicht erfasst hatten, auch wurde er ihnen leider nachfolgend von keinem der auf dem Podium vertretenen Gäste erläutert.

In Anbetracht des enormen menschlichen Leids, das von Finanzkrise, Eurokrise und Austeritätspolitik ausgeht und in Anbetracht des gewerkschaftlichen Umfeldes, in dem diese scharfkantigen und in der Konsequenz brutalen Statements von Herrn Scheide präsentiert wurden, kann man als teilnehmender Beobachter schon sehr beunruhigt sein. Die Normativität auch auf Gewerkschaftsveranstaltungen scheint meinem Eindruck nach Marktextremismus viel zu leicht gewähren zu lassen.4

Herr Schmiedl-Neuburg als nächster Vortragender referierte über den Freiheitsbegriff in Liberalismus und Neoliberalismus und erweiterte hierdurch erfreulicherweise den Interpretationsrahmen der Scheide’schen Aussagen um eine gesellschaftlich hoch relevante philosophische Perspektive. Er ging auf den negativen Freiheitsbegriff im Liberalismus ein, der Freiheit auf eine Freiheit „des Dürfens“ reduziere, wie er es ausdrückte, demgegenüber der positive Freiheitsbegriff, wie er etwa von Karl Marx oder Martha Nussbaum vertreten werde, eine Freiheit „des Könnens“ beinhalte, bei der es also um die Voraussetzungen eines selbstbestimmten Lebens ginge. Des Weiteren führte der Vortragende aus, wie der Neoliberalismus nun negative Freiheit noch weiter auf ökonomische Aspekte, nämlich die Rechte des Wirtschaftsbürgers (i.S. Vertragsfreiheit, Koalitionsfreiheit, Preisfreiheit), reduziere, dabei jedoch u.a. nicht berücksichtige, ob ein Mensch überhaupt am Wirtschaftsgeschehen teilnehmen könne. Erfreulicherweise versäumte der Vortragende es hierbei auch nicht, immer wieder kleine Verweise auf die Ausführungen von Herrn Scheide zu tätigen, um die Relevanz der unterschiedlichen Freiheitsbegriffe etwas zu konkretisieren. Der Beitrag von Herrn Schmiedl-Neuburg konnte auf diese Weise zumindest von philosophischer Seite aus Zweifel an den starken (und in diesem Lichte arg verkürzten) gesellschaftsbezogenen Annahmen von Herrn Scheide wecken.

