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Die “silent revolution” in Zeiten der EU-Parlamentswahl

Jetzt vor den Wahlen zum Europäischen Parlament geht es für die Regierungsparteien EU-weit natürlich zunächst einmal darum, die Bevölkerungen nicht zu beunruhigen, so dass diese mit ihrer Stimme in das für sie aufgestellte Gatter laufen, auf dessen Eingang “staatsbürgerliche Vernunft” geschrieben steht. Der bevorstehende Urnengang soll den Führungsetagen der sogenannten Volksparteien wieder mit kalkulierbarer Sicherheit ihre überwältigenden Mehrheiten bescheren, damit sie dann den neoliberalen Kurs auch abgesichert über die noch am stärksten demokratisch legitimierte EU-Instanz, das Parlament, gegen die grundlegenden Interessen der Mehrheit fortsetzen können. Die Mehrheit kann sich dann hinterher traditionell über den Kurs, den die meisten ihrer RepräsentantInnen ohne Widerstand abnicken, beschweren. Und die RepräsentantInnen wiederum können auf die freie Wahlentscheidung der Mehrheit verweisen, von der sie schließlich demokratisch legitimiert wurden. Diese absurde Rollenverteilung besteht auf nationaler Ebene hierzulande schon einige Jahrzehnte, wobei eine sich zuspitzende Entwicklung darin liegt, dass die regierungsrotierenden Parteien programmatisch immer weniger unterscheidbar voneinander sind, so dass selbst jenen Menschen, die noch mit der demokratischen Theorie der gymnasialen Oberstufe herumlaufen (= plurale Verhältnisse, Volksherrschaft, Chanchengerechtigkeit, Abwesenheit relativ geschlossener Eliten etc. etc.) allmählich auffallen müsste, dass der Ausdruck Formaldemokratie doch empirisch gar nicht so unangemessen ist.

Warum kommt es zu keiner Drehbuchänderung? Wer Hinweise für eine Antwort auf diese Frage haben möchte, der oder die sei z.B. auf sozialpsychologische Arbeiten verwiesen, die ein grundlegendes Motiv zur Systemrechtfertigung nahe legen, das mitverantwortlich dafür sein dürfte, dass man den status quo auch in Anbetracht großer eigener Nachteile aufrecht erhält: “A Decade of System Justification Theory” (Jost, Banaji & Nosek, 2004).

Ich bleibe jedoch beim Thema der EU-Parlamentswahlen und des Bemühens der Machthabenden, besser gesagt, ihrer InteressenvertreterInnen in den Regierungen, jenen verflixten Moment in der Demokratie, in dem die Bevölkerungen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können, möglichst schnell und problemlos über die Bühne zu bringen. Auch wenn es nicht gelingt an diesem Umstand der Architektenkunst von Wahlergebnissen grundlegend etwas zu ändern, so sollte man doch der eigenen Verantwortung nachkommen und Verwandten, Bekannten, Vertrauten und sonstigen Mitmenschen vor Augen halten, dass der Kurs, den die RegierungsvertreterInnen getragen von ihren (sog.) Volksparteien EU-weit eingeschlagen haben, alles andere als ein wünschenswerter ist, auch wenn momentan die Mainstreammedien besonders bemüht darum sind, die Eurokrise herunterzuspielen und Anzeichen der Besserung in die Zahlen zu BIP oder Staatsschuldenentwicklung hineinzudeuten.

Man sollte sich jedoch vor Augen halten: Was in den letzten Jahren passiert ist, war ein ökonomischer Putsch, über dessen Tragweite sich wenige im Klaren sein dürften. Wer noch einmal ein paar Ergebnisse der Kombination von Finanzkrise, Eurokrise und angeschlossener Kürzungspolitik betrachten möchte, sei auf diese wenigen Folien verwiesen. Sie eignen sich vielleicht auch gut, sie auszudrucken und noch einmal im Bekanntenkreis herumzureichen, um deutlich zu machen, mit welcher gesellschaftlichen Erschütterung (besonders in Bezug auf die explodierende (Jugend-)Massenarbeitslosigkeit) wir es zu tun haben. Hierbei lohnt sich vielleicht auch, auf Aussagen der meinungsführenden Figuren des Neoliberalismus zu verweisen, die deutlich machen, dass die Kürzungspolitik nicht etwa nach hinten losging, indem sie die ökonomische Situation nach Ausbruch der Krise dramatisch verschlechtert hat, sondern dass sie im Gegenteil den nützlichen Effekt hatte, die gewünschte politische Richtung radikaler Lohnsenkung und Sozialkürzung auch in den bisher recht widerspenstigen Ländern (besonders Südeuropa) durchführen zu können:

[…]
Interviewer: „Aber das sind doch zwei unterschiedliche Dinge: Zum einen die Sparprogramme der Regierungen. Zum anderen Maßnahmen zur Lohnsenkung, die ein Land wieder wettbewerbsfähig machen sollen?“
Hans-Werner Sinn: „Das ist dasselbe: Die Sparprogramme führen zu Wirtschaftsflaute und Arbeitslosigkeit. Damit sinken die Löhne und das Preisniveau, und die Wettbewerbsfähigkeit wird wieder hergestellt. Das geht im Euro nur durch ein Tal der Tränen.“

(Frankfurter Rundschau, 23.11.2012)

