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Mindestlohn: Weder armutsfest noch impulsgebend für die Lohnentwicklungen

Selbst fortschrittliche Ökonomen wie Hickel und Hirschel feiern den Mindestlohn quasi als Ende des neoliberalen Zeitalters in Deutschland, dabei ist das Ergebnis in Hinblick auf über 15 Jahre Lohnzurückhaltung makroökonomisch betrachtet eine Bankrotterklärung. Eine eher willkürlich gewählte Mindestlohnhöhe von 8,50 Euro, die sich nicht aus Eigenschaften der aktuellen Einkommensverteilung (Anteil am mittleren/durchschnittlichen Lohn) herleitet oder zumindest automatisch um die jeweilige Inflationsrate anwächst. Die Gewerkschaften hätten die geschärfte öffentliche Aufmerksamkeit zum Thema nutzen können, um über Festlegungskonzepte für den Mindestlohn den Menschen die Notwendigkeit steigender Löhne zu verdeutlichen und Druck auf die Parteien auszuüben, den Mindestlohn regelmäßig automatisch anzupassen1 [1], anstatt sich für jede Steigerung in einen Verhandlungsmarathon innerhalb einer Kommission begeben zu müssen. Das dauerhafte Festhalten an 8,50€2 [2] des DGB seit Mai 2010 wirkt inkonsequent und letztlich verblödend auf die Bevölkerung, da dieser zur Einführung (1.1.2015) nur noch 7,50€3 [3] Wert haben wird. Und bei der ersten Gelegenheit zu seiner Anpassung (1.1.2018) real nur noch bei 7,28€4 [4] liegen wird. Bei rapide abfallender Tarifbindung, die 2012 bei 58%5 [5] – 1995 waren es noch 76%6 [6] – angekommen ist, wären Impulse von unten auf die Lohnentwicklung ungemein wichtig.

Aber auch bei der Bekämpfung von Armutslöhnen hat man sich mit der Mindestlohnhöhe häufig nicht einmal an das Niveau eines Hartz-IV-Aufstockers heran gewagt, betrachtet man einen Single mit Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von mind. 345€ (betrifft 41,1% aller Wohnungen in Deutschland) [7] und maximalem Zuverdienst. Ganz davon abgesehen, dass Deutschland mit der gewählten geringen Mindestlohnhöhe immer noch gegen die Europäische Sozialcharta verstößt, wird also die staatliche Belohnung für die Anbieter eines Niedriglohnjobs nicht unterbunden.

Der „beste“ Niedriglohnsektor Europas

Laut dem Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ, mit Daten vom SOEP) hatten 2012 8,4 Millionen Menschen einen Niedriglohnjob7 [8], das entspricht einem Anteil von 24,3% der abhängig Beschäftigten. 1995 waren es mit 5,9 Millionen Menschen im Niedriglohnsektor noch 2,5 Millionen Menschen weniger, der Zuwachs der Niedriglohnjobs beschränkt sich dabei fast ausschließlich auf Westdeutschland (92%), in Ostdeutschland war der Niedriglohnanteil 2012 mit 36,5% dennoch bedeutend größer. Ein Großteil aller Niedriglöhner*innen verfügt über eine Berufsausbildung, nur 24,5% von ihnen kann keine Berufsausbildung vorweisen und 8,6% haben sogar einen (Fach-)Hochschulabschluss. Der Frauenanteil aller Niedriglöhner*innen beträgt 62,6%.

In Europa nimmt Deutschland laut Eurostat (2010) neben den baltischen Staaten, Polen und Rumänien einen Spitzenplatz bei der Größe des Niedriglohnsektors ein (auch England und Zypern können da mithalten). Zudem findet es sich in der Gesellschaft von Staaten mit einem dezentralen Tarifsystem wieder, bei dem die Verhandlungen über Lohn- und Arbeitsbedingungen häufig auf der Betriebsebene ansetzen.

minimumwage [9]

