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100 Jahre Institut für Weltwirtschaft – Teil 1: Die fabelhaften Jahre (Gastbeitrag)

Dr. Thomas Herrmann  (Historiker und Soziologe, sowie Mitglied von attac Kiel) stellt in einem Essay als Gastautor die Geschichte des Instituts für Weltwirtschaft Kiel dar, das in diesem Jahr auf sein hundertjähriges Bestehen zurückblicken kann. Der Essay, der hier in vier Teilen erscheinen wird, verdeutlicht an der historischen Aufstellung, sowie dem erstaunlichen Wandel des Instituts über die Jahrzehnte hinweg zugleich die gesellschaftliche Zeitenwende. Den hier aufgeführten ersten Teil, der sich mit der Gründungsphase auseinandersetzt, fasst Thomas Herrmann unter der Überschrift “Die fabelhaften Jahre” zusammen.

Es gibt keine wissenschaftliche Methode, mittels welcher es möglich wäre, allgemein gültige Direktiven für die Wirtschaftspolitik aufzustellen.”
(Bernhard Harms)

Bernhard Harms, der Gründer des Institutes, wird 1876 in Ostfriesland (Preußen) in eine Kaufmannsfamilie hineingeboren. Nach einer Buchbinderlehre übernimmt er die Redaktion für das „Journal für Buchbinderei“ und studiert gleichzeitig Staatswissenschaften und Volkswirtschaftslehre. Zunächst geht Harms nach Leipzig und hilft beim Aufbau der „Leipziger Finken“, einer damals modernen Studentenorganisation jenseits der schlagenden Verbindungen. 1901 wird er in Tübingen zu Fragen der Geschichte der Buchbinderei im 19. Jahrhundert promoviert und habilitiert sich 1903 mit einer Arbeit über die holländischen Arbeitskammern, einer frühen paritätischen Mitbestimmungsinstitution.

Bernhard Harms verkörpert den Normaltypus eines talentierten jungen Mannes, der außerhalb der preussischen Adelseliten in Militär, Verwaltung, Recht, höheren Schulen und Landwirtschaft im Deutschen Reich aufsteigt. Während der langen Industrialisierung Deutschlands werden die Bürger reicher (mit entsprechend besseren Zugängen des Nachwuchses zu Bildungsaufstiegen) und der Adel ärmer, bzw. die Zahl der ökonomisch handlungsfähigen Adelsfamilien sinkt rapide. Der Reichseinigung folgt dann ein langwährender Rückgang der wirtschaftlichen Leistung (ab 1873 als „Gründerkrach“ verniedlicht). In dieser „Langen Depression“ beginnt das Bürgertum sich selbst zu organisieren und zwar nicht gegen die alten Machteliten, sondern neben diesen. Es  entstehen neuartige Kollektivorganisationen, wie Kammern, Industrieverbände, Institute, Stiftungen und Vereine in großer Zahl. Diese Institutionalisierung von Erwartungen führt dann insgesamt zu einer Neuorganisation der Orientierungsangebote im ganzen Reich und wird Grundlage zukunftsgerichteten Handelns. Zugleich bildet sich ein neuer Modus der Aufgabenteilung zwischen den alten und neuen Eliten heraus, deren herausragendes Merkmal weitgehende Autonomie der jeweiligen Aufgabengebiete ist. Man mischt sich nicht in fremde Sachgebiete ein und diese Differenzierungsform von Erwartungen erfasst nun alle Lebensbereiche. Auch die Arbeiterbewegung organisiert sich und findet Anschlüsse an die allgemeine Entwicklung. Das Deutsche Reich differenziert als einzige Großmacht ein Sozialsystem aus. Die Sozialausgaben im Staatshaushalt sind mit durchschnittlich drei Prozent allerdings extrem gering.

Die Kopula der Aufgabenteilung der Eliten bildet die Nation. Die bürgerliche Revolutionsbewegung fordert 1848 Demokratie und Nation. Die Reichseinigung 1871 bringt die Nation ohne Demokratie. Sogleich koppeln die alten Machteliten den Nationbegriff an ihre Erwartungen des Fortbestehens ihrer privilegierten Machtstellungen und unterminieren so gleich wieder den Nationalstaat. Denn es werden nicht die der wachsenden Komplexität, gegenseitig gewährten Steigerungsmöglichkeiten und vor allem der anspruchsvollen Differenzierungsform angemessenen und deshalb nötigen demokratischen Institutionen ausgebildet, die in der Lage sind Konflikte zu ermöglichen, Streit und Ausbalancierung über Kompromisse politisch zu gestalten und kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen, die auf mehr zielen als den Erhalt privilegierter Machtstellungen. Diese ungenügende Auffaltung von Institutionen demokratischer Entscheidung in der Nation führt zum Ausweichen der Bürger in die Umwelt der Nation und so werden Weltpolitik und Weltwirtschaft ihre Domänen.