Lucas Zeise als letzter Vortragender weitete die Diskussion um die ökonomisch-historische Perspektive, indem er auf die Eurokrise als Teil einer Weltwirtschaftskrise, wie sie mit jener von 1929 vergleichbar sei, einging und dabei den Neoliberalismus unter Thatcher in Erinnerung rief, um zu verdeutlichten, wie dieser explizit den Profit über Lohn- und Staatsabgabensenkung steigern wollte. Er stellte die Beziehung zur Eurokrise v.a. durch die Finanzmarktblase her, die zunächst die „Überproduktionskrise“ durch künstliche Nachfrage überdeckte und sprach vom Maastricht-Vertrag als jener Stunde, in der der Neoliberalismus in der EU festgeschrieben wurde. Auch verwies er darauf, wie im Zuge der Finanzmarkt- und anschließenden Eurokrise die hohe Privatverschuldung zum großen Teil in Staatsverschuldung überführt wurde. Dann ging er noch auf die Konkurrenz zwischen Staaten innerhalb der EU ein, beleuchtete hierbei jedoch allein das Steuer- und Sozialdumping. So erscheint es als logisch, dass er als Lösungsmöglichkeit v.a. öffentliche Transfers zwischen den Ländern der EU benannte.5 Überaus seltsam war an dieser Stelle meiner Meinung nach, dass er zwar die Lohnsenkung im weltweiten Maßstab ansprach, jedoch nicht gesondert auf die lohnbezogenen Ereignisse innerhalb der Eurozone einging. Maskenfall-Leser_innen dürften informiert darüber sein, welch einmaliges Lohndumping Deutschland gerade seit Euroeintritt 1999 eingeleitet hat, indem den Arbeitnehmer_innen hierzulande über viele Jahre der Reallohn nicht etwa gemäß Produktivitätszuwachs (plus Zielinflation) gesteigert wurde, sondern es gar zu einer Reallohnsenkung kam. Somit konnten die deutschen Unternehmen allein von 1999 bis 2012 ca. 1350 Mrd. Euro Lohn „einsparen“. Dies nicht anzusprechen ist meiner Meinung nach fatal, da der Lohn die Schlüsselgröße im verrückten Wettbewerb zwischen den Nationen innerhalb der Eurozone ist. Er ist nachweislich die zentrale Bestimmungsgröße für das Preisniveau einer Volkswirtschaft und hat so andere Länder in der Eurozone in eine teilweise immense Auslandsverschuldung getrieben, was sich wiederum im Zuge der Finanzmarktkrise in staatliche Zahlungsschwierigkeiten übersetzte, die die Krisenmaßnahmen samt Austeritätsprogrammen auf den Plan riefen und so die Volkswirtschaften in die Deflation schickten.6 Zudem darf man nicht vergessen, dass Löhne nicht nur den bei weitem wichtigsten Preisfaktor und zugleich das Nachfragefundament bilden, sondern dass außerdem die umfassenden Sozialversicherungssysteme auf ihnen basieren (Rente, Krankenversicherung etc.). Auf meine Nachfrage hin gestand Herr Zeise auch ein, dass die deutsche Lohnentwicklung ein Problem gewesen sei, relativierte dies jedoch mit einem meiner Meinung nach fehlplatzierten Argument, indem er bemerkte, dass Deutschland stets eine Lohnentwicklung gehabt habe, die unterhalb jener zahlreicher anderer Länder lag. Fehlplatziert ist dieses Argument, da derartige Divergenzen damals ja gerade über eine aufwertende DM ausgeglichen wurden, und somit erst die Währungsunion das entscheidende Zwangskorsett schuf, das die Katastrophe bahnte.7

 

Was ich an dieser Stelle nun besonders hervorheben möchte, ist ein mir überaus seltsam erscheinender Umstand:

Obwohl ich mich auf einer Gewerkschaftsveranstaltung – noch dazu einer Gewerkschaft des Dienstleistungssektors, deren Mitglieder besonders unter der Lohnzurückhaltung zu leiden hatten – befand, und obwohl ein seinem eigenen Bekunden nach marxistischer Vertreter auf dem Podium saß, wurde das Thema „deutsche Lohnentwicklung“, die schließlich auch im historischen Vergleich einmalig ist8, von keinem der Vortragenden gesondert angesprochen. Diejenigen im Publikum wiederum, die sich meinem Wissen nach als links politisiert verstanden, waren zwar beherzt dabei, eine solidarische Politik innerhalb Europas einzufordern, doch diese wurde allein unter der Perspektive von Steuern und Transfers diskutiert, indem der o.g. Vorschlag einer umfassenden Transferunion von Herrn Zeise zustimmend aufgegriffen wurde.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich habe grundsätzlich überhaupt nichts dagegen, wenn der Gedanke des Gemeinwesens auf die EU (oder gar weltweit) hin ausgedehnt wird9, nicht zuletzt um die zerstörerische Ungleichheit und Armut zu beseitigen, doch wundert es mich über alle Maßen, dass fast kurzschlussartig die Ebene der Sekundärverteilung und somit staatlicher Transfers über Ländergrenzen hinweg als mittelfristige Lösung betrachtet wird, besonders auf einer Gewerkschaftsveranstaltung, wo es doch ein zentraler gesellschaftlicher Auftrag der Gewerkschaften ist, unabhängig vom Staat angemessene Löhne durchzusetzen. Strategisch gesehen komme ich zudem zu der Schlussfolgerung, dass die Rechten und Neoliberalen leider an dieser Stelle gewonnen hätten. Staatliche und nationale Grenzen sind bedauerlicherweise tief in den Köpfen verankert, ein Umstand, der sich nicht von heute auf morgen verändern lässt, so sehr man sich dies als links denkender und fühlender Mensch auch wünschen mag. Eine Linke, die somit nicht Willens ist, die nahe liegenden und für sie strategisch günstigeren Problemursachen aufzugreifen, um entsprechende Mehrheiten zu mobilisieren – die Menschen in Europa würden eine Eindämmung der Ungleichheit und Krisenerscheinungen über den zentralen Lohnmechanismus viel eher akzeptieren, da hier die Mehrheit der abhängig Beschäftigten gegenüber der Minderheit der Kapitaleigner viel besser sichtbar ist, hingegen würde ein umfassendes System steuerlicher Transfers, bei denen durch die (etablierte) Kategorie „der deutsche Steuerzahler“ das falsche Bewusstsein geschaffen wird, von rechts effektiv genutzt werden – begeht jedoch einen meiner Meinung nach schwerwiegenden Fehler.10