Interessanterweise verfügen hier alle Länder mit einem Niedriglohnanteil von über 15% über einen nationalen Mindestlohn, nur wenige Länder der EU, die einen nationalen Mindestlohn einsetzen, schaffen es, Niedriglohnarbeit effektiv zu bekämpfen. In Belgien und Frankreich ist der Niedriglohnsektor tatsächlich relativ klein (6%), dies gelingt ansonsten nur in den skandinavischen Ländern (3%-8%) ähnlich gut, in denen zwar kein nationaler Mindestlohn existiert, die gewerkschaftliche Organisationsmacht jedoch sehr hoch ist. Auch in Italien ist der Niederiglohnsektor trotz fehlendem nationalen Mindestlohn mit 12% verhältnismäßig klein, was vermutlich der hohen Tarifbindung zu verdanken ist. Trotz geringer Tarifbindung bringt es Luxemburg aufgrund eines hohen Mindestlohns auf einen einigermaßen geringen Niedriglohnanteil von 13%. Es wird also zumindest ein hoher Mindestlohn benötigt, um Niedriglohnarbeit zu bekämpfen. Eine hohe Tarifbindung kann zusätzlich das Ausweichen der Löhne gerade unterhalb der Niedriglohnschwelle verhindern. Deutschland verfügt momentan über keines dieser Instrumente. Überraschend schlecht schneiden die Niederlande mit 18% Niedriglöhner*innen ab, dort müssen bei Jugendlichen unter 23 allerdings die großzügigsten Abschläge vom Mindestlohn hingenommen werden.

Ausnahmen für Jugendliche treiben Niedriglöhne an

Schaut man sich das Ausmaß des Niedriglohnsektors der unter 30-jährigen an, so lassen sich Rückschlüsse auf den Niedriglohnanteil unter Jugendlichen ziehen.

minimumwage-u30 [10]

Die Niederlande (46%) und Großbritannien (40%) lassen in dieser Darstellung sogar Deutschland (38%) hinter sich. Offenbar wurde in diesen Ländern Niedriglohnarbeit auf Kosten von Jugendlichen zurückgedrängt, weil die nationalen Mindestlöhne erst mit 23 bzw. 21 Jahren gelten (45,5% bzw. 80% des üblichen Mindestlohns; unter 18 Jahren noch weniger [11]). In den Niederlanden besteht das Supermarkt-Personal inzwischen zu 50% aus Jugendlichen. Auch Luxemburg und Belgien fallen aufgrund von Sonderregelungen für Jugendliche hier hinter Frankreich zurück. Auf Ausnahmen für Jugendliche (und sonstige Personenkreise) muss also verzichtet werden, wenn man den Niedriglohnsektor effektiv bekämpfen will.

Die Mindestlohnhöhe

Zur Einschätzung der Höhe des geplanten Mindestlohns ist es sinnvoll die 8,50€ mit einigen Bruttostundenlöhnen (38h pro Woche) von Geringverdiener*innen zu vergleichen und ihre Konformität mit der europäischen Sozialcharta zu prüfen:

Erwerbstätiger mit ALG2 (Single, max. Zuverdienst, kommunale Mietobergrenze, 60€/M. Heizung) [2013]:

8,92€ (Kiel)

9,75€ (Düsseldorf)

10,49€ (München)

Mindestlohn für Rente oberhalb der Grundsicherung (45 Beitragsjahre, 37,7 h pro Woche) [2012]:

10.40€

Europäische Sozialcharta (60% des durchschnittlichen Nettolohns) [2013]:

12,82€

Ein Mindestlohn von  8,50€ reicht weder zum Verlassen des erbärmlichen Lohnniveaus eines Hartz iV-Aufstockers, noch um im Rentenalter nicht auf Grundsicherung angewiesen zu sein. Ein Mindestlohn von 12,82€ unabhängig vom Alter, wie es die europäische Sozialcharta fordert, wäre hingegen in der Lage die Arbeitgeber an der Kostenabwälzung auf den Staat zu hindern. Das “Mitwachsen” des Mindestlohns mit dem durchschnittlichen Lohn würde zudem makroökonomische Impulse setzen.

  1. Auch DIE LINKE hat es nicht geschafft ihre entsprechende längerfristige Forderung, Mindestlohn = 60% des durchschnittlichen Bruttolohns, aus dem Wahlprogramm in die Öffentlichkeit zu bringen [ [12]]
  2. als geringster Kompromiss der unterschiedlichen Gewerkschaften [ [13]]
  3. Annahme: Verteuerung der Verbraucherpreise +1% für 2014 [ [14]]
  4. Annahme: Verteuerung der Verbraucherpreise um jeweils +1% für 2014-2017 [ [15]]
  5. Quelle: WSI-Tarifarchiv [ [16]]
  6. Quelle: ICTWSS Database [ [17]]
  7. Anzahl der Beschäftigungsverhältnissen mit Entlohnung unterhalb des [bundeseinheitlichen] Schwellenwertes, der als 2/3 des mittleren Stundenlohn definiert ist [ [18]]