1908 wird Bernhard Harms an das Staatswissenschaftliche Seminar der Christian-Albrechts-Universität berufen. Er ist national, sozialliberal und an Weltwirtschaft interessiert. Dieses Thema entdeckt er für die Wissenschaft und betreibt dann energisch den Aufbau eines Institutes für Weltwirtschaft. Dieses soll sich nach Harms Vorstellungen zu einer „umfassenden sozialwirtschaftlichen Bildungsanstalt“ entwickeln. Es geht Harms auch um „Handwerkersöhne an höheren Lehranstalten“, wie der Titel eines Aufsatzes von 1901 zeigt. Des Weiteren schwebt Harms  die damals neuartige Absicht vor, über das Thema Weltwirtschaft eine praktische Wissenschaft zu entwickeln, die auch die Einheit von Forschung und Lehre in der Sozialwissenschaft etablieren soll. Er beabsichtigt die Forschungsergebnisse für wirtschaftliche, politische und (im damaligen Sinne) soziale Zwecke bereit zu stellen und umgekehrt auch Praxiselemente in die Forschung hinein zu nehmen1. Insgesamt handelt sich um ein Riesenprojekt, das mit dem Fokus Weltwirtschaft die „gesamte Sozialwirtschaftslehre“ umfassen soll: theoretische und empirische Wirtschaftswissenschaften, die Finanzwissenschaften, statistische Methoden und die Soziologie.

Zur Verbreitung der Forschungsergebnisse gibt Bernhard Harms bereits seit 1910 die Schriftenreihe „Probleme der Weltwirtschaft“ und seit 1913 die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift „Weltwirtschaftliches Archiv“ heraus. Zur Finanzierung des Vorhabens sucht Bernhard Harms private Finanziers, nachdem Preußen eine Finanzierung des Institutes ablehnt, aber im zweiten Schritt eine private Gründung nicht untersagt. Nach 1911 haben sich 100 Personen und Organisationen von der Idee anstecken lassen, zahlen und die Institutsgründung nimmt Gestalt an. Am 18. Februar 1914 ist es dann soweit: Das „Königliche Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft“ in Kiel wird am 25. Jahrestag der Thronbesteigung Kaiser Wilhelm II als überwiegend privat finanziertes Institut gegründet und nur zwei Tage später eröffnet. Zunächst soll es Nachrichten und Daten der Weltwirtschaft sammeln, systematisieren und aufbereiten und dann interessierten Stellen zur Verfügung stellen.

Nur wenige Monate später überrollt der Erste Weltkrieg Gymnasien und Universitäten. Oberstufenschüler, Studenten, Lehrer und Dozenten melden sich so zahlreich als Kriegsfreiwillige, dass der geregelte Schul- und Universitätsbetrieb in örtlich unterschiedlicher Wucht zusammenbricht. Man bringt trotzdem zusätzlich seit 1915 „Kriegswirtschaftliche Nachrichten aus dem Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft“ heraus, die dann ab 1918 als „Weltwirtschaftliche Nachrichten“ fortgeführt werden. Mit der Fortdauer des Krieges wachsen bei den Bürgern die Zweifel an seiner Gewinnbarkeit und bei den Arbeitern der Widerstand – sie werden zu hunderttausenden in Flandern hingeschlachtet, sie hungern und sind seit 1916 einer Militärdiktatur ausgesetzt, die militärische und zivile Dienstverweigerung mit der Todestrafe ahndet. Vor allem aber wird die, in Deutschland besonders ausgeprägte, politische Unfähigkeit aller europäischen Nationalstaaten sichtbar einen sinnlos gewordenen Krieg (im Sinne der Clausewitzschen Fortsetzung von Politik mit Gewaltmitteln) zu beenden. Der Bankrott aller europäischen Nationalstaaten zeigt sich, als sie den Tod von Millionen Bürgern auf den Schlachtfeldern ebenso in Kauf nehmen, wie den Ruin der Wirtschaft mit wiederum Millionen Arbeitslosen in der Nachkriegszeit, Währungsentwertungen2 bzw. –zerstörungen und dem Aufbau eines politischen Lügenhochhauses um die Machteliten zu exkulpieren.

Erst als die militärische Lage im Herbst 1918 aussichtslos wird lenkt die Militärführung ein. Ludendorff fordert vom Kaiser die Aufnahme von Friedensverhandlungen und die Einsetzung einer neuen Regierung:

„Ich habe S. M. (= seine Majestät) gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, daß wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muß. Sie sollen die Suppe essen, die sie uns eingebrockt haben.“3

Nicht die alten machtnahen Eliten, in denen alle Entscheidungen bezüglich des Krieges fielen, sondern die machtfernen, die die opponierenden Bürger und widerständigen Arbeiter repräsentieren, sind auf einmal die Schuldigen, „daß es soweit gekommen ist“. Aber der Entschluss Ludendorffs ist nicht unumstritten. Große Teile der alten Elite wollen die Fortführung des Krieges. Die Flotte soll auslaufen. Das machen die Matrosen nicht mit und reißen die Feuer aus den Kesseln.

So fällt das Ende des Krieges in Deutschland mit der Novemberrevolution zusammen. Diese nimmt ihren Ausgangspunkt nicht zufällig in Kiel. Die rebellierenden Matrosen, die zunächst nur ihre von der Todesstrafe bedrohten Kameraden retten wollen, finden in den Kieler Arbeitern rasch Verbündete. In den kriegswichtigen Industriebetrieben in der Stadt (Torpedowerkstätten) sind hervorragend ausgebildete, zupackende Arbeiter aus dem ganzen Reich zusammengezogen. Sie sind selbstorganisationsfähig und gehen mit dem Beginn der Revolution auf Suchbewegungen in Richtung Rätekommunismus, Sozialisierung und Wirtschaftsplanung.

Dabei werden auch interessante Entdeckungen gemacht. So übernehmen die Kieler Matrosen Anfang November 1918 die Befehlsgewalt über die Flotte und stellen fest, dass sie sehr wohl in der Lage sind große Schiffe eigenständig zu führen. Und wenn man komplexe Destruktionsmaschinen hantieren kann, so ist es auch möglich komplexe Produktionsmaschinen, sprich Fabriken zu dirigieren. Der am 7. November zum Kieler Gouverneur gewählte Gustav Noske belügt den Kieler Soldatenrat, als er behauptet, die Engländer machten die Führung der Schiffe durch Offiziere zur Bedingung von Friedensverhandlungen. Die Matrosen geben die Befehlsgewalt zurück.

