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Israel-Palästina-Konflikt – falsche Solidarität und falsche Erzählungen

Kann die öffentliche Meinung so weit beeinflusst werden, dass ihr ein Konflikt dauerhaft als etwas anderes dargestellt wird, als er tatsächlich ist? Ist es möglich Begrifflichkeiten so weit zu verdrehen und Fakten zu verbergen, dass die meisten Menschen z.B. hierzulande weder um zentrale historische Hintergrundereignisse, noch den rechtlichen Kontext, noch die Interessenslage bestimmter Hauptakteure in einer opferreichen Auseinandersetzung wissen?

Man kann davon ausgehen, dass dies bei sehr vielen Dingen der Fall ist, und es ist auch wenig erstaunlich, wenn man ein wenig darüber nachdenkt, wie öffentliche Meinungsbildung funktioniert und welche Rolle die Mainstreammedien dabei spielen. Sie sind und bleiben bislang, zumindest für die überwiegende Mehrheit der Menschen, der zentrale Zugang zu entfernten Lebenswelten, und sie entscheiden durch ihre strukturelle Aufstellung darüber, was aus der Realität anderer Erdteile die Informationsfilter passieren kann.

Es geht nicht darum, dass zentrale Informationen hierbei nicht grundsätzlich zur Verfügung stünden. Gerade in Zeiten des Internets tun sie dies. Sie werden auch durchaus in kleinen und kritischen Medien berichtet. Es geht auch nicht darum, dass nicht doch in den Leitmedien ab und an ein Beitrag aufkommt, der bisherige Deutungsmuster durch seine Präsentation bestimmter Fakten hinterfragt. Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass die öffentliche Meinung kein pflichtbewusster Detektiv ist, der sorgfältig Fakten sammelt, archiviert und sie miteinander in Beziehung setzt, um zu der wahrscheinlichsten Version der Geschehnisse zu gelangen. Die öffentliche Meinung beruht darauf, zu welchem Anteil bestimmte Darstellungen transportiert werden, sie beruht auf Wiederholung und dem Grad, mit dem Ereignisse und Einschätzungen sich leicht kommunizieren lassen (z.B. da es sich um griffige Formulierungen und vertraute Deutungsmuster handelt).

Menschenrechtsbrüche und Erzählungen zu ihrer Verdeckung

Bei den Kriegseinsätzen, die die israelische Regierung gegenüber den Menschen im Gazastreifen durchführt, sind mittlerweile nach UN-Angaben [1] 924 palästinensische Menschen ums Leben gekommen (Stand: 26.7.), von denen mehr als 73% Zivilisten waren. 200 000 Menschen auf palästinensischer Seite sind in Notunterkünften untergekommen und die humanitäre Lage verschlechtert sich von Tag zu Tag in Anbetracht u.a. eklatant mangelnder Wasser- und Elektrizitätsversorgung. Auf israelischer Seite sind 42 Menschen ums Leben gekommen, darunter 39 Soldaten und 2 israelische, sowie ein ausländischer Zivilist. So sehr auch jedes genommene Leben eine Tragödie ist, so fällt einem doch gleich die massive Asymmetrie im Ausmaß der Opfer dieses “Konfliktes” auf, der in der Mainstreampresse dennoch größtenteils so umrahmt wird, als würde es sich um ein unlösbares Eskalationsmuster handeln, bei dem auf das unverbesserliche Raketenschießen der einen die legitime Selbstverteidigung der anderen folgt.

Es gibt hierbei eine Reihe von Narrativen, die medial transportiert werden, ohne in der Breite hinterfragt zu werden. Hierdurch werden sie in der öffentlichen Meinung zur Wahrheit und bestimmen die Deutungsrealität. Dies wiederum ermöglicht, dass Israel, veranlasst durch seine Regierungsverantwortlichen, seit Jahrzehnten massive Brüche von Völkerrecht und Menschenrecht begehen kann, ohne dass etwa die europäischen Bevölkerungen von ihren Regierungen ernsthafte diplomatische Konsequenzen für diesen Staat einfordern.

