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100 Jahre Institut für Weltwirtschaft – Teil 2: Die grauenhaften Jahre (Gastbeitrag)

Dr. Thomas Herrmann  (Historiker und Soziologe, sowie Mitglied von attac Kiel) stellt in einem Essay als Gastautor die Geschichte des Instituts für Weltwirtschaft Kiel dar, das in diesem Jahr auf sein hundertjähriges Bestehen zurückblicken kann. Der Essay, der hier in vier Teilen erscheinen wird, verdeutlicht an der historischen Aufstellung, sowie dem erstaunlichen Wandel des Instituts über die Jahrzehnte hinweg zugleich die gesellschaftliche Zeitenwende. Den hier aufgeführten zweiten Teil (Teil 1 siehe hier), der auf die Entwicklungen während der Nazidiktatur eingeht, fasst Thomas Herrmann unter der Überschrift “Die grauenhaften Jahre” zusammen.

Auf diese gesellschaftliche Wahrheit vom Zusammenbruch der europäischen Klassengesellschaft antworteten die Nazis mit der Lüge von der Volksgemeinschaft, welche auf der Mittäterschaft bei Verbrechen basiert und von einer Gangsterbürokratie beherrscht wird. … Und als Antwort auf den Niedergang des Nationalstaates kam die berühmte Lüge von der Neuordnung Europs, die die Völker zu Rassen erniedrigte und deren Ausrottung vorbereitete.
(Hannah Arendt)

Der Aufstieg der NSDAP beginnt Mitte der zwanziger Jahre an den Hochschulen. Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund beherrscht bereits im Juni 1930 die Mehrheit im Kieler Studentenausschuss. Danach beginnt die Terrorisierung der republikanischen Wissenschaftler an der Hochschule.

Die Faschisierung1 Schleswig-Holsteins und das Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr

Bei den Septemberwahlen 1930 wählen 6,4 Millionen Deutsche die NSDAP. In Schleswig-Holstein beträgt ihr Anteil sogar 27 Prozent, während es im Reich durchschnittlich 18,3 Prozent sind. Hans Neisser schätzt in einer Wahlanalyse, dass zwischen 25 und 50 Prozent aller 20 bis 25jährigen NSDAP gewählt haben und fragt tastend: „… – wenn es so etwas gibt – welches die tragenden sozialen Schichten der Nationalsozialistischen Partei auf der Rechten heute sind“2. Der Soziologe Rudolf Heberle beschreibt in seiner am Institut für Weltwirtschaft entstandenen und immer noch lesenswerten Schrift „Landbevölkerung und Nationalsozialismus“3 die sozio-geografischen, raumwirtschaftlichen und mentalen Gegebenheiten und die Veränderungen der politischen Gemengelage in Schleswig-Holstein. Haben bei der letzten Reichswahl vor dem Krieg im Jahr 1912 in Schleswig-Holstein 40% SPD und knapp 30% Linksliberale gewählt, sind es zur Reichstagswahl 1930 30% SPD, 10% KPD aber nur noch knapp 5% Linksliberale. Die politische Drift und der Druckaufbau in der politischen Atmosphäre vollzieht sich nicht in den Kulissen eines Dramas mit großem Trommelwirbel, sondern der Erfolg der NSDAP besteht darin, mit großer Leichtigkeit, hoher Geschwindigkeit und in großer Breite die vorfindbaren, aber zersplitterten politschen Segmente des liberalen Lagers zu formieren. Heberle zeigt, dass es der NSDAP gelingt, nach dem schweren, militanten Steuerstreik 19284 die vollkommen enttäuschte Landbevölkerung in regional unterschiedlicher Konzentration politisch quasi zu inhalieren. Aber nicht der Steuerstreik bewirkt diesen Swing, sondern dieser „Übergang zur NSDAP stellte vielmehr oft nur den letzten Schritt einer lange angebahnten Loslösung von der politischen Gedankenwelt des demokratischen Liberalismus dar, in dem man früher einen Weg zur Volksgemeinschaft gesehen hatte“.5 Heberle mag auch das zunächst wenig distanzierte Verhältnis Bernhard Harms zur NSDAP vor Augen gehabt haben6.
 
Die nüchternen Augen des Soziologen sehen sofort, dass das Versprechen einer Volksgemeinschaft uneinlösbar, also eine Lüge ist. Der 1855 in Oldensworth/Eiderstedt geborene und lange am Institut tätige Ferdinand Tönnies antwortet in seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (zuerst 1887) auf die soziologische Frage: „Wie ist Gesellschaft möglich?“: Weil Menschen sie wollen. Tönnies beschränkt die soziologische Analyse auf positive, sich gegenseitig bejahende Sozialbeziehungen. Diese werden vom Willen der Akteure fundiert. Gemeinschaft und Gesellschaft sind je zwei unterschiedliche Willensformen, dem Wesenwillen und dem Kürwillen, zugeordnet. Diese fasst er als die Pole der seelischen Wirklichkeit auf. In der Welt der soziologischen Begriffe gehört alles entweder zum Kreis des einen oder des anderen Willens, und in der Welt der sozialen Erscheinungen ist alles gemischt. Die Erscheinungen des Wesenwillens sind romantisch fundiert, Mittel-Zweck-relational, naturnah, organisch und ursprünglich, diejenigen des Kürwillens sind rational, Zweck-Mittel-relational, naturvergessen, mechanisch und vermittelt.
 
Bei diesen Willensformen handelt es sich einerseits um psychologische Dispositionen – Wesenwille “trägt die Bedingungen zu Gemeinschaft in sich” und Kürwille “bringt Gesellschaft hervor”. Zugleich bezeichnen sie aber auch Eigengesetzlichkeiten von Erwartungen: Gemeinschaft “entwickelt und bildet” Wesenwillen, Gesellschaft “bindet und hemmt” Wesenwillen und “fordert und fördert” Kürwillen. Von da aus kann man sofort sehen, dass „Volksgemeinschaft“ einfach nur Unsinn ist, weil der Begriff das Primat der Gesellschaft in der Moderne leugnet und einen nicht gangbaren Rückmarsch anpreist. Soziologisch muss so was schief gehen.
 