Woran liegt es nun, dass Außenhandel, Wettbewerbsfähigkeit und Lohnentwicklung so findelkindhaft behandelt wurden? Heiner Flassbeck hat meiner Erinnerung nach einmal die Hypothese geäußert, dass weite Teile der Linken selbst an die Erzählung des Arbeitsmarktes als Kartoffelmarkt glauben, dass also auch dort die Überzeugung vorherrsche, dass Lohnsenkung gesamtwirtschaftlich Arbeitsplätze schaffe, wie dies bei einem einzelnen Unternehmen der Fall sein mag, und dass man auch dort implizit davon ausgehe, dass eine Konkurrenz des europäischen Wirtschaftsraums mit China gegeben sei, die auch auf der Lohnebene auszutragen sei. Ich teile die Hypothese, dass dieser Glaube in weiten Teilen auch des linken Spektrums vorherrscht. Zudem musste ich in diversen Kontexten die Erfahrung machen, dass viele Menschen glauben, Konkurrenz finde obligatorisch über den Lohn statt. Eine Überzeugungskette könnte hier wie folgt lauten: Kapitalismus bedeutet Konkurrenzlogik; Konkurrenz erfolgt über Löhne; wir leben im Kapitalismus; daher ist Lohndumping systemimmanent. Trägt man diese Überzeugung mit sich herum, bleibt somit nur die Forderung an den Staat, durch steuerliche Umverteilung hinterher einzugreifen. Dies jedoch ist im europäischen Maßstab meiner Meinung nach aus den oben genannten Gründen des Denkens in nationalen Kategorien vieler Menschen zum Scheitern verurteilt, wenn es um Lösungen für die Eurokrise geht. Ich glaube des Weiteren, dass sich auch viele neoliberale Entscheidungsträger über diesen die ökonomischen Verhältnisse zementierenden Zusammenhang bewusst sind, weshalb sie wenig Anlass zu Zweifeln am eigenen Oberwasser haben.

Ein weiterer merkwürdiger Umstand der Veranstaltung war, dass der Vorschlag von Herrn Zeise, sämtliche Staatsschulden in der EU zu streichen sehr zustimmend aufgegriffen wurde, ohne die möglichen Konsequenzen weiter zu diskutieren. Erneut will ich nicht missverstanden werden: Man kann ja gegen Staatsverschuldung sein, doch sollte man genauer auf die Funktion eingehen, die Staatsschulden eingenommen haben und weiterhin einnehmen (so etwa als notwendiger Gegenpart zu den privaten Ersparnissen, wenn die anderen volkswirtschaftlichen Sektoren sich verweigern). Wenn eine Atmosphäre aufkommt, in der das Publikum nicht auf die mit Schuldenschnitten verbundenen Probleme aufmerksam gemacht wird, in der nicht darüber diskutiert wird, wie als Alternative hierzu eine schrittweise Staatsschuldenrückführung aussehen könnte und wie dabei sicher gestellt werden kann, dass die öffentlichen Schulden nicht nach kurzer Zeit erneut in die Höhe schießen, halte ich dies für wenig sozialfortschrittlich, da Ideen befördert werden, die ein Chaospotential in sich tragen, das wiederum das Wirkfeld für die formierten und ressourcenstarken neoliberalen Kräfte eröffnen würde. Nicht zuletzt Herr Scheide selbst amüsierte sich offenbar an dieser Stelle, als er vor sich hinsprach, wie dies weitere Wirtschaftskrisen auslösen würde.