Ein Artikel in “The Nation” entlarvt fünf Narrative, durch die die öffentliche Meinung vor dem eigentlichen Geschehen abgeschirmt wird, siehe “Five Israeli Talking Points on Gaza—Debunked” [2].

Der Autor geht dabei u.a. auf die transportierte Erzählung ein, dass Israel mit seinem militärischen Vorgehen gegen die palästinensischen Gebiete sein Recht auf Selbstverteidigung ausüben würde, wie es ihm gemäß Art. 51 UN-Charta zusteht. Hierbei verweist er auf eine Beurteilung des Internationalen Gerichtshofes, dass dies nicht der Fall sei. Ausgeblendet wird v.a. der Umstand, dass Israel gegenüber den palästinensischen Gebieten in der Beziehung einer Besatzungsmacht steht und den Palästinenser*innen bislang einen eigenen Staat ja gerade verweigert. Gemäß Völkerrecht ist eine Besatzungsmacht jedoch der von ihr besetzten Bevölkerung gegenüber zu einem besonderen Schutz verpflichtet.

Auch die Erzählung, dass Israel den Gazastreifen gar nicht mehr besetze, da es die illegalen Siedlungen aus diesem zurückgezogen habe, wird als falsch benannt, da Israel nach wie vor die Zugänge zum Gazastreifen über See, Land und Luft kontrolliert, u.a. um seine Blockade von Waren- und Personenverkehr gegenüber der Bevölkerung im Gazastreifen durchzusetzen.

Ebenfalls entkräftet wird die Erzählung davon, dass die bisherigen Kriegseinsätze gegen die palästinensische Bevölkerung lediglich eine Maßnahme gegen die Raketenbeschüsse auf das israelische Territorium gewesen seien. Hierbei verweist der Autor auf den empirisch dokumentierten Umstand, dass Israels militärische Eingriffe gerade auf jene Phasen folgten, in denen fast keine Raketen gegen Israel abgeschossen wurden, wohingegen von palästinensischer Seite aus der Anstieg in der Anzahl der Raketenabschüsse gerade in Reaktion auf die militärischen Einsätze erfolgte. (Hier [3] eine Grafik dazu, und hier [4] der gesonderte Artikel dazu). Auch in der jüngsten Eskalation, kam es, wie der Autor in Erinnerung ruft, zunächst zu militärischen Übergriffen in der Westbank (Operation Brother’s Keeper), mit Arresten für ungefähr 800 Menschen in der Westbank und neun getöteten Zivilisten, während der Autor zugleich darauf verweist, dass bis heute keine Beweise bezüglich einer palästinensischen Täterschaft der drei ermordeten israelischen Jugendlichen vorliegen, deren Suche als Grund für die damaligen Militäraktionen in der Westbank angegeben wurde.

Auch mit der Darstellung, dass es sich bei den israelischen Übergriffen um ein Vorgehen handele, das darauf ausgerichtet sei, zivile Opfer zu vermeiden, räumt der Autor auf, indem er auf Befunde von UN, sowie unterschiedlicher Menschenrechtsorganisationen verweist, die aufzeigen, wie sich Verhältnismäßigkeit im militärischen Vorgehen Israels gerade nicht erkennen lässt.

Die Erzählung davon, dass die Hamas die eigene Bevölkerung als Schutzschild verwende, wodurch das erhebliche Ausmaß ziviler Opfer auf palästinensischer Seite (s.o.) offenbar gerechtfertigt werden soll, wird wiederum dadurch entkräftet, dass Israel dieses Vorgehen auch bereits der Hisbollah im Libanon-Krieg von 2006 unterstellt hat, eine Behauptung, die gemäß Untersuchungen von Human Rights Watch jedoch nicht haltbar ist. Zudem verweist der Autor darauf, dass die Verwendung menschlicher Schutzschilde ein – natürlich humanitäres Völkerrecht brechendes – Handlungsmuster israelischer Soldaten in der Westbank war, wie u.a. Amnesty International in Untersuchungen festgestellt hat (siehe dazu auch hier [5] oder hier [6]).