Anstatt die Zeit, in der die alten Eliten Ende 1918/Anfang 1919 paralysiert sind, für personelle Veränderungen der Spitzen der Institutionen, die im Handlungsbereich der Politik liegen, zu nutzen, werden die alten Eliten in den Schaltstationen sekundärer Macht belassen. Dies gilt vor allem für das Justizsytem und die Verwaltung. Der Verzicht auf den Umbau des Militärs mit dem Ziel dieses auf die Verteidigung der Demokratie festzulegen ist so fahrlässig wie ein Bad im Haifischbecken.  Die Sozialisierung des Bergbaus wird ausgebremst. Hier hat es nie einen Markt gegeben und der Staat betreibt nicht wenige Zechen in eigenem Eigentum, verfügt also über Organisationserfahrung. Kurz, die Modernisierung der Elitenkonstellation mit der Kopula Demokratie unterbleibt.

Das Institut für Weltwirtschaft als Marktplatz der Ideen

Das Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft hat neben dem „weltwirtschaftlichen“ Attraktor Bernhard Harms einen zweiten, den Nestor der deutschen Soziologie, Ferdinand Tönnies. Dieser hat sich früh mit Fragen der Arbeiterbewegung, speziell der Gewerkschaften befasst. Nach seiner Emeritierung 1916 bleibt Tönnies weiter am Institut aktiv. Die 1915 einsetzende Inflation greift sein Vermögen bereits Anfang der zwanziger Jahre so stark an, dass er sich 66jährig im  Jahr 1921 wieder reaktivieren läßt. Beide treffen sich im Bestreben, über die Entwicklung der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit junge talentierte Leute an die Hochschule zu holen und Ihnen akademische Ausbildungen zu ermöglichen. Hinzu kommen der Finanzwissenschaftler Karl Fritz Mann, der Soziologe und Syndikalismusexperte Kurt Albert Gerlach und Franz Eulenburg, der bereits 1908 die große Zahl von Habilitierten an deutschen Universitäten ohne Lehrstuhl kritisiert hat, was ihm den Weg an die staatliche Universität nachhaltig verstellt. Diese und weitere Akteure öffnen nun nach 1918 das Institut für  soziologische Fragestellungen aus der Arbeiterbewegung. Das wiederum wirkt attraktiv auf junge Männer, die ihre Kriegserfahrungen nicht rechts-, sondern linksdrehend verarbeiten wollen.

In den Jahren 1918 bis 1922 entsteht in dieser Atmosphäre – ein offenes Institut und eine linke politische Bewegung – eine reichsweit einmalige linksradikale wissenschaftliche Subkultur4. In diesem Kreis versammeln sich Linke aus dem gesamten politischen Spektrum von der SPD, über die USPD, Spartakisten, Unabhängige und Rätekommunisten, wie der Neumünsteraner Adolf Dethmann, der später Direktor des Junkers-Konzerns, dem damals größten Hersteller ziviler Flugzeuge in Deutschland, wird5. Darüber darf nicht vergessen werden, dass Sozialisierung und Wirtschaftsplanung gemeinsame Themen von christlichen, liberalen und stark differenzierten sozialistischen Strömungen sind, quer durch die Parteien umstritten. In dieser radikalen Phase des Weltwirtschaftlichen Institutes entstehen wissenschaftliche Arbeiten, deren Themen hier nur auszugsweise wiedergegeben werden können.

  • „Zur revolutionären Gewerkschaftsbewegung in Amerika, Deutschland und England“ (Hans Bötcher).
  • „Arten und Stufen der Sozialisierung“ sowie „Weltwirtschaftliche Solidarität der Völker“ (Franz Eulenburg).
  • „Der internationle Frauenschutz und das Problem der Frauenarbeit“ (Gertrud Savelsberg)
  • „Zum englischen Gildensozialismus“ (Ernst Schuster)
  • „Die Reichstarife des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine“ (Richard Sorge)
  • „ Der deutsche Syndikalismus“ (Eduard Willeke)

Hochschullehrer und Studierende beteiligen sich auch an einer praktischen Bildungsarbeit in „Matrosenzirkeln“, halten Vorträge zu Wirtschaftsfragen und treffen sich mit Arbeitern zu Debattiertreffen, auch um ihre Dissertationsthemen zu besprechen. Karl Rickers, Sozialistische Arbeiterjugend, später Chefredakteur der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung, beschreibt die Zeit folgendermaßen:

„Ein Phänomen war, daß in diesem Kreis der Jugend Toleranz und entschiedenes politisches Engagement nebeneinander ihren Platz hatten. Man bekannte sich leidenschaftlich zur Idee des Sozialismus und den dazugehörigen Organisationsformen des politischen Kampfes. Aber man war auch immer bereit, über alle Dinge zu debattieren, mit ursprünglicher Lust am Streit, auch den Witz im Disput suchend, doch stets mit einem Instinkt für Toleranz dem Andersdenkenden gegenüber – jedenfalls solange man nicht auf eine Gesinnung blinden Eifers oder der Gewalt stieß“6.