Der Nestor der deutschen Soziologie und langjährige Kollege Bernhard Harms, Ferdinand Tönnies hat dann auch anläßlich der Reichstagswahl am 29. Juli 1932 in einem Wahlaufruf in der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung die NSDAP als „eine Partei, deren Endziel eine heillose Zerrüttung aller Verhältnisse sein würde“ bezeichnet. Aber auch Tönnies unterschätzt die NSDAP. Vor allem kann er zwar die Destruktivität sehen, aber nicht die Dynamik und das Potential des Destruktiven. Was er übrigens mit den klügsten Leuten seiner Zeit teilt und die Grenzen der Wissenschaft markiert. Tönnies wird dann später seiner Pension beraubt und die letzten Jahre seines Lebens, er stirbt am 9. April, verbringt er in bitterer Armut.
 
Im Vorgriff ist eine Anekdote aus dem Jahr 1935 überliefernswert. Tönnies trifft im Hausflur eine Frau, die für das Winterhilfswerk sammelt. Sie hebt den Arm und sagt „Heil Hitler“. Tönnies: „In meinem Haus sagt man nicht >Heil Hitler<“. Das berichtet die Frau in ihrer Behörde und Tönnies wird aufgefordert in die Wohlfahrtsbehörde zu kommen. Dort wird er zur Rede gestellt, ob er wirklich gesagt habe, in meinem Haus…nicht. Tönnies sagt dann, Ja, das hätte er und würde es auch so meinen. Daraufhin sagt der Mann im Wohlfahrtsamt „Ja, Herr Professor, dann müssen sie ja sehr alt sein“. Tönnies erkennt intuitiv die Bedeutung einer derartigen Erklärung eines Unerklärlichen (wieso grüßt der nicht mit „Heil Hitler“?) mit dem Alter. Treffend berichtet er seiner Tochter Franziska nach der Rückkehr aus dem Wohlfahrtsamt: „Nun habe ich einen Jagdschein und bin sehr alt“7.
 
Der Schwiegersohn Ferdinand Tönnies, Rudolf Heberle berichtet über die Verwendung des Hitlergrußes im Institut für Weltwirtschaft im Jahr 1934:

„Zum Beispiel der Hitlergruß – ich habe ihn erst angewandt, als es allgemein für Beamte befohlen wurde, und habe oft beobachtet, daß alte nationalsozialistische Studenten mich im Institut mit Kopfnicken oder Verbeugung grüßten, während frischgebackene Nazis mich mit „Heil Hitler” begrüßten. Die Anpassung an all diese neuen Konventionen bedeutet für Leute mit einigem Rückgrat eine fortdauernde Serie von Demütigungen.8

Auf der Abschlusskundgebung der NSDAP zur Landtagswahl in Preußen im April 1932 spricht Adolf Hitler in Kiel. Es versammeln sich auf dem Nordmarksportfeld, bei einer kostenpflichtigen Veranstaltung, 60.000 Menschen (fast soviele sind auch 1997 auf dem Norder als Michael Jackson in Kiel auftritt). Bereits bei den Reichspräsidentenwahlen 1932 (erster Wahlgang 13. März – zweiter Wahlgang 10. April) ergreifen die „Kieler Neuesten Nachrichten“, die auflagenstärkste Tageszeitung in Schleswig-Holstein, „eindeutig für Hitler Partei“9.
 
Am 29. Mai 1932 gewinnt die NSDAP bei den Landtagswahlen in Oldenburg10 die absolute Mehrheit. Knapp fünf Wochen später, am 27. Juli werden hunderte SA-Männer zu Hilfpolizisten gemacht. Das Argument lautet, man wäre als einzige nationalsozialistische Landesregierung einer besonderen Gefährdung durch kommunistische Agitation ausgesetzt11. Die zur Hilfspolizei veredelte SA beginnt umgehend die Linke zu terrorisieren. Die Schleswig-Holsteinische Volkszeitung vom 10. August 1932 berichtet von hunderten von SA-Männern, die mit Handgranaten bewaffnet ein „Schreckensregiment“ errichten. Das wird auch im kaum 50 Kilometer entfernt gelegenen Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr wahrgenommen. Und in Kiel kommt es nach einem Aufruf des SS-Mannes Wilhelm Sievers12 am 10. März 1933 zur Absetzung des Oberbürgermeisters Emil Lueken, einer Besetzung des Kieler Rathauses durch SA, SS und Stahlhelm und einer Selbsternennung des NSDAP-Mannes Walter Behrens einen Tag später. In der Nacht zum 12. März wird der auch am Institut bekannte – Freundeskreis Tönnies, Reichsbanner wie Colm und Neisser – Rechtsanwalt Wilhelm Spiegel in seiner Wohnung erschossen. Dieser eindeutig Nazis zuzuordnende Mord (Es gibt Zeugen, die in der fraglichen Nacht Leute in SA-Uniformen vor dem Haus sehen) wird ebenfalls von der NSDAP verwendet, um ihre Mordtaten fortzusetzen. Das ist ein sich stets wiederholendes Muster: Immer wieder kommt es zu Gewalttaten gegen Menschen die die Republik repräsentieren – auf welcher Ebene auch immer. Diese Gewalttaten werden dann der Republik zugeordnet (meist Kommunisten, Sozialdemokraten; manchmal werden auch Privatfehden oder persönliche Racheakte als Gründe angegeben). Einerseits wird die Gewalt dann dazu verwendet die Gewalt gegen die Republikaner selbst (oder sonstige, aus welchen Gründen auch immer, Mißliebige) weiterzutreiben. Andererseits wird in der Öffentlichkeit der Eindruck erzeugt, nur die NSDAP garantiere jetzt noch die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Zugleich weiß aber im Grunde seines Verstandes jeder Bürger, dass die Mörder die Nazis sind. Diese Funktion der Gewalt muss unstetig sein, das heißt nicht berechenbar. Jeder Republikaner muss wissen, dass ihn die Gewalt treffen kann, niemand darf wissen wann es ihn trifft.