 

Die Eindrücke und Schlussfolgerungen, die mir nun mit der Nachbetrachtung zur Veranstaltung aufkommen, will ich abschließend kurz zusammenfassen:

1. Wenn ein marktradikaler Vertreter wie Herr Scheide zu einer „Podiumsdiskussion“ der Gewerkschaft eingeladen wird, dabei jedoch das Format der Veranstaltung (einzelne Vorträge der Referenten, ohne wirkliche Diskussion zwischen ihnen), es nicht hergibt, dass seine gefährlichen Positionen demontiert werden (das Publikum durfte nur Fragen stellen, ihm wurde keine Zeit für eigene Kommentare eingeräumt), frage ich mich, was eine sozialfortschrittlich orientierte Organisation wie die GEW für einen Nutzen darin sieht, wenn eben solche Neoliberalen eine zusätzliche Bühne dafür erhalten, ihre Ideen in den Köpfen der Menschen noch weiter zu verankern. Eine Podiumszusammensetzung samt Veranstaltungsformat, das einen wirklichen Streit über die wirtschaftlichen Entwicklungen ermöglicht hätte und so in der Lage wäre, eine Gegenrealität zur neoliberalen Hegemonie zu schaffen, wäre jedenfalls meines Erachtens nach in Anbetracht der einseitigen Krisenpolitik mehr als angebracht. Meinem Eindruck nach kam v.a. durch die anwesenden Attac-Mitglieder zumindest ein gewisser Protest aus dem Publikum, der sich auch in empörten Zwischenrufen bemerkbar machte.

2. Leider kommt mir der Eindruck auf, dass Analysen vieler linker Vertreter vornehmlich solche Ursachen der Krisen- und Ungleichheitsentwicklung benennen, die distaler Natur sind (z.B. Kapitalakkumulation, Neoliberalismus im Allgemeinen). Ich meine damit, dass ich diesen Ursachenanalysen zwar zustimme, jedoch auch proximale Ursachen dringend zu benennen wären, um konkrete Interventionsmöglichkeiten zu eröffnen. Wer hat über welche Mechanismen genau die aktuelle Entwicklung zu verantworten? Welche Gruppen erhalten sie also momentan aufrecht? Welche gesellschaftlichen Gegenkräfte sind momentan wie mobilisierbar? Hiergegen sind die neoliberalen Vertreter, die ihre Konzepte aus der eigenen Hegemonie heraus und somit auch aus dem medialen Mainstream schöpfen können, doch grandios konkret und alltagsverankert in ihren Forderungen. So habe ich die Befürchtung, dass gerade ihren Vorschlägen in weiten Teilen des Publikums eine besondere (zwar schmerzende) „Realitätsnähe“ zugesprochen wird. Gerade diese konstruierte Form von Realität aufgrund bloßer Hegemonie zu entlarven, wäre von den Veranstaltern meiner Meinung nach anzustreben gewesen, zumindest, wenn es der Veranstaltung nicht um die Außendarstellung als eine Art wissenschaftliches Kolloquium ging, sondern um kritische Bildungsarbeit.

3. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich auch von links nicht sonderlich gern mit einer genaueren Analyse des ökonomischen und gesellschaftlichen Systems in concreto auseinandergesetzt wird. Zweifellos ist dies im linken Spektrum viel ausgeprägter als in neoliberalen Kreisen11, in denen schlicht eine Modellwelt auf die Realität (i.S. beobachtbarer Welt) gepresst wird, doch gehört zu einer guten Analyse, dass man sich auch mit einzelnen Entwicklungen genauer auseinandersetzt, wenn sie sich empirisch als überaus relevant darstellen (so etwa die deutsche Lohnentwicklung). Es würde meiner Meinung nach ebenfalls dazu gehören, die Konsequenzen der eigenen Wünsche zu bedenken, um so mögliche Gefahren und Reaktionen der Gegenseite oder Dritter zu antizipieren. Es sollte hier also mehr zwischen einem Ziel (z.B. keine Staatsschulden) und dem Weg zu selbigem (Einnahmeströme, Umschuldungspfad), zwischen Inhalt (z.B. Wertvorstellungen) und Strategie (Verdeutlichung der eigenen Werte, Antizipation von Fehlvorstellungen) unterschieden werden. Zumindest was den verkürzten Freiheitsbegriff im Liberalismus anbelangt, leistete die Veranstaltung hier einige Aufklärungsarbeit.

Die Neoliberalen12 haben derartige Dinge, so denke ich, wesentlich geschickter bedacht. Dabei haben sie es auch noch stets mit einem Heimspiel zu tun, wenn sie nicht gerade in geschlossenen linken Kontexten unterwegs sind, die sich etwa der sanften Manipulation durch die Mainstreammedien verweigern. Somit müssen sie auch kaum fürchten, dass sie mit ihrer Empirieblindheit und ihren unangemessenen Wirtschaftsmodellen als das entlarvt werden, was sie meistens sind: Interessensvertreter im Dienste kleiner Bevölkerungsschichten. Als genau das sollte man als links politisierter Mensch sie jedoch seinen Mitmenschen gegenüber zu erkennen geben, und zwar in meiner Meinung nach klaren, interventionsorientierten und strategisch wachsamen Worten!

 

Wer abschließend noch einen Eindruck davon erhalten möchte, wie relevant der von Deutschland ausgehende und von Frau Merkel aufrecht erhaltene Wettbewerb über den Lohn ist, der auf dem Podium leider weitgehend ausgeblendet wurde, sei auf den jüngsten Beitrag des ZDF Auslandsjournals verwiesen, der verdeutlicht, wie die rechtspopulistische Marine Le Pen in Frankreich hierdurch ein bedrohliches Wählerpotential erhält (Beitrag solange noch abrufbar): “Bretonischer Protest gegen Hollande”

Wer einen raschen Indikator dafür erhalten möchte, was von den ökonomischen Ansätzen eines Herrn (Prof. Dr.) Scheide zu halten ist, sei auf seine Leistung als Leiter des IfW-Prognosezentrums verwiesen: hier, bzw. für die Regressionsanalysekundigen hier. Das Prognosezentrum lag nicht nur falsch, es lag sogar systematisch falsch mit seinen BIP-Prognosen, selbst wenn man das akute Krisenjahr 2009 ausblendet.

 