Der Wettbewerb um die Deutungen der Realität und die Klärung der Erwartungen auf Seiten der demokratischen Kräfte. Die Antidemokraten destabilisieren zeitgleich die Republik. Es werden diejenigen politischen Akteure ermordet, die am ehesten in der Lage sind, im Land wieder stabile Erwartungsbündel, Ideen und Institutionen zu schaffen. Im Monat nach der Ermordung Rathenaus stürzt der Kurs der Reichsmark von 350 auf 670 für einen Dollar.

Im Lauf des Jahres 1922 wird die Erschöpfung der Gestaltungsmöglichkeiten deutlich, die sozialdemokratischen Parteien verlieren rapide an Zustimmung7 und so vergeht auch die linke Kieler Subkultur. Die Studierenden am Institut für Weltwirtschaft haben sich mit ihren Themen ins Brotlose promoviert und die Hoffnungen auf einen Politikwechsel werden von der Wirklichkeit dementiert.

Die Weltwirtschaftswissenschaft am Institut bildet in der Folge keinen eigenen Forschungsschwerpunkt in dem 1918 bis 1922 erarbeiteten Terrain des Organisationsvermögens und der Erwartungen von Arbeitern heraus. Bernhard Harms und Kollegen sympathisieren deutlich mit den jungen Wilden und schmettern die Kritik an ihren wissenschaftlichen Arbeiten mit dem Hinweis auf Werturteilsfreiheit ab. Und auch die Finanziers des Institutes zeigen sich großzügig. Ihre Zahl steigt auf über 6.000. Dazu gehören international anerkannte Stiftungen, wie zum Beispiel die Rockefeller-Foundation aus den USA. Das Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft wird das wohl am besten ausgestattete der Weimarer Republik. Bernhard Harms steuert das Institut in Richtung frei finanzierte Stiftung.

Die in den Jahren 1920 und 1921 zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit8 so nützliche Inflation beginnt im Juli 1922 schlagend zu werden, die Inlandspreise steigen Monat für Monat um 50 Prozent9. Im April 1923 steht das Institut vor dem Aus. Nur die ausländischen Mittel, die immer wertvoller werden, halten die Mitarbeiter noch über Wasser. Das angesammelte Stiftungskapital wird immer rascher entwertet und ist zum Zeitpunkt der Währungsreform im November wertlos. Die Mark wird eine Billion zu eins abgewertet. Das heißt auch, dass die von deutschen Bürgern beim Reich gezeichneten neun Kriegsanleihen, deren Gesamtvolumen in den Jahren 1914 bis 1918 bei 100 Milliarden Mark lag, nun kaum 10 Pfennige wert sind. Nur wenige Jahre später wird der Nachwuchs des deutschen Mittelstandes, der sich vom Weimarer Staat um seine Vermögen10 gebracht sieht, gegen die Republik mobil machen. Die schlagende Inflation trifft alle und entwertet auch den Schutz, den Beruflichkeit bildet. Erfolgreich sind in der Inflation nicht die Professionellen, sondern gewitzte, ankriminalisierte Individuen, die es verstehen in höchstgradig instabilen Verhältnissen Geschäfte zu machen.

Die einfache Lösung im November 1923, eine Währungsreform durchzuführen, wäre auch früher möglich gewesen. Auch ein energisches Hochprügeln der Zinsen, wie es etwa Volcker nach dem Vietnamkrieg11 zur Stabilisierung des Dollar betreibt, wäre in Frage gekommen. Das unterbleibt in der Weimarer Republik aufgrund der unterausgestatteten Kapazitäten des politischen Systems, solche Entscheidungen herbeizuführen12. In geradezu grotesker Verkennung der Lage, weil es nie einen politischen Eingriff in die Reichsbankbefugnisse gegeben hat,  wird stattdessen die Reichsbank durch das Autonomiegesetz am 26. Mai 1922 unabhängig13. Rudolf Havenstein, der von 1908 bis 1923 Präsident der Reichsbank ist und den gesamten Inflationsprozess geldpolitisch verantwortet, weigert sich dann mit dem Argument der politischen Unabhängigkeit der Reichsbank beim Zusammenbruch der Währung zurückzutreten14. Gerade an der Inflation wird das Kommunikationsversagen deutlich, welches entsteht, wenn ein kollektives Kommunikationsmedium wie das Geld nicht durch hinlänglich ausdifferenzierte politische Macht erhalten wird, sondern tagträumenden Machteliten überlassen bleibt.

Die Ära wissenschaftlicher Weltgeltung

Nach einer langen Erholungsphase holt Bernhard Harms 1926 Adolf Löwe15 an das Institut, der seit 1924 Lehraufträge in Kiel durchführt und dabei den ungehobenen Schatz an weltwirtschaftlichen Materialien am Institut für seine Zweck als Leiter der internationalen Abteilung des Statistischen Reichsamtes nutzt. Adolf Löwe untersucht 1914 in einer ersten eigenständigen Untersuchung als 21jähriger den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität und weist nach, dass die Zunahme gewerkschaftlicher Organisation mit einer Abnahme von Kriminalität korrespondiert. 1916 wird er in einem Projekt tätig, das die Zukunft des Steuersystems nach dem Weltkrieg untersuchen soll. Löwe macht daraus die Frage, ob man nach dem Krieg „zur freien Wirtschaft der Vorkriegszeit zurückkehren würde“16, denn davon hing die Beantwortung der Steuerfrage ab. In den Bereichen Arbeitslosigkeit, Infrastruktur und Landwirtschaft machen er und Andere dann Vorschläge jenseits der Marktwirtschaft, die 1918 unter dem Titel „Soziale Forderungen für die Übergangswirtschaft“ veröffentlicht werden. Danach arbeitet Löwe im Wirtschaftsministerium unter anderem in der frühen Sozialisierungskommission und in der Inflationsbekämpfung. Löwe ist Mitautor der Denkschrift „Die weltwirtschaftliche Lage Ende 1925“, die die Gründung des Deutschen Instituts für Konjunkturforschung inspiriert. Heute handelt es sich um das Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin.

