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Deutsche Regierung und EU irren: Griechische Regierung ist verpflichtet neoliberale Reformen zurückzunehmen!

Schäubles Aussagen in der Pressekonferenz mit dem griechischen Finanzminister Varoufakis und das Positionspapier der Bundesregierung zu Griechenland sind ein erneuter Angriff gegen das im Lissabon-Vertrag nochmals bestätigte Ziel des Europäischen Sozialstaats und damit ein Affront gegen legitime, nationale Reformen einer demokratisch gewählten Regierung. Die Argumentationsgrundlage der deutschen Seite bilden erzkonservative Floskeln nach dem Motto “ein Vertrag ist ein Vertrag” und “der Schuldner hat Schuld”. Ideen, deren dogmatische Auslegung historisch zu katastrophalen Entwicklungen in Deutschland führten (“Versailler Vertrag” zumindest als Katalysator für nationalsozialistische1 Radikalisierung),  bzw. den nach dem 2. Weltkrieg dringend notwendigen wirtschaftlichen Aufstieg2 verhindert hätten (Schuldenerlass über Londoner Schuldenkonferenz von 1953). Erschütternderweise ging Schäuble soweit, auch noch zu behaupten, sein Festhalten an der Austeritätspolitik begründe sich auch durch sein persönliches historisches Ringen um die europäische Einigung. Dabei waren es doch historisch gesehen gerade Verarmung und Arbeitslosigkeit aufgrund einer deflationären und wirtschaftsschädlichen Politik eines “christlichen” Politikers (Brüning), die den deutschen Nährboden für Weltkrieg und Faschismus bereiteten (um dabei nicht zu behaupten, dass wir kurz vor dem Wiederausbruch des Faschismus stehen würden).

Diese historischen Erkenntnisse spielten bei der Verfassung der “Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte” (UN, 1948) und des UN-Sozialpakts (1966, völkerrechtlich bindend), die weitgehende Sozialrechte enthalten, aber auch  bei der völkerrechtlich bindenden Europäischen Sozialcharta (1961) eine entscheidende Rolle. Die aktuelle griechische Regierung ist völkerrechtlich verpflichtet, Verstöße gegen die Europäische Sozialcharta zu beseitigen. Diese haben die EU-Institutionen und die nationalen Parlamente nämlich offiziell anerkannt. Es folgen eine Auswahl reformrelevanter Artikel der Sozialcharta:

Europäische Sozialcharta (Auszüge)

4. Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, das ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard sichert.
(Um die wirksame Ausübung des Rechts auf ein gerechtes Arbeitsentgelt zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt anzuerkennen, welches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. 4§1)
6. Alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben das Recht auf Kollektivverhandlungen.
(Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien, gemeinsame Beratungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu fördern; das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Fall von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen. 6§1; 6§4)
12. Alle Arbeitnehmer und ihre Angehörigen haben das Recht auf Soziale Sicherheit.
(Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Soziale Sicherheit zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: ein System der Sozialen Sicherheit einzuführen oder beizubehalten; das System der Sozialen Sicherheit auf einem befriedigenden Stand zu halten, der zumindest dem entspricht, der für die Ratifikation der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit erforderlich ist; sich zu bemühen, das System der Sozialen Sicherheit fortschreitend auf einen höheren Stand zu bringen. 12§1; 12§2; 12§3)
13. Jedermann hat das Recht auf Fürsorge, wenn er keine ausreichenden Mittel hat.
(Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Fürsorge zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien sicherzustellen, daß jedem, der nicht über ausreichende Mittel verfügt und sich diese auch nicht selbst oder von anderen, insbesondere durch Leistungen aus einem System der Sozialen Sicherheit, verschaffen kann, ausreichende Unterstützung und im Fall der Erkrankung die Betreuung, die seine Lage erfordert, gewährt werden. 13§1)
15. Jeder behinderte Mensch hat das Recht auf Eigenständigkeit,soziale Eingliederung und Teilhabe am Leben der Gemeinschaft.
(Um behinderten Menschen ungeachtet ihres Alters und der Art und Ursache ihrer Behinderung die wirksame Ausübung des Rechts auf Eigenständigkeit, soziale Eingliederung und Teilhabe am Leben der Gemeinschaft zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien insbesondere ihre vollständige soziale Eingliederung und volle Teilhabe am Leben der Gemeinschaft zu fördern, insbesondere durch Maßnahmen, einschließlich technischer Hilfen, die darauf gerichtet sind, Kommunikations- und Mobilitätshindernisse zu überwinden und ihnen den Zugang zu Beförderungsmitteln, Wohnraum, Freizeitmöglichkeiten und kulturellen Aktivitäten zu ermöglichen. 15§3)
23. Alle älteren Menschen haben das Recht auf sozialen Schutz.
(Um die wirksame Ausübung des Rechts älterer Menschen auf sozialen Schutz zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien, unmittelbar oder in Zusammenarbeit mit öffentlichen oder privaten Organisationen geeignete Maßnahmen zu ergreifen oder zu fördern, die insbesondere:
älteren Menschen die Möglichkeit geben sollen, so lange wie möglich vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu bleiben, und zwar durch ausreichende Mittel, die es ihnen ermöglichen, ein menschenwürdiges Leben zu führen und aktiv am öffentlichen, sozialen und kulturellen Leben teilzunehmen 23§1a;
älteren Menschen die Möglichkeit geben sollen, ihre Lebensweise frei zu wählen und in ihrer gewohnten Umgebung, solange sie dies wollen und können, ein eigenständiges Leben zu führen, und zwar durch die Bereitstellung von ihren Bedürfnissen und ihrem Gesundheitszustand entsprechenden Wohnungen oder von angemessenen Hilfen zur Anpassung der Wohnungen, die gesundheitliche Versorgung und die Dienste, die aufgrund ihres Zustands erforderlich sind 23§2a/b.)
24. Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf Schutz bei Kündigung.
30. Jedermann hat das Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung.
(Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien im Rahmen eines umfassenden und koordinierten Ansatzes Maßnahmen zu ergreifen, um für Personen, die in sozialer Ausgrenzung oder Armut leben oder Gefahr laufen, in eine solche Lage zu geraten, sowie für deren Familien den tatsächlichen Zugang insbesondere zur Beschäftigung, zu Wohnraum, zur Ausbildung, zum Unterricht, zur Kultur und zur Fürsorge zu fördern. 30§a)
31. Jedermann hat das Recht auf Wohnung.
(Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Wohnung zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien, Maßnahmen zu ergreifen, die darauf gerichtet sind: den Zugang zu Wohnraum mit ausreichendem Standard zu fördern; der Obdachlosigkeit vorzubeugen und sie mit dem Ziel der schrittweisen Beseitigung abzubauen; die Wohnkosten für Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, so zu gestalten, dass sie tragbar sind. 31§1; 31§2; 31§3)