Wertvolle Blicke hinter die Kulisse

Um sich ein angemesseneres Bild davon machen zu können, wie es um Verantwortlichkeiten in dem Konflikt zwischen beiden Seiten bestellt ist, gibt es jedoch weitere wertvolle Quellen, die stärker in das öffentliche Bewusstsein gebracht werden sollten. Bei der israelischen NGO “Breaking the Silence” etwa handelt es sich um eine Organisation ehemaliger und noch aktiver Soldat*innen, die über ihre Erfahrungen und die Lebensrealität als militärische Besatzer in den Palästinensergebieten berichten. Die Angaben, die mittlerweile von rund 1000 Soldat*innen gemacht wurden, sind dabei erschütternd. Sie berichten von willkürlicher Gewalt und Erniedrigung, die von militärischer Seite aus selbst gegenüber Kindern verübt wird und offenbar durch höhere Hierarchieebenen gewünscht ist. Sie zeigen dabei ein Bild auf, das sehr schnell verdeutlicht, wie Verzweiflung, Angst und Hass unter den Palästinenser*innen geradezu geschürt werden sollen. Hier sei verwiesen auf zwei SpiegelOnline-Artikel aus dem Jahr 2012: “Israelische Soldaten in besetzten Gebieten: >>Wie im Wilden Westen<<“ [7] und “Gewalt gegen Kinder durch Israels Armee: Eingeschüchtert, erniedrigt und verletzt” [8] (siehe auch das 2012 herausgegebene Buch [9]).

Eine solche Organisation ist besonders wichtig, um sich ein Bild der Geschehnisse zu machen, da es sich um unabhängige Angaben zahlreicher Menschen handelt, die ihre direkten Erfahrungen schildern und die sich als Soldat*innen selbst auf der Seite jener befanden, gegen die die Anschuldigungen erhoben werden. Staatliche Propaganda zur Unterdrückung solcher Informationen kann einer derartigen Organisation mit den üblichen Mitteln der Diffamierung, des Befangenheitsvorwurfs, der Kategorisierung als “Ausnahme” somit nur schwer beikommen, weshalb das Interesse auf Regierungsseite in erster Linie auch darin bestehen dürfte, dass derartige Informationen von der öffentlichen Meinung möglichst wenig zur Kenntnis genommen werden, lassen sie doch erkennen, worum es bei der militärischen Praxis in den besetzten Palästinensergebieten den politisch Verantwortlichen Israels bei der Duldung derartiger Bedingungen gehen dürfte. Hierzu der Mitbegründer von “Breaking the Silence”, Yehuda Shaul, in der Frankfurter Rundschau vom 4.6.2014 [10]:

“Unsere Berichte ähneln einander, was die Beständigkeit der militärischen Vorgehensweise bestätigt. So bekommen neue Rekruten noch immer ähnliche Aufträge wie wir damals, obwohl die palästinensische Gewalt seit den Tagen der zweiten Intifada dramatisch zurückgegangen ist. Soldaten operieren noch heute in gleicher Weise, um >>die Routine im Alltag zu unterbrechen<<, damit die Palästinenser sich >>gejagt fühlen<<.”

Die problematische Rolle westlicher Medien für Palästinenser und Israelis

Wer nun einwendet, dass auch die westlichen Medien doch aber solche Stimmen zu Wort kommen lassen, weshalb mein eingangs geschilderter Vorwurf in Sachen öffentlicher Meinungsbildung unangemessen sei, sei erneut darauf verwiesen, dass es hier um die strukturelle Beschaffenheit der Medienberichterstattung geht. Den Mainstreammedien kommt die Aufgabe zu, derartige Informationen, wie sie durch eine Organisation wie “Breaking the Silence”, einige UN-Institutionen oder Menschenrechtsorganisationen zur Verfügung gestellt werden, möglichst von ihrem diagnostischen Gehalt zu befreien, sie in solchen Kontexten also, in denen sie gängige Erzählungen widerlegen würden, nicht als Befundquelle heranzuziehen. Fragmentierung und Dekontextualisierung sind hier die Schlagworte.

