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Gegen die weltanschauliche Verödung

Von Zeit zu Zeit ist es sicherlich von Vorteil, wenn man sich vor Augen hält, welche Geschichten von der Welt in der Welt und somit in den Köpfen der Mitmenschen kursieren. Zwar mag man gerade jene Geschichten, die man selbst mit sich herumträgt für die sinnhaltigsten erachten und daher geneigt sein, sich gemütlich in ihnen einzurichten, doch da