Die politische Säuberung des Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr

Nachdem die liberalen und konservativen Parteien Ende März 1933 der NSDAP im Reichstag per Ermächtigungsgesetz freie Hand geben, ist eine der ersten Maßnahmen der Regierung das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933. Dort wird im § 3 geregelt, dass Beamte, die „nicht arischer Abstammung sind” in den Ruhestand zu versetzen sind. Ausnahmen waren zunächst für Veteranen des ersten Weltkrieges sowie für vor 1914 verbeamtete Personen vorgesehen. Nach § 4 können dann auch Beamte, die “nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten” entlassen werden. Im Juli 1933 wird dann ein § 2a eingeführt, nachdem auch Beamte, „die der kommunistischen Partei oder kommunistischen Hilfs- oder Ersatzorganisationen angehören oder sich sonst im kommunistischen Sinne betätigt haben“, aus dem Dienst zu entlassen sind. Weiter heißt es im Absatz 2: „Zu entlassen sind auch Beamte, die sich in Zukunft im marxistischen (kommunistischen oder sozialdemokratischen) Sinne betätigen.“ Die Hierarchie der Ziele ergibt sich aus der Fortzahlung der Bezüge. Die Politischen können mit maximal drei Monatsgehältern rechnen.
 
Damit ist für Gerhard Colm, Hans Neisser und viele andere im Institut für Weltwirtschaft der Knoten geschnürt, zumal sie im Sinne des Gesetzes multipel betroffen sind. Unter den § 2a fallen Colm und Neisser als Mitglied des Reichsbanners, einer republikanischen Organisation von Kriegsveteranen, der auch die späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss13 und Gustav Heinemann angehören. Unter den § 2a (2) fallen sie als Sozialdemokraten. Nach § 3 gelten sie als Juden und nach § 4 sind sie generell politisch unzuverlässig.
 
Noch aber gibt es rechtsstaaliche Verfahren, deren Sinn und Leistung in der Inanspruchnahme von Zeit besteht. So dauert es bis zum Herbst, bis die Verfahren Colm und Neisser abgeschlossen sind. In der Zwischenzeit übt sich die SA in Selbstjustiz. Übergriffe der studentischen SA gibt es an der Kieler Universität bereits vor 1933. Die Vorlesungen von republikanischen Professoren werden gesprengt. Jetzt aber werden Wissenschaftler in ihren Büros von nationalsozialistischen Studenten heimgesucht. Und der Mob kommt nicht von draußen. Der SA-Mann und Schüler Adolf Löwes, Walther G. Hoffmann14 vertreibt Hans Neisser und Gerhard Colm persönlich mit einem Knüppel aus den Räumen des Institutes. Bernhard Harms, der noch Direktor des Institutes ist, kann sie noch einmal zurückholen, bleibt aber gegenüber weiteren SA-Attacken machtlos. Und nun kann man auch verstehen welche Panikanfälle die Sprengungen von Vorlesungen 1968 bei den Professoren auslöst, die in den zwanziger Jahren als Studenten militante Mitglieder der NSDAP sind und deren kaum gebrochene Karrieren dann in die bundesdeutsche Wissenschaftselite führen werden.
 
Mit dem Fortgang Bernhard Harms, der am 29. Mai 1933 durch das Gesuch, von der Leitung des Institutes entbunden zu werden, eingeleitet und am 30. September 1933 vollzogen wird, ist die Phase der politischen Säuberung des Institutes beendet.

Die Sozial- und Wirtschaftslehre des Nationalsozialismus am Institut für Weltwirtschaft

Der Nachfolger in der Leitung des Instituts wird Jens Jessen. Dieser tritt als einer der ersten renommierten liberalen Wirtschaftswissenschaftler 1930 in die NSDAP ein. Er entwirft dann eine wirtschaftsliberale Theorie des Nationalsozialismus. Seine Vision zielt darauf “eine Stätte zu schaffen, an der die Sozial- und Wirtschaftslehre des Nationalsozialismus ein zentrales Studium findet”.
 
Die internationalen Geldgeber werden hellhörig. Die Rockefeller-Foundation schickt das schwedische Ehepaar Alva und Gunnar Myrdal nach Kiel. Sie sollen das Institut evaluieren. Sie kommen zu folgender Beurteilung Jens Jessens:

“Als Mensch ist er ehrlich, aber naiv, ein jugendbewegter puritanischer Typ. Er ist fähig, Dinge von einem moralischen Standpunkt aus zu betrachten15, aber das macht ihn nicht weniger gefährlich, da er ein rechter Prinzipienreiter ist, geradezu doktrinär, was die Nazi-Ideen über Rasse und nationale Gesinnung16 als erste Prioritäten betrifft . . . Sein Fanatismus könnte ihn hindern, so weitsichtig und vorsichtig zu sein, wie er sonst wohl geneigt wäre…17

Neben diesen eher persönlichen Einschätzungen folgt dann eine politische Bewertung. Die Myrdals halten Jens Jessen für einen „bedeutenden Mann“ in der Nazibewegung, einen Ratgeber des Kultusministeriums, der am Institut als „Robespierre“ der Nationalsozialistischen Revolution gehandelt wird und sich selbst zu den wichtigsten Männern in der NSDAP zählt18.
 
Das Vorhaben, das Institut anzuverwandeln mißlingt. Und dies nicht aus Gründen, die in der Struktur des verbleibenden Personals liegen, sondern weil sie den Erwartungen der NSDAP zuwiderlaufen. Die NSDAP ist wie ein Wirtschaftsunternehmen organisiert. Die Führung wird nicht gewählt, sondern ermächtigt sich selbst oder wird kooptiert. Das Ansinnen Jessens ist mit der Einrichtung einer Abteilung im Unternehmen zu vergleichen, die Vorstandsbeschlüsse in Frage stellt. Und auch die Unternehmensidentität einer praktischen Religionsgemeinschaft, als Feindin anderer Religionen, macht Theorie sinnlos. Deshalb kommen auch andere Ideologen aus der NSDAP nicht dauerhaft zum Zug.
 