Adolf Löwe bringt aus seinen Tätigkeiten im Reichswirtschaftsministerium die Erfahrung gemischter Wirtschaft mit. Eine „Freie“ Wirtschaft ist für ihn ein gedankliches Konstrukt ohne jeden Realitätsbezug. In modernen Gesellschaften ist der Staat immer auch Wirtschaftsakteur. Noch 1964 formuliert Löwe:

„Wenn es zutrifft, daß sich die traditionelle Wirtschaftstheorie mit dem Studium ´freier´ Märkte befaßt, die durch die politisch und sozial ungehemmten Entscheidungen der einzelnen Marktteilnehmer gelenkt werden, so braucht man sich kaum über den mangelnden Realismus ihrer Aussagen zu wundern. Existiert doch wohl heute nirgendwo das empirische Gegenstück eines solchen Modells, wenn sich ein solches je in der Vergangenheit auffinden ließ. Eine kurze Epoche im 19. Jahrhundert kam dem Laissez-faire ziemlich nahe. Aber sie ist längst durch die >gemischten< Systeme abgelöst, in denen sich dezentralisierte und zentralisierte Entscheidungen kombinieren …“17

Löwe hält zeitlebens, er wird 102 Jahre alt, an dieser Überzeugung fest. Und wenn es sich bei modernen Gesellschaften um gemischte Wirtschaften handelt, so hat der Staat die Pflicht seinen Teil an der Wirtschaft, also auch öffentliche Planungsinstanzen zu entwickeln. Wird der Aufbau von öffentlichen Wirtschaftsinstitutionen vernachlässigt, können wirtschaftliche Abschwünge sich selbst zur Depression verstärken. Insofern steht im Institut der Jahre 1926 bis 1933 als es Weltrang besitzt eine planerische Wirtschaftstheorie im Vordergrund, die gegen atomistisch, individualistische Vorstellungen erste ganzheitliche Ansätze entwickelt. Es handelt sich um konstruktive Wirtschaftstheorie, die originäre Antworten auf die aktuellen Fragen gibt.

Adolf Löwe ist auch Marktwirtschaftler. Der Markt ist für die Arbeiter unverzichtbar, weil durchgehende Planung ihre Lebensumstände bedeutend verschlechtert und der Markt ihnen individuelle Freiheit gewährt. Löwes Credo lautet: Durchsetzung der Marktwirtschaft im Interesse der Arbeiter. Das braucht politische Aktion. Der Vorstellung, dass Märkte die Fähigkeit haben sich selbst zu stabilisieren, spricht er jede empirische Evidenz ab. Löwe ersetzt das Paradigma des Gleichgewichtes in Märkten durch das realitätsnahe Paradigma eines Wechsels zwischen Aufschwung und Abschwung. Diese Idee entfaltet er 1926 in seiner Schrift „Wie ist Konjunkturtheorie überhaupt möglich?“.

So unverzichtbar Märkte auch sind, so ist Löwe zugleich der Überzeugung, dass es um die Versöhnung von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Stabilität geht. „Oder ökonomisch gesprochen: eine harmonische Verbindung von Markt und Plan“18. Von heute aus reformuliert steht im Zentrum des ökonomischen Verständnisses von Adolf Löwe die Vorstellung individuelle und kollektive Lösungen pragmatisch und empirisch gestützt zu verbinden.

Löwe wird nun der erste Forschungsdirektor des Weltwirtschaftlichen Institutes in Kiel und Leiter der rasch zu Berühmtheit gelangenden Abteilung für statistische Wirtschaftskunde und internationale Konjunkturforschung (Astwik). Er trifft bereits auf die größte wirtschaftswissenschaftliche Bibliothek der Welt und widmet sich Fragen der internationalen Konjunktur, der Kapitaltheorie und höchst innovativ der Folgen des technischen Fortschritts für den Arbeitsmarkt. Unter der Ägide Löwes erwirbt das Kieler Institut rasch Weltgeltung. Der internationale Ruf ist vor allem der Fähigkeit Löwes geschuldet vollständig uneitel auch Wissenschaftler für Kiel zu begeistern, die eine andere Meinung haben oder einfach nur sehr gute Ökonomen oder talentiert sind. Sie müssen nur teamfähig sein, also kollektiv lösungsorientiert. Als Spiritus Rector inspiriert Adolf Löwe eine Gruppe herausragender und sich wechselseitig intellektuell befruchtender Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen.

Adolf Löwe holt schnell seine Freunde Gerhard Colm und Hans Neisser nach Kiel. Gerhard Colm verfasst bereits 1920 die Schrift „Beitrag zur Geschichte und Soziologie des Ruhraufstandes vom März – April 1920“ und habilitiert sich 1927 am Institut mit der fulminaten Schrift „Volkswirtschaftliche Theorie der Staatsausgaben“. Dort formuliert er erstmals den Gedanken, dass Staatsausgaben nicht als Kaufkraftverlust der Wirtschaft verstehbar sind. Auch Staatsausgaben finden stets in der Wirtschaft statt und dann geht es darum, unter welchen Umständen und in welcher Höhe diese ökonomisch funktional sind. Hans Neisser wird 1928 mit seinem von Georg Simmel inspirierten Werk „Der Tauschwert des Geldes“ international bekannt, in dem er zeigt, dass Lohnsenkungen/Lohnerhöhungen lediglich als Kaufkraftverschiebungen wirken. Löwe holt auch Wassily Leontief (1928 bahnbrechend: „Die Wirtschaft als Kreislauf“, Nobelpreis 1974 für Input-Output-Analyse) und Jakob Marschak (1930: „Elastizität der Nachfrage: Zur empirischen Feststellung relativer Marktkonstanten durch Beobachtung von Haushalt, Betrieb und Markt“) nach Kiel.