Dass eben auch und besonders in der Israel-Palästina-Frage eine systematische Verzerrung in der Medienberichterstattung vorliegt, machen etwa zahlreiche Studien aus dem US-Raum deutlich. Als ein Ausgangspunkt sei hierbei verwiesen auf den Artikel [11] eines Medienwissenschaftlers, der eine kleine Auflistung der Befundlage vornimmt, übersetztes Zitat:

“Die Liste der Studien, die eine proisraelische ideologische Verzerrung enthüllen, ist wesentlich länger als die abgekürzte Liste, die ich hier präsentiert habe, und ich habe noch nicht einmal die Verzerrung in der sogenannten rechten Presse dargelegt.

Innerhalb der nächsten 18 Monate wird wahrscheinlich eine Reihe akademischer Studien veröffentlicht werden, die die westliche Mediendarstellung der aktuellen Krise untersuchen. Ausgenommen unvorhergesehener und dramatischer Veränderungen im vorherrschenden journalistischen Paradigma wird das Ergebnis mit ziemlicher Sicherheit zeigen, dass – von einigen ausgewogenen Berichten abgesehen – die westliche Mediendarstellung israelische Leben gegenüber palästinensischen Leben priorisierte und erhöhte.

In Anbetracht derart zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten, die die US Medienberichterstattung kritisch beurteilen, und in Anbetracht der kritischen Berichterstattung über Israel, die in der israelischen Presse gefunden werden kann, wundert man sich schon, warum westliche Medienanbieter damit fortfahren, so schlecht zu arbeiten, wenn es um die Darstellung dieses wichtigen Themas geht.”1 (Mohamad Elmasry, incoming Assistant Professor in the Department of Communications at the University of North Alabama – Studies continually show strong pro-Israel bias in western media [11])

Abschließend sei noch daran erinnert, dass das Vorherrschen von Falscherzählungen, der Einfluss staatlicher PR und das Vorhandensein grundlegender Verzerrungen in der Medienberichterstattung für die israelische Seite gerade nicht etwas ist, das den israelischen Menschen zugute kommt. Nichtwissen, Irreführungen und Lügen tragen nicht dazu bei, eine dauerhafte Lösung zu finden, sie erhalten nur Zustände aufrecht, die sich in steigender Gewalt und wahrgenommener Auswegslosigkeit äußern. Die Lebensverhältnisse in Israel sind nach zahlreichen Berichten von zunehmendem Alltagsrassismus geprägt, es kommt zu vermehrten Übergriffen gegenüber Flüchtlingen, Meinungsäußerungen werden durch eine aufgeheizte und teilweise von Hass erfüllte Stimmung schwieriger. Auch an den Wahlergebnissen für rechtsextreme Parteien in Israel lässt sich ablesen, wie sich die Lage zuspitzt. Wer hier seinen Beitrag dazu leistet, die Realität des Konfliktes zu glätten und auf diese Weise zivilgesellschaftlichen Druck auf westliche Regierungen zu verhindern, die sich verstärkt für die Einhaltung von Völker- und Menschenrecht auf diplomatischem und politischem Wege einsetzen könnten, leistet gerade keine Solidarität, weder für die unterdrückten und gedemütigten palästinensischen Menschen, noch für die von Ängsten geplagten israelischen Menschen.

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Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz [12].

  1. Originalzitat: “The list of studies uncovering a pro-Israel ideological bias is much longer than the abbreviated list I’ve presented here and I have not even mentioned the bias in the so-called right-wing press.

    Within the next 18 months, a series of academic studies will likely be published examining western news coverage of the current crisis. Barring unforeseen and dramatic changes in the dominant western journalistic paradigm, the results will almost certainly show that – some balanced reporting notwithstanding – Western coverage prioritised and elevated Israeli life over Palestinian life. With so much scholarly work critically assessing US media coverage, and given the critical coverage of Israel that can be found in the Israeli press, one is left to wonder why western press outlets continue to perform so poorly when covering this important story.” [ [13]]