Turin 18.10.1961, Ergänzungen: Straßburg 3.5.1996 (kursiv)

Es wird hier klar sichtbar, dass einige der sogenannten Strukturreformen in Südeuropa und anderen Ländern der europäischen Peripherie gegen die Sozialcharta verstoßen haben und somit rückgängig gemacht werden müssen.
In Griechenland verstoßen u.a. die folgenden Reformen gegen die Sozialcharta:

  • Durch die Senkung des Mindestlohns wurde das Recht auf ein gerechtes und lebensstandardsicherndes (Familie) Arbeitsentgelt verletzt.
  • Durch die Dezentralisierung des Tarifrechts (Branchenvertrag –> Firmenvertrag) und die dekrethafte Gehaltsreduzierung im öffentlichen Dienst wurde das Recht der Arbeitnehmer auf Kollektivverhandlungen massiv eingeschränkt.
  • Durch die Kürzung des Arbeitslosengeldes und seiner Bezugsdauer (bereits ca. 70% der Arbeitslosen sind Langzeitarbeitslose) wurde das Recht auf soziale Sicherheit verletzt (Reduzierung des Niveaus der sozialen Sicherheit).
  • Wegen einer nicht vorhandenen Sozialhilfe (300.000 Familien ohne Einkommen können sich nicht ernähren; Krankenversicherung nicht gewährleistet – ca. 30% bereits ohne KV) gibt es kein umgesetztes Recht auf Fürsorge.3
  • Durch die pauschale Kürzung von Pensionen ist das Recht älterer Menschen auf sozialen Schutz verletzt.
  • Durch die induzierte Obdachlosigkeit, Stromabschaltungen und Privatisierungen öffentlicher Wohnung ist das Recht auf Wohnung und auf Schutz vor sozialer Ausgrenzung verletzt.

Dass im Zuge der Austeritätspolitik in massiver Weise Verstöße u.a. gegen die Europäische Sozialcharta begangen wurden, hatte bereits im März 2014 das Europäische Parlament festgestellt.4  Man kann also sagen, dass für die Zurücknahme eines großen Teils der verordneten Reformen eine überaus überzeugende Grundlage, so auch im Sinne einer Einhaltung vorhandener Verträge gegeben ist. Hierauf sollten Aktivist_innen, sympathisierende Parteien und Organisationen immer wieder hinweisen, und sie sollten die EU und die deutsche Regierung in diesem Punkt herausfordern. Journalist_innen sollten sich zudem die Frage stellen, warum sie entweder die sozialen Rechte in der EU nicht kennen, oder warum sie die politischen und wirtschaftlichen Funktionseliten zu diesen Verfehlungen nicht befragen?

 

  1. 300.000 Griechen_innen verhungerten während des Nazi-Feldzuges in Griechenland []
  2. bishin zur hegemonial anmutenden Durchsetzungsstärke von neoliberalen Reformen []
  3. Versuche eine Sozialhilfe einzuführen würde mit Sicherheit nicht von der deutschen Regierung/EU unterstützt. []
  4. Wer weitere Quellen für Gutachten zur rechtlichen Beurteilung der Austerirätspolitik wünscht, kann sich an den Autor wenden []

Johannes Stremme

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