So häufen sich Schwierigkeiten mit der NSDAP einerseits und den internationalen Finanziers andererseits. Seine Abberufung hängt dann konkret mit einem Kommunikationsfehler zusammen. Otto Ohlendorf, ein Jessenschüler und Mitglied der NSDAP seit 1925, kommt mit ihm an das Institut und wird Direktionalassistent des Institutes für Weltwirtschaft und Seeverkehr. Dieser gibt einen Bericht weiter, in dem zu lesen ist, dass der Gründer des Nationalsozialistischen Studentenbundes und Führer des Kieler NSStB Joachim Haupt sich abfällig über Innenminister Wilhelm Frick äußert. Dieser hat nicht nur als Staatsbeamter, wie es in Bayern damals üblich war, polizeilich gesuchten Mördern aus den Freikorps falsche Pässe ausgestellt, sondern auch beim Hitlerputsch 1923 dafür gesorgt, dass die Münchener Polizei zunächst nicht ausrückt. Nun ist Frick als NSDAP-Mann und Innenminister einer der mächtigsten Männer Deutschlands und Joachim Haupt, inzwischen Ministerialrat im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Haupt sorgt dafür, dass Jessens Arbeitszimmer aufgebrochen wird, Akten entwendet und ins Haus Buchenhagen19 gebracht werden.
 
Zu überliefern ist, dass das Weltwirtschaftliche Archiv bis Oktober 1933 mit dem Untertitel: „Zeitschrift des Institutes für Weltwirtschaft und Seeverkehr“ erscheint, der im Januar 1934 „Zeitschrift des Institutes für Weltwirtschaft“ lautet. So erhält das Institut seinen heutigen Namen.

In diesen Zusammenhang gehört die einsetzende Enttäuschung vieler rechter Intellektueller, die die NSDAP zunächst unterstützt haben. Diese Enttäuschung hat Jessen in den aktiven Widerstand geführt. Er hat sich nach seinem Fortgang aus Kiel wohl nicht sehr zurückhaltend gegenüber dem Naziregime geäußert20 und Erdmann21 sieht ihn sogar als „Erfinder“ des Attentats vom 20. Juli. Sicher ist, dass er am 7. November 1944 wegen Nichtanzeige einer hoch- und landesverräterischen Straftat (Attentat vom 20. Juli) zum Tode verurteilt und am 30. des Monats gehängt wird. Man wird sich bei der Beurteilung des deutschen Widerstandes die Tatsache zu vergegenwärtigen haben, dass sich die russischen Soldaten unter entsetzlichen Opfern22 bis ins Zentrum des Reiches durchkämpfen müssen, ohne dass sie Unterstützung durch deutsche Widerstandsaktionen bekommen.
 
Die frühe Enttäuschung über die Politik der NSDAP gibt einen bedeutenden Einblick in die Erwartungen der liberalen Anhänger der NSDAP. Paradigmatisch steht hierfür die Figur Hans Freyers, der von 1922 bis 1925 als Ordinarius für Kulturphilosophie an der Universität Kiel tätig ist, 1925 auf ersten deutschen Lehrstuhl für Soziologie überhaupt berufen wird und 1933 Nachfolger Ferdinand Tönnies als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie wird. 1937 schreibt er: „Ob sich mit Mitteln einer Schreckensherrschaft ein politisches Volk formieren und nicht immer bloß einen Cesare-Borgia-Staat, eine Romagna, aufbauen kann, läßt sich mit Fug und Recht bezweifeln.“23
 
Freyer wird der Irrtum, in der NSDAP eine Kraft zur politischen Erneuerung Deutschlands gesehen zu haben, nach dem 30. Juni 1934 klar. Er erkennt, dass sie Gewalt als politische Währung etabliert und nicht von der Bewegung zur Partei wird. Im Fortgang der Ereignisse wird die Gewalt dabei eskaliert. „ … die Mittel werden ganz von selbst immer schärfer, immer grausamer, immer tyrannischer …“.24 Das Resultat der Herrschaft der NSDAP ist dann eine schrittweise Verrohung des Landes, die in einem sechs Jahre währenden Krieg mündet, in dem dann auch die industrielle Tötung in Vernichtungslagern25 nichts Anderes als Gleichgültigkeit zeitigt.
 
Anders als auf der Linken26, findet auf der Rechten keine öffentliche selbstbezügliche Reflektion über den eigenen Glauben statt.27 „Ein Gott der keiner war“ ist eine schlechte Übersetzung von „The god that failed“. Der Gott der Linken, der in die Irre ging, ist die kollektive Lösung. Es ist der Glaube, dass es für alle Probleme kollektive Lösungen gibt. Der Abschied von diesem Glauben heißt nicht sich generell von kollektiven Lösungen zu verabschieden, sondern von der Generalsierung von Kollektivlösungen für Alles und Jedes. Hinzu kommt, dass die Positionierung von Kollektivlösungen auf der Ebene von Interaktion, das heißt direkter Kommunikation unter Anwesenden, die schon vorhandenen Kollektivlösungen, die viel abstrakter ansetzen, wie Geld, Macht, Recht, Wissen nicht so recht wahrzunehmen in der Lage ist. Der Gott der Rechten ist die individuelle Lösung. Diese findet sich in einem immerwährenden Wettbewerb Aller gegen Alle auf dem Schlachtboden des Blutes (was ja beliebig modernisierbar ist).

Faschistische Normalität am Institut für Weltwirtschaft

Nach Jens Jessen wird Andreas Predöhl am 12. Juli neuer Leiter des Institutes für Weltwirtschaft. Für die nichtverfolgten Deutschen bricht nun eine gute Zeit an, in der sich die wirtschaftliche Lage rasch bessert, man arbeitet, ein Häuschen baut und für die Familie sorgt. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Sie liegt 1932 bei über 30 Prozent, halbiert sich bis 1934 und sinkt dann bis 1938 auf unter fünf Prozent. Die Steuerbelastung steigt im gleichen Zeitraum von sieben auf zwanzig Prozent des Bruttosozialproduktes und die Staatsausgaben von sechs auf 30 Prozent. Im Jahr 1938 erreicht Hitlers Popularität ihren Höhepunkt. Weder vorher, noch nachher erreicht ein(e) deutsche(r) Kanzler(in) eine derartige Zustimmung in der Bevölkerung.
 
Das Institut wird nun staatlich finanziert und die NSDAP läßt das Institut weitgehend in Ruhe. Es ist zu vermuten, dass die latente Gewaltdrohung durch die NSDAP beim verbliebenen Personal gar kaum wahrgenommen wird; man ist ja nicht betroffen.
 