Fritz Burchardt erarbeitet eine anspruchsvolle Synthese des ökonomischen Stufenmodells mit dem Sektorenmodell und etabliert damit eine hochmoderne vertikale Betrachtungsweise wirtschaftlicher Abläufe. Burchardts Doktorand Alfred Kähler erforscht als erster Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt in der Folge technischen Fortschritts und stellt diese in seiner Dissertation „Die Theorie der Arbeiterfreisetzung durch die Maschine“ im Jahr 1932 dar. Walther G. Hoffmann beschreibt in seiner von Löwe betreuten Doktorarbeit 1931 „Stadien und Typen der Industrialisierung“ erstmals statistisch den historischen Prozess der Industrialisierung. Hoffmann wird später mit seinen Forschungen zu Fragen des Wirtschaftswachstums und der Einkommensverteilung international bekannt, ist allerdings auch Mitglied der SA.

Die große Depression 1929 bestätigt die theoretischen Arbeiten am Institut auf das Schmerzvollste. Die Kieler gehören zu den wenigen deutschen Wirtschaftswissenschaftlern, die sich dann gegen die Brüningsche Deflationspolitik stemmen, die im Übrigen die Reste der sozialpolitischen Reformen der unmittelbaren Nachkriegszeit beseitigt. Die vorherrschende Theorie sieht in der Deflation so etwas wie einen notwendigen „Reinigungsprozeß“ der Wirtschaft, der dann selbstregulierend zu einer wirtschaftlichen Erholung führen würde. Löwe argumentiert 1930 gegen die allgegenwärtigen Lohnsenkungen, dass in Deutschland nicht die Löhne das Problem seien, sondern völlig überzogene Monopolrenten der kartellierten Grundstoffindustrie.

„Dem Plane der Monopolinteressenten, die die Reparationsausfuhren durch eine Senkung der deutschen Geldlöhne rentabel machen möchten, stellt das arbeitende Volk die produktionspolitische Forderung entgegen: Preissenkung und Produktionssteigerung durch Abbau der Monopole auf der Grundlage einer freihändlerischen Politik“19

Löwe zeigt, dass schon die Annahme, es handele sich je um Märkte zu überprüfen ist. Die Wirklichkeit der Wirtschaft besteht nicht nur aus Märkten. Dort wo es sinnvoll ist, sind Märkte gegen Kartelle herzustellen, was das genaue Gegenteil von Deregulierung ist, die heute euphemistisch „Strukturreform“ genannt wird. „Freihändlerische Politik“ in diesem Sinne ist nicht die Herrschaft des Kartells von Großunternehmen, sondern dessen Zerschlagung. Marktwirtschaft erfordert Marktkonstruktionspolitik.

Des Weiteren argumentiert Löwe gegen Lohnsenkungen, dass diese arbeitsintensive ältere Techniken wieder rentierlich machen würden. In der Folge müssen Unternehmen, die in modernste Technik investiert haben, nun mit den technisch rückständigen Grenzunternehmen konkurrieren. Dies führt zur teilweisen Kapitalvernichtung bei den Investitionen in Technik. Diese Prämierung von technischem Stillstand durch Lohnsenkungen „wäre produktionspolitisch geradezu verhängnisvoll“20, eine Art Selbstmordprogramm für Industrienationen.

Gerhard Colm spricht offen: „Lohnsenkung verschärft in der Depression den Deflationsprozess, führt zu vermehrter Arbeitslosigkeit“21. Er setzt sich für eine Kreditausweitung ein und formuliert erste Ansätze einer antizyklischen Finanzpolitik22.

Auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften bahnt sich aber bereits seit Mitte der 20er Jahre eine vorher unbekannte Trennung in links und rechts an, die vor allem von den Österreichern Hayek und Mises betrieben wird. Diese organisieren unter der Spruchformel „Freie Wirtschaft“ eine damals neue Rechte mit der Kopula Antikommunismus, die das gesamte öffentliche Handeln zu diskreditieren vermag. Die utopische Vorstellung von Wirtschaft, als eines rein individualistischen Wettbewerbs ist mit dem politischen Vitalismus des aufkommenden Faschismus kompatibel. Genau so wie die Individuen wirtschaftlich frei von allen staatlichen Gängelungen konkurrieren sollen, so sollen die Individuen auch politisch, frei von den in 10.000 Jahren erworbenen Werten und Normen menschlicher Zivilisation agieren23.

Und das tun sie dann auch. Nachdem die liberalen und konservativen Parteien im März 1933 der NSDAP im Reichstag per Ermächtigungsgesetz freie Hand geben, verläßt Adolf Löwe, der 1931 ins Frankfurter Institut für Sozialforschung wechselt, einige Koffer gar nicht mehr auspackt und sich einen zweiten Pass besorgt, bereits am 2. April 1933 Deutschland24. Die am Institut verbliebenen Mitarbeiter werden, als Bernhard Harms auf Reisen ist, von SA-Schlägern aus den Räumen des Institutes geprügelt25. Harms kann sie noch einmal zurückholen, bleibt aber gegenüber einer zweiten SA-Attacke machtlos und wird dann abserviert. Er stirbt wissenschaftlich gebrochen in den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges in Berlin.