  1. Herausgegriffen sei hier nur ein exemplarisches Zitat von Giersch: „Dies heißt Privatisierung und Deregulierung und ein Kürzen der Staatsausgaben. Widerstand gegen das Abspecken des Staates auf der Ausgabenseite kommt von der Bürokratie und den Subventionsempfängern. Wahrscheinlich muß daher das Abmagern auf der Steuerseite ansetzen: Steuersenkungen zum Mobilisieren des Diktats der leeren Kassen. Dies läßt allerdings, wie die Erfahrung zeigt, die Staatsdefizite steigen.“, Europas Wirtschaft 1991. Ordnungspolitische Aufgaben in Ost und West, S.17/18 []
  2. Gemeint sind bei Letzterem wohl die langfristigen Refinanzierungsgeschäfte (LTRO), die die EZB gegenüber Geschäftsbanken einging, um auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit dafür zu steigern, dass Staatsanleihen auch der besonders krisenbetroffenen Euroländer gekauft werden, so dass die Zinsen für deren Staatsanleihen sinken. []
  3. Für einen Überblick siehe etwa die Studie der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung: „Humanitarian impacts of the economic crisis in Europe“, 2013. []
  4. Es sei schon vorausgeschickt, dass es nachfolgend noch zu starkem Protest kam, der jedoch nur von kleinen Teilen des Publikums ausging und meinem Erleben nach hauptsächlich durch die mir bekannten anwesenden Attac-Mitglieder getragen wurde. []
  5. Als logisch aus der Analyse heraus, jedoch als bedauerlicherweise zum Scheitern verurteilt, wie unten noch thematisiert wird. []
  6. Der Lohn nimmt diese zentrale Position innerhalb des Rahmens der Währungsunion ein, da preisliche Unterschiede nicht mehr durch Wechselkursanpassungen verändert werden können. Die Rating-Agenturen selbst (so etwa Standard & Poor’s), deren Rating wesentlich für das Zinsniveau von Staatsanleihen sind („sind“ meint hierbei „politisch gemacht wurden“), haben die preisliche Wettbewerbsfähigkeit als entscheidend für die Problemratings gegenüber zahlreichen Eurozonenländern ausgewiesen. []
  7. Wie Herr Zeise auf erneute Nachfrage meinerseits auch bestätigte, ohne sich offenbar weiter mit dem Thema beschäftigen zu wollen. []
  8. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik wurde die Lohnentwicklung hierzulande von der Produktivitätsentwicklung entkoppelt, siehe z.B. die Darstellung auf weitwinkelsubjektiv.com []
  9. Von Humanität wäre ohnehin erst zu sprechen, wenn er für alle Menschen umgesetzt würde und somit der mörderische Mangel in der Welt in Anbetracht der enormen Produktivkräfte beendet würde. []
  10. Die Wirkmächtigkeit als ungerecht erlebter steuerlicher Transfers lässt sich bereits im Kleineren (Regionalismus) beobachten, wie er sich in den Debatten rund um den deutschen Länderfinanzausgleich oder in den auch abgabenmotivierten separatistischen Tendenzen z.B. Kataloniens gegenüber Spanien niederschlägt. Sollte das wirtschaftliche Auseinanderfallen der Eurozone über steuerliche Transfers geregelt werden, wären Summen nötig, die in der Lage wären, die unterschiedliche preisliche Wettbewerbsfähigkeit, ablesbar an den Leistungsbilanzen der Euroländer, auszugleichen. Hierbei sei daran erinnert, dass Deutschland 2013 rund 7% Leistungsbilanzüberschuss ausweist oder anders ausgedrückt: 190 Mrd. Euro. Hinter diesen Zahlen steht die Nachfrage, die im Ausland durch Deutschland abgezogen wird und hierzulande Arbeitsplätze schafft, die anderswo verloren gehen. Ein Umstand, bei dem steuerliche Transfers nachträglich nur verteilen, was anderen an Beschäftigungspotential durch Lohndumping geraubt wurde. []
  11. Besonders da linke Denker_innen reichhaltige gesellschaftliche Theorien geliefert haben, die einen ernsthaften historischen Blick beinhalten. []
  12. Ich habe diese im Text durchgehend als einen Block konstruiert, halte dies allerdings auch für unproblematisch, da weite gesellschaftliche Teile von Ideen erfüllt sind, die insofern neoliberalismuskompatibel sind, als dass sie ernstzunehmenden Protest ausbleiben lassen, und da die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, je weiter sie an der Spitze stehen, m.E.n. zumindest im wirtschaftspolitischen Denken und Handeln überaus homogen werden. []

Jascha Jaworski

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