Der grundlegendere ökonomische und somit gesellschaftliche Putschcharakter dürfte von vielen jedoch noch weniger erkannt worden sein, als die genannten akuten Ausdrucksformen der Krise in der EU. Es wurden nämlich nicht nur flüchtige Lohn- und Sozialkürzungen im Zuge der Krise durchgepeitscht, sondern EU-weit kam es zur Installation einer neuen Governance-Struktur, d.h. eines Systems von zusätzlichen Vereinbarungen und Regeln (z.B. Euro-Plus-Pakt, Sixpack, Fiskalpakt), das die zukünftige Wirtschaftspolitik innerhalb der EU-Staaten noch weiter in Richtung Ausgabeneinschränkung, Rentensystemabbau, Gesundheitssystemdemontage, Lohnstagnation etc. führen wird. In Südeuropa wurden die Gewerkschaften zudem massiv geschwächt und das Tarifsystem geradezu umgekrempelt, indem die Ebene der Lohnaushandlung weg vom Flächentarifvertrag, bei dem die Lohnabhängigen in starker Organisation auftreten konnten, hin zum Haustarifvertrag oder gar zur Tariflosigkeit verlagert wurde, so dass der hierdurch eingeleitete Unterbietungswettbewerb innerhalb dieser Länder und (durch gemeinsamen Binnenmarkt und gemeinsame Währung) über die Ländergrenzen hinweg, maßgeblichen Einfluss auf die Lebens- und Arbeitssituation der abhängig Beschäftigten in der EU/Eurozone entfalten wird.

Wer sich über dieses ökonomische Putsch-Programm, das von der Bevölkerung besonders hierzulande kaum zur Kenntnis genommen, bzw. in seiner Tragweite erkannt worden sein dürfte, genauer informieren möchte, sei auf zwei sehr gelungene Texte der – erstaunlich? – Friedrich-Ebert-Stiftung verwiesen:

“Eurokrise, Austerität und das Europäische Sozialmodell – Wie die Krisenpolitik in Südeuropa die soziale Dimension der EU bedroht” (November 2012)

“Sollbruchstelle Krisenkurs – Auswirkungen der neuen Wirtschaftsgovernance auf das Europäische Sozialmodell” (November 2013)

Wer es lieber audiovisuell hat, sei auf einen Vortrag des Tarifexperten der Hans-Böckler-Stiftung, Thorsten Schulten verwiesen, der sich intensiv mit der Umstrukturierung des Tarifvertragssystem im Zuge der Krisenprogramme beschäftigt hat (die ersten Minuten sind theoretisch orientiert, ab Min. 6 wird es dann konkret):

“Erzwungene Konvergenz? Europäische Krisenpolitik und ihre Auswirkungen für Löhne und Tarifverhandlungen” (Dezember 2013)

Wer sich mit der Befundlage zur EU-Krisenpolitik auseinandergesetzt hat, fragt sich anschließend keine Sekunde mehr, warum EU-Kommissionspräsident Barroso für die neu eingeführte Governance-Struktur innerhalb der EU stolz von einer “silent revolution” sprach. Es liegt an jedem/jeder von uns, die Stille um diese Revolution zu durchbrechen. Die EU-Parlamentswahl, mit der in solchen Zeiten erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit, ist eine gute Gelegenheit hierzu.

Nachtrag:

Es sei noch darauf hingewiesen, dass ein Gutachten im Auftrag der Arbeitskammer Wien zu dem Schluss kommt, dass die Austeritätspolitik im Rahmen der Memoranda of Understanding (MoU), also jener Vereinbarungen, die solche Staaten unterzeichnen mussten, die Notkredite von der EU (vertreten durch EU-Kommission und EZB) in Anspruch nahmen, gegen geltendes Recht verstößt, wie es etwa in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder EU-Grundrechtecharta (GRCh) verbrieft ist. Zitat:

“Durch ihre Beteiligung an der Aushandlung, dem Abschluss und der Durchsetzung der MoU verletzen die Unionsorgane das Primärrecht. Sie handeln rechtswidrig. Im Einzelnen sind die folgenden Rechte verletzt: die Rechte auf Berufsfreiheit, Tarifautonomie und Arbeitsentgelt nach Art. 27 bis 32 GRCh i.V.m. Art. 1 bis 6, 24 RESC, Art. 6 bis 8 UN-Sozialpakt, Art. 11 EMRK, Art. 27 UN-Behindertenkonvention und den ILO-Kernarbeitsnormen; das Menschenrecht auf Wohnung und soziale Sicherheit aus Art. 34 GRCh i.V.m. Art. 12 und 13 RESC, Art. 9 und 11 UN-Sozialpakt und Art. 2, 3, 8 und 14 EMRK; das Menschenrecht auf Gesundheit nach Art. 35 GRCh i.V.m. Art. 11 RESC, Art. 12 UN-Sozialpakt, Art. 2, 3 und 8 EMRK und Art. 25 UN-Behindertenkonvention; das Menschenrecht auf Bildung nach Art. 14 GRCh i.V.m. Art. 9 und 10 RESC, Art. 2 ZP IEMRK, Art. 13 UN-Sozialpakt, Art. 24 UN-Behindertenkonvention und Art. 28 UN-Kinderrechtskonvention; das Menschenrecht auf Eigentum nach Art. 17 GRCh i.V.m. Art. 1 des ZP I zur EMRK sowie das Recht auf gute Verwaltung nach Art. 41 GRCh i.V.m. Art. 6 EMRK. Eine Eingriffsrechtfertigung scheidet aus folgenden Gründen aus: […]”
(Andreas Fischer-Lescano, Austeritätspolitik und Menschenrechte – Rechtspflichten der Unionsorgane beim Abschluss von Memoranda of Understanding, Gutenachten vom Dezember 2013)

Jascha Jaworski

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