In England und den USA werden die Kieler Wissenschaftler an den Universitäten aufgenommen und nicht selten verzichten die etablierten Mitarbeiter dort kollektiv auf einen Teil ihres Einkommens, um den Vertriebenen des Institutes für Weltwirtschaft ein Auskommen zu gewähren.

Die im Kampf gegen die Deflation in Kiel angedachten Konzepte, vor allem Zerschlagung der Kartelle und  Marktherstellung, bleiben unabgegolten. Das Gegenteil passiert. Die neue Regierung erläßt am 15. Juli 1933 eine Kartellverordnung, die die Organisationsmacht der Kartelle außerordentlich stärkt.26 Die Erfolge der Wirtschaftspolitik der NSDAP im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit sind nicht Resultat eines (richtigen)  Konzeptes, etwa dem Anschluss an die Pläne zur Arbeitsbeschaffung an denen auch die Kieler beteiligt waren27, sondern Folge einer Politik zur Wiederaufnahme des 1918 abgebrochenen Krieges. 1988 sagt Adolph Lowe im Interview mit der Zeit:

„ZEIT: Wollen Sie damit sagen, daß die Nazis gute Ökonomen hatten?
Lowe: Nein, sie handelten zum Teil auf Grund ganz falscher Theorien. Das war eine meiner peinigendsten Erfahrungen: Man muß keineswegs die richtigen Gedanken haben, man muß nur das Richtige tun. Die Autobahnen sind ja nicht primär gebaut worden, um Arbeit zu schaffen, sondern als eine Vorbereitung für die militärischen Abenteuer. Aber die Konsequenz war in der Tat eine sehr wesentliche Reduktion der Arbeitslosigkeit und damit natürlich auch eine moralische Stärkung des Regimes in der breiten Bevölkerung.“

Ab 1934 wird das Institut in immer größerem Maß staatlich finanziert. Die Hälfte der wissenschaftlichen Institutsmitarbeiter hat Deutschland aus politischen – und nicht aus ethnischen – Gründen  verlassen. Mit der politischen „Säuberung“ wird die gesamte theoretische Sozialwissenschaft liquidiert.

Der Aderlass am Institut wird unwiderbringlich sein. Nie wieder kann das Institut für Weltwirtschaft eine derartige internationale Bedeutung erlangen, wie in seinen fabelhaften Jahren.

 