Der am Institut für Weltwirtschaft tätige Soziologe Rudolf Heberle ist wohl ein Beispiel für eine gewisse Normalität des „Nichtverfolgtseins“. Er schreibt 1934 seine Eindrücke in ein Notizbuch28.

Man weiß genau, daß der radikale vollkommene Nationalsozialismus, wie alle Kulturgüter des Liberalismus, auch die Freiheit der Wissenschaft negiert, aber man macht sich vor, daß die Freiheit der Wissenschaft von den „vernünftigen Nationalsozialisten” geschützt werden werde (wobei ich die Frage offen lassen will, ob nicht auch der Nationalsozialismus in the long run Freiheit der Wissenschaft [auch der Sozialwissenschaft] b r a u c h t ).29

In diesem Bericht findet sich eine gewisse tastende Unsicherheit über den Fortgang der Herrschaft der NSDAP. Rudolf Heberle kommt in seinen zeitgenössischen soziologischen Beobachtungen aber doch zu Resultaten, die sein Tasten eigentlich unsinnig machen. So schreibt er nur eine Seite später:

Der Nationalsozialismus ist nicht nur für viele seiner Anhänger, psychologisch gesehen, ein Religionsersatz … was sich u. a. in dem häufigen Gebrauch biblischer Phraseologie in nationalsozialistischen Reden zeigt — sondern die NSDAP beansprucht für das Gebiet der Öffentlichen Meinung genau dieselbe Stellung, die die römische Kirche für das Gebiet des Glaubens in Anspruch nimmt. Sie kann daher wissenschaftliche Forschung nicht dulden, wenn sie zu Ergebnissen führt, welche mit den Dogmen des Nationalsozialismus in absolutem Widerspruch stehen.30

Die doch noch vorhandene Vielfalt der Haltungen beschreibt Heberle in einer Gruppenanalyse, die sehr gut die Stimmungslage im Institut wiedergibt und deshalb ausführlich wiedergegeben wird31. Hier geht es um die Verhaltensweisen der Institutsmitarbeiter.

Einige, die ehrlich, aber nicht sehr klardenkend sind, haben ganz bewußt das Opfer des Intellekts gebracht und sich entschlossen unter Bruch mit ihrem bisherigen Standpunkt zum neuen Regime bekannt; sie arbeiten aktiv mit, wo sie können, und versuchen, sich den Geist des NS zu eigen zu machen.

Diese erste Gruppe besteht aus Menschen im Institut, die unter veränderten Rahmenbedingungen das tun, was sie vorher auch taten. Sie arbeiten, ventilieren neue Aufstiegschancen und schätzen die Umstellung der Diskurse ab. Sie wollen in Kiel leben und ihre Familien durchbringen. Hier muss darauf hingewiesen werden, dass die verheerende Deflationspolitik der Brüningjahre dazu führt, dass die gesamte Bevölkerung an den Abgrund ihrer eigenen Existenz geführt wird. In diesem Prozeß zentriert sich das Sein um das Überleben, nichts fürchtet man mehr, als seine Stelle zu verlieren. Heberle formuliert: „Hätte nicht jedermann um den Verlust seiner Stellung gezittert, so würde sich viel mehr Widerstand erhoben haben“32. Die These, dass Deflationspolitik den Faschismus wahrscheinlicher macht, ist völlig richtig.

Eine zweite Kategorie sind diejenigen, die im Herbst 1932 Hitler noch für den Gottseibeiuns hielten, seit dem 5. März oder seit dem 1. Mai aber behaupten, sie seien eigentlich schon immer innerlich nationalsozialistisch gewesen, sie hätten die Bewegung nur verkannt, es sei ja gerade das, was sie immer gewollt hätten.

„Gottseibeiuns“ ist volkstümlich der Teufel. Es handelt sich um Angestellte und Beamte am Institut für Weltwirtschaft, die vor 1933 die Nazis bekämpfen und danach einwilligen. Das ist in Deutschland schon komisch, dass so etwas wie ein zynischer Umgang mit den Tatsachen kaum verbreitet ist. Warum nicht sich den als notwendig erkannten Mitgliedsausweis besorgen und die Füße stillhalten. Nein, da muss man dann noch die anhängenden Überzeugungen ins intellektuelle Inventar aufnehmen. Denn: „Ehrliche Opportunisten, die offen erklären, man müsse eben mit den Wölfen heulen und sich keine Rechtfertigungsideologie machen, sind selten.“
 
Eine vierte Gruppe sind diejenigen, die unter Vertrauten offen reden und sonst die Klappe halten. Es muss daran erinnert werden, wie anstrengend das ist. Gegenüber den sichtbaren Verbrechen der Nazis zu schweigen, wird bei diesen Mitarbeitern manchmal schlaflose Nächte erzeugt haben oder, was noch schlimmer ist, Alpträume, dass tagsüber die eigene Haltung auffliegt. Deshalb müht man sich dann tagsüber das Gewissen verborgen zu halten. Hannah Arendt formuliert treffend: „Der Tag wird der Nacht zum Alptraum und umgekehrt“.33

Häufiger schon die stillen Oppositionellen, die sich von allen öffentlichen Angelegenheiten fernhalten und nur unter vier Augen einmal ihrem Herzen Luft machen. Dazu gehören viele Deutschnationale und Konservative.

Die fünfte Gruppe besteht nach Heberles Meinung aus Mitarbeitern, die nicht nur ihre Überzeugung wechseln, sondern sich dazu noch besonders eifrig in die neuen Gepflogenheiten schicken. Das sind dann Leute, die jedes Wort auf die Goldwaage des Führers legen und jede Geste nach der politischen Korrektheit abklopfen.

Am eifrigsten in der Beteuerung ihrer nationalsozialistischen Gesinnung waren die politisch vorbelasteten „Märzgefallenen”34; a l t e Pgs verhielten sich vielen neuen Erscheinungen und Maßnahmen gegenüber viel kritischer und benahmen sich auch denen, die nicht geschwenkt waren, gegenüber geschmack- und taktvoller.

Hannah Arendet schreibt zutreffend: „Die Situation eines Nazigegners ähnelte dem Schicksal eines normalen Menschen, der zufällig in eine Nervenheilanstalt gesteckt wird, in der alle Insassen an ein und derselben Wahnvorstellung leiden“35.
 
In diese fünf neuen Haltungsgruppen zerfällt das Institut im Jahr 1934 und wie ja auch zu lesen ist, die alten Pgs, die alten Nazis gibt es als sechste Gruppe. Heberle hat einen gesunden Zynismus: „Eintritt in die SA die unvermeidliche Konsequenz…meine Stellung am Institut so lange wie möglich im Dienste der Opposition gegen das nationalsozialistische Regime auszunutzen …“36. Das war sehr richtig gedacht. Wenn man aktiv Widerstand leisten will, muss man einer Nazi-Organisation beitreten, um sich zu tarnen. Das ist in Deutschland wohl nach wie vor nur schwer zu verstehen. Jedenfalls versucht man nach dem Krieg mit Unterscheidungen wie Mitglied – Nichtmitglied die Dinge zu entnazifizieren. Bitter.
 
Die „Philosphie“ Rudolf Heberles kann mit dem Satz beschrieben werden „Es gibt ein richtiges Leben im falschen“37. Er kommt bis 1936 sogar für einen Lehrstuhl in Frage. Offensichtlich denunzieren ihn aber Studenten wegen “marxistischer“ Äußerungen. Dann gerät er in die Mühlen und verläßt noch rechtzeitig im Juni 1938 Deutschland.
 
Er versucht, und auch das ist symptomatisch, für die Soziologie auch im Nationalsozialismus einen Ort zu finden. Dieser ist Praxis. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1936 mit dem Titel „Bau und Gefüge der Truppe“ definiert er am praktischen Beispiel die soziologische Aufgabe als eine Art Funktionswissenschaft, die die „Verbindung vieler Individuen zu einem zuverlässigen und schlagkräftigen Verbandshandeln“ erklärt38. Und genau so eine Praxisvorstellung, die im Grunde das Verbrecherische des Regimes abschattet, ist dann die „wissenschaftliche Hauptströmung“ im Institut für Weltwirtschaft.
 
In einer Art vorgezogenem Bolognaprozess findet am Institut für Weltwirtschaft eine strikt praktische Ausrichtung statt. Das wird auch in den Arbeiten der anderen Wissenschaftler deutlich. Andreas Predöhl, der 1934 die Leitung des Institutes für Weltwirtschaft übernimmt, ist Bernhard Harms Schüler, bei dem er 1921 promoviert. Dann wird er dessen Assistent und habilitiert sich über Standorttheorie im Jahr 1924. Diese Arbeit wird 1928 auf Englisch im „Journal of Political Economy“ erscheinen. Predöhl hat also auch international eine Hausnummer. Allerdings hat er das Programm einer Standorttheorie nie eingelöst. Nach 1933 schreibt Predöhl39 einige Aufsätze zur Industrialisierung und zur Verkehrspolitik. Sein großes Thema ist Autarkie und Großraumwirtschaft, wobei er versucht, immer Anschluss an die wirtschaftsliberale Tradition zu halten.

Daß wir die liberalistische Wirtschaftstheorie überwinden müssen, ist selbstverständlich. Aber wir dürfen auch nicht in romantische Vorstellungen zurückgleiten, um dem Liberalismus zu entgehen. Das Ziel liegt vorn, und es ist ohne wesentliche Opfer an wissenschaftlicher Substanz zu erreichen. Es gilt, die formalen Regeln der exakten Wirtschaftstheorie in den Dienst der neuen Idee zu stellen, die zum Instrument geläuterte Wirtschaftstheorie in die deutsche Volkswirtschaftslehre einzubauen.40

Allerdings hat es die Wissenschaft auch am Institut für Weltwirtschaft schwer. In den Jahren 1933 bis 1944 erscheint in Deutschland nur ein einziges international rezipiertes Werk der Sozialtheorie, Arnold Gehlens „Der Mensch“.

Wissenschaft und Verbrechen am Institut für Weltwirtschaft

Das heißt nicht, dass am Institut keine wissenschaftliche Arbeit stattfindet. Die von Löwe, Colm und Neisser begeisterten Studenten sind ja noch da und formulieren ihre Dissertationen. Und es gibt auch andere kluge Studenten und Wissenschaftler. Und die Gutachten werden sogar mehr. Allein zwischen Januar 1941 und April 1944 liefert die Abteilung „Marktforschung und Statistik“ 2.000 davon ab. Es gibt eine nach 1945 aufgestellte Liste, welche die Gesamtzahl aller in allen Abteilungen angefertigten Gutachten von 1938 bis 1945 mit 890 Titeln angibt41. Es muss als gesicherte Erkenntnis gelten, dass tausende von Gutachten für die NSDAP und ihre Untergliederungen nach 1945 vernichtet werden. Wenn man bedenkt, dass die NSDAP die Kriegführung bis 1942 aus der wirtschaftlichen Ausplünderung der besetzten Länder finanzieren kann, ist klar, worum es sich gutachterlich im Institut für Weltwirtschaft in diesen Jahren handelt42. Es sind „praktische“ Fragen der Bevölkerungszusammensetzung, Wirtschaftskraft, Rohstoffe und so weiter…
 
Der Krieg kommt nicht als mögliche Ursache der Vernichtung von Archivalien in Frage. Es geht während eines Bombenangriffs auf Kiel 1942 das gesamte Archiv des Ersten Weltkriegs mit einer Million Zeitungsausschnitten verloren. Der gesamte restliche Bestand ist aber vorher stückweise und unversehrt nach Segeberg und Ratzeburg in den Dom ausgelagert. Von dort kommt aber nicht alles zurück. Ein Teil soll nach Flensburg ausgeliehen sein, wo sich in den letzten Kriegstagen die Reste der SS unter der Regierung Dönitz versammeln.
 
Hinzu kommen der Mörder Otto Ohlendorf und der Mordsideologe Helmut Meinhold. Beide sind in den dreißiger Jahren im Institut angestellt. Ohlendorf wird nach 1941 Leiter der Einsatzgruppe D, die in der Südukraine und im Kaukasus die Vernichtung der Juden betreibt. Er wird 1948 wegen 90.000 fachen Mordes zum Tode verurteilt und 1951 hingerichtet. Er ist einer von 24 NSDAP-Führern, die hingerichtet werden.
 
Helmut Meinold, nach 1936 als Assistent am Institut tätig, bringt es in der Bundesrepublik bis in den Sozialbeirat des Bundestages. Die Grünen verlangen 1986 seine Abberufung: Im Antrag heißt es:

In seinen Wirtschaftsexpertisen erwog Prof. Dr. Meinhold die Möglichkeit der Aussiedlung aller Polen, er verlangte eine „Herabsetzung der Bevölkerungsdichte des Generalgouvernements” und sah seine wirtschafts- und bevölkerungspolitischen Zielsetzungen durch die „Lösung der Judenfrage” erreicht, wenn auch nur zum Teil. Er unterstützte „vor allem die Möglichkeit (…), daß durch die Regelung der Judenfrage eine Anzahl von Arbeitsplätzen frei wird und gleichzeitig eine allerdings nicht ausreichende Verminderung der Volkszahl eintritt43

Diese Logik des Krieges gebietet den Tod von Millionen, um die Lebensmittelversorgung im Reich und an den Fronten aufrecht zu erhalten. Vielleicht waren es auch solche Fragen, die im Institut nach 1941 bearbeitet werden. Die grauenhafte Zeit endet und Hannah Arendt schreibt nach einem Besuch in Deutschland 1949 :

Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer 1000jährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen ein Achselzucken übrig haben oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, daß die Geschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist. Und man möchte aufschreien: Aber das ist doch nicht wirklich – wirklich sind die Ruinen; wirklich ist das vergangene Grauen, wirklich sind die Toten, die ihr vergessen habt. Doch die Angesprochenen sind lebende Gespenster, die man mit Worten, mit Argumenten, mit dem Blick menschlicher Augen und der Trauer menschlicher Herzen nicht mehr erreichen kann.44

 
 

  1. Die Begriffe Faschisierung, Faschismus sollen darauf aufmerksam machen, dass es sich nicht um ein deutsches Problem handelt. Nach dem Ersten Weltkrieg breitet sich in ganz Europa eine faschistische Bewegung aus, die im zweiten Kriegsjahr fast den gesamten Kontinent im Würgegriff hat. []
  2. Hans Neisser, Sozialstatistische Analyse des Wahlergebnisses, in: Die Arbeit 7/1930, S. 654. Ulkigerweise in der Suchmaske http://library.fes.de/cgi-bin/populo/arbeit.pl als „Sozialistische Analyse …“ verlinkt. []
  3. Rudolf Heberle, Landbevölkerung und Nationalsozialismus. Eine soziologische Untersuchung der politischen Willensbildung in Schleswig-Holstein 1918-1932, Stuttgart 1963. Das Buch ist 1934 druckfertig, findet aber keinen Verlag. So erscheint es auf Deutsch erstmals 1963. []
  4. Als Primärquelle von Neumünster aus beobachtet: Hans Fallada: Bauern, Bonzen und Bomben, zuerst Reinbek, 1931. []
  5. Heberle, S. 150. []
  6. Christoph Dieckmann, Wirtschaftsforschung für den Großraum. Zur Theorie und Praxis des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und des Hamburger Welt-Wirtschafts-Archivs im “Dritten Reich”, in: Götz Aly u.a., Modelle für ein deutsches Europa. Ökonomie und Herrschaft im Großwirtschaftsraum. Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, S. 187f. []
  7. Ausführlich: Uwe Carstens, „In meinem Haus sagt man nicht >Heil Hitler<!, in Tönnies Forum 1/1993, S. 5. Der Mann hat einen „Jagdschein“ ist eine noch ältere Bezeichnung für das altsprachliche „der Mann ist geisteskrank“. Modern sind psychische Störungen gemeint. []
  8. Rudolf Heberle, Zur Soziologie der nationalsozialistischen Revolution, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 4/1965, S. 439f. []
  9. Mario Göhring, Vom bürgerlich-nationalistischen Blatt zur “gleichgeschalteten” Zeitung – Die KIELER NEUESTE NACHRICHTEN 1930 – 1934, http://www.akens.org/akens/texte/info/27/20.html#a52. Vgl. Auch Gerd Günter Kopper, Zeitungsideologie und Zeitungsgewerbe in der Region. Eine Fallstudie zu den politischen Voraussetzungen und Strukturbedingungen der Konzentration in Schleswig-Holstein 1945 – 1970. Düsseldorf 1972, S. 44. Interessant ist, dass ab 1945 die „Kieler Nachrichten“ eine Lizenz nur unter der Auflage erhalten, einen politischen Aufpasser ins Blatt zu nehmen. Das ist der Kieler Oberbürgermeister Willi Koch, der bis 1968 die oberste Etage des KN-Hauses bewohnen wird. []
  10. Der Freistaat Oldenburg umfaßte neben dem niedersächsischen Teil zwischen Ostfriesland und Bremen auch die Exklaven Birkenfeld (heute Rheinland-Pfalz) und den Landesteil Lübeck (bis 1970 Kreis Eutin). []
  11. Hermann Diercks, Denkschrift zur Eingliederung des Oldenburgischen Landesteils Lübeck in die Provinz Schleswig-Holstein am 1. April 1937, Plön i. Holstein 1937, 103ff.. []
  12. Wilhelm Sievers ist von 1955 bis 1959 Stadtpräsident der Stadt Kiel. Sein Bild in der Ahnengalerie der Stadt wird Anfang 2013 entfernt. http://www.kn-online.de/Lokales/Kiel/Fuer-Sievers-ist-im-Rathaus-kein-Platz-mehr []
  13. Theodor Heuss ist 1933 Mitglied des Reichstages und einer von fünf Abgeordneten der Staatspartei, dem kümmerlichen Rest des parteipolitischen Liberalismus in Deutschland. Heuss wird mit der Fraktion für das Ermächtigungsgesetz stimmen, auch weil Brüning für das Zentrum, der Partei der Katholiken, mit der NSDAP abgemacht hat, dass „ihre“ Beamten im Dienst bleiben und im Gegenzug das Zentrum dem Ermächtigungsgesetz zustimmt. Dieser Deal verleiht dem Naziregime völlig überflüssige Legalität. Der spätere Direktor des Instituts für Weltwirtschaft, Fritz Baade, 1933 Reichstagsabgeordneter der SPD, die als einzige Fraktion gegen das Gesetz stimmt (die KPD ist schon verboten und verfolgt), sagt unmittelbar nach seiner Rückkehr aus den USA, dass einige Zentrumsabgeordnete wohl auch mit Mord bedroht worden seien. []
  14. Hoffmann reist 1948 nach New York und besucht Adolph Lowe. Er trägt vor, dass er sich den Nazis nicht angeschlossen hätte, wenn er gewußt hätte, wie es ausgeht und fragt an, ob man nicht wieder in Verbindung treten könne. Lowe lehnt ab. []
  15. Jessen protestiert gegen die Sprengung der Lehrveranstaltungen von Hans von Hentig. []
  16. „Gesinnung“ im englischen Original. Mind, sentiment, conviction, opinion trifft das Gemeinte nicht. []
  17. Regina Schlüter-Ahrens, Der Volkswirt Jens Jessen, Marburg 2001, S. 42. []
  18. Ebenda, S. 43 []
  19. Haus Buchenhagen, schräg gegenüber dem Institut für Weltwirtschaft gelegen, war ein Schulungslager in der Trägerschaft der Kieler Studentenschaft, das sich bereits seit 1930 in den Händen des NSStB befindet. Der leider viel zu früh verstorbene Kieler Rechtswissenschaftler und ehemalige Rektor der CAU Jörn Eckart berichtet hierüber auf den Seiten 55-58 in seiner Abhandlung „Was war die Kieler Schule?“, in: F. J. Säcker (Hg.), Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus, Ringvorlesung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel = Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlungen (NF) Bd. 1 (1992), S. 37 – 70. []
  20. Carsten Stahmer, Hildegard Bartels Lehr- und Wanderjahre. http://www.carsten-stahmer.de/downloads/HP.2010-03.Bartels.Lehr-und_Wanderjahre.pdf []
  21. Karl Dietrich Erdmann, Wissenschaft im dritten Reich, Vortrag anlässlich der 300-Jahr-Feier der Universität gehalten am 3. Juni 1965. http://www.uni-kiel.de/ns-zeit/sonstiges/erdmann.pdf []
  22. Dazu gehören 3,5 Millionen russische Kriegsgefangene, die die Wehrmacht verhungern läßt. Die Verteidigung Stalingrads bezahlen 500.000 russische Soldaten mit ihrem Leben. Noch in der Schlacht an den Seelower Höhen vom 16. bis zum 19. April 1945 sterben 70.000 russische Soldaten. []
  23. Hans Freyer, Machiavelli, Leipzig 1938, S. 150. []
  24. Hans Freyer, Preußentum und Aufklärung, Leipzig 1944, S. 68f. []
  25. Lars Clausen, der große Kieler Soziologe, findet in seinem Buch: Produktive Arbeit, destruktive Arbeit, Berlin, New York 1988 folgende Worte: „Anti-Arbeit“ wäre eine Aktivität – besser: Tätigkeit – mit dem Ziel sozialer Vernichtung. Als Gegenteil von Daseinsvorsorge eine Nichtseinsvorsorge.“ S. 72. []
  26. Ein Gott der keiner war. Arthur Koestler, Ignazio Silone, André Gide, Louis Fischer, Richard Wright, Stephen Spender schildern ihren Weg zum Kommunismus und ihre Abkehr. Konstanz/Zürich/Wien 1950. []
  27. Jerry Z. Muller, The Other God that Failed: Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism. Princeton 1987 []
  28. Heberle 1965 []
  29. Ebenda, S. 444. []
  30. Ebenda, S. 445. []
  31. Die Gruppen der Verhaltensweisen sind auf den Seiten 438f. zu finden. []
  32. Ebenda, S.440. []
  33. Hannah Arendt, Besuch in Deutschland 1950. Die Nachwirkungen des Naziregimes, in: dieselbe, Zur Zeit, Berlin 1986, S. 58. []
  34. Die „Märzgefallenen“ bezeichnen zunächst die in der Märzrevolution 1848 gefallenen Berliner Arbeiter. Später werden so die im März 1933 politisch Umgefallenen benannt. []
  35. Arendt, S. 57. []
  36. Zitiert nach: Klaus R. Schroeter, Kieler Soziologie im Nationalsozialismus, in: Hans-Christian Petersen, Expertisen für die Praxis – Das Kieler Institut für Weltwirtschaft 1933 – 1945, in: Christoph Cornelsen und Carsten Misch (Hg.), Wissenschaft an der Grenze. Die Universität Kiel im Nationalsozialismus, Essen 2009, S. 188. []
  37. Unschwer als Dementi des Sinnspruchs Adornos: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Ders., Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Ffm 1951, S. 59.) zu erkennen. []
  38. Rudolf Heberle, in: Soldatentum. Zeitschrift für Wehrpsychologie, Wehrerziehung, Führerauslese, 3/1936, S. 113. []
  39. Einen knappen Überblick über das wissenschaftliche Werk Predöhls mit nachvollziehbaren Folgerungen zu seinem politischen Verhalten bietet Johannes Bröcker, Deutsche Raumwirtschaftstheoretiker in der Zeit von 1933 bis 1945 auf den Seiten 2 – 11. https://www.uni-hohenheim.de/fileadmin/einrichtungen/gdw/Tagungen/Broecker_zu_Raumforschung_33-45.pdf []
  40. Andreas Predöhl, Gesamte Staatswissenschaft und exakte Wirtschaftstheorie, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Ergänzungsheft 95, 1935, S.114. []
  41. Hans-Christian Petersen, Expertisen für die Praxis – Das Kieler Institut für Weltwirtschaft 1933 – 1945, in: Christoph Cornelsen und Carsten Misch (Hg.), Wissenschaft an der Grenze. Die Universität Kiel im Nationalsozialismus, Essen 2009, S. 70. []
  42. Ausführlich Dieckmann, S. 146ff. []
  43. Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode, Drucksache 10/5798. Ausführlich bei Susane Heim und Götz Aly, Ein Berater der Macht : Helmut Meinhold oder der Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und Judenvernichtung, Hamburg 1986. []
  44. Arendt, S. 51. []

Johannes Stremme

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