  1. Bernhard Harms, Volkswirtschaft und Weltwirtschaft. Versuch einer Begründung einer Weltwirtschaftslehre, Jena 1912. []
  2. Es gibt Inflationen und Zahlungsausfälle 1918 in Finnland (Inflationsrate: 242%), Niederlande (21%), Schweden (35,8%), 1922 in Österreich (Inflationsrate: 1.733%), 1923 in Deutschland (1 Mio.%), Polen (51,7%), Russland (13.535%). Siehe: Carmen M. Reinhart und Kenneth S. Rogoff, Dieses Mal ist Alles Anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen, München 2010, S. 274f. []
  3. Albrecht von Thaer, Generalstabsdienst an der Front und in der O.H.L. Aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen 1915 – 1919. Hg.  Siegfried A. Kaehler, Göttingen 1958, S. 234f. []
  4. Ausführlich: Detlef Siegfried, Das radikale Milieu. Kieler Novemberrevolution, Sozialwissenschaft und Linksradikalismus 1917 – 1922. Wiesbaden 2004. []
  5. Zu Adolf Dethmann und seiner erstaunlichen Karriere vom Rätekommunisten zum Industriemanager: Detlef Siegrid, Der Fliegerblick, Bonn 2001. []
  6. Siegfried 2004, S. 74. []
  7. Fallen zur Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung am 19.01.1919 noch 13,8 Millionen Stimmen auf die sozialdemokratischen Parteien, so sind es zu den Reichstagswahlen am 06.06.1920 noch 10,5 Millionen und am 04.05.1924 noch 6,2 Millionen Stimmen. []
  8. Der Preis für einen Dollar liegt im April 1920 bei 72 Mark und steigt dann bis zum Juli auf 37,95. In der gleichen Zeit steigt die Arbeitslosigkeit von 1,9% auf 6%. Vgl. Frederick Taylor, Inflation, München 2013, S. 165 []
  9. Ebenda, S. 210. []
  10. „Hatte der Anteil des deutschen Volkseinkommens, das an Rentiers – Menschen, die von Investments lebten – ging, 1913 bei 15 Prozent gelegen, so betrug er 1925/26 nur drei Prozent.“ Ebenda, S. 340. Das Geld ist allerdings ohnehin verloren. Die Kriegsanleihepropaganda läuft darauf hinaus, die aufgenommenen Schulden von den besiegten Gegnern zahlen zu lassen. Nun ist man selbst besiegt (auch wenn Friedrich Ebert den heimkehrenden Truppen am 11.12.1918 zuruft: „Kein Feind hat Euch überwunden“) und die Sieger wollen auch, dass die Besiegten zahlen. Von da aus gesehen beruht die Enttäuschung der deutschen Mittelklassen auf einem Realitätsverlust sondergleichen. Es ist völlig klar, dass die gesamten Kriegsschulden uneintreibbar sind. Ihr Gegenwert ist im wahrsten Sinne des Wortes „verpulvert“. []
  11. Das geldpolitische Grundproblem der Inflation ist die Steigerung der Nachfrage, wenn es kein ausreichendes Angebot gibt. Das ist immer in nichtfinanzierbaren Kriegen der Fall. Es ist tragisch zu nennen, dass es statt dysfunktionaler „Schuldenbremsen“ keine monetäre „Kriegsbremse“ gibt, also das Verbot die Währung durch Kriegseinsätze zu überspannen. []
  12. Vgl: Otto Pfleiderer, Die Reichsbank in der Zeit der großen Inflation, die Stabilisierung der Mark und die Aufwertung der Kapitalforderungen, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876 – 1975, Ffm 1976, S. 157 – 202. []
  13. Ebenda, S. 160. []
  14. Havenstein stirbt am 20. November 1923 in seiner Amtswohnung. Der Kurs des Dollars liegt an diesem Tag bei 4,2 Billionen Mark und wird dann wieder auf 4 Mark zwanzig abgewertet. []
  15. Im Zuge seiner Vertreibung – er legte Wert auf die Feststellung aufgrund politischen und nicht aus Herkunftsgründen (er war auch agnostischer Jude) – ging der Umlaut verloren und aus f wurde ph. Es handelt sich also um Adolph Lowe. Eine schöne Biographie hat Claus-Dieter Krohn unter dem Titel „Der philosophische Ökonom“ vorgelegt, Marburg 1996. Eine knappe Zusammenfasung der wirtschaftswissenschaftlichen Leistungen Adolph Lowes bietet Harald Hagemann: https://www.uni-hohenheim.de/wi-theorie/lowe.PDF []
  16. Selbstbeschränkung ist keine Unfreiheit, Zeitgespräch mit Adolph Lowe, in: Die Zeit 21/1988. []
  17. Adolph Lowe, Politische Ökonomik, Ffm 1965 (On economic knowledge). Diese Schrift enthält eine immer noch lesenswerte Kritik an Paradigmen der Wirtschaftswissenschaft, wie z.B. der Nutzenmaximierung (S.228ff) und von Knappheit (S. 233ff.). Im vierten Teil des Buches entfaltet er eine „Instrumentale Analyse“, indem er den Theorierahmen einfach umstellt. In seiner Skepsis gegenüber ökonomischen Bewegungsgesetzen hält er eine „Zielorientierung“ für richtig. Es müssen Ziele formuliert werden, die von heute aus erreicht werden sollen. Und dann können daraus Pfade (modern: Szenarien) und Bewegungskräfte (Akteure, Institutionen, Märkte) erkannt werden. „Diese `Inversion`des Problems – Ableitung des Pfades und der Bewegkräfte aus einem Vergleich des gegebenen Endzustandes mit dem Anfangszustand anstelle der Ableitung des Pfades und des Endzustandes aus dem Anfangszustand mittels eines gegebenen Bewegungsgesetzes – verleiht dem Makroziel die strategische Rolle in der instrumentalen Analyse.“ (S. 279) Die Radikalität an dieser Umstellung des Problems kann zum Beispiel an der ökologischen Frage verdeutlicht werden. Während Marktwirtschaftler dauernd am Problem scheitern, mit ihren Axiomen „marktgerechte“ Lösungen zu entwickeln, würde Lowe vorschlagen, einen realistischen, wünschenswerten Umweltzustand zu definieren und „dann die organisatorischen Regeln“ in Politik und Wirtschaft zu bestimmen, die die Erreichung dieses Zieles ermöglichen. Und dann gibt es Stellschrauben, wie die Geld- und Steuerpolitik, die Beeinflußung der Unternehmererwartungen durch öffentliche Investitionen und den Aufbau eigener mit Geld und Macht ausgestatteten Institutionen. []
  18. „Selbstbeschränkung ist keine Unfreiheit“, Zeitgespräch mit Adolph Lowe, in: Die Zeit 21/1988. []
  19. Adolf Löwe: Reparationspolitik, in: Neue Blätter für den Sozialismus 1/1930, S. 40. []
  20. Adolf Löwe, Lohn, Zins – Arbeitslosigkeit, in: Die Arbeit 7/1930, S. 429. []
  21. Gerhard Colm, Wege aus der Weltwirtschaftskrise, in: Die Arbeit 11/1931, S. 823. []
  22. Ebenda, S.825ff. []
  23. Vgl. Karl Polanyi, Das Wesen des Faschismus, in: ders., Ökonomie und Faschismus, Ffm 1979. Da der Faschismus als Bruch mit der Tradition zu begreifen ist, kann er nicht aus der Tradition abgeleitet werden, sondern muss als (kontingente) Antwort auf den Zusammenbruch der Tradition verstanden werden. []
  24. Krohn 1996, S. 59ff. []
  25. Der SA-Mann Hoffmann hat Hans Neisser und Gerhard Colm persönlich mit einem Knüppel aus den Räumen des Institutes vertrieben. In: Hans-Christian Petersen, Expertisen für die Praxis – Das Kieler Institut für Weltwirtschaft 1933 – 1945, in: Christoph Cornelsen und Carsten Misch (Hg.), Wissenschaft an der Grenze. Die Universität Kiel im Nationalsozialismus, Essen 2009, S. 63f. []
  26. Ausführlich: Franz L. Neumann, Die Wirtschaftsstruktur des Nationalsozialismus, in: Helmut Dubiel und Alfons Söllner, Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939 – 1942, Ffm 1981, S. 143ff. []
  27. Colm, S. 828ff. []

Jascha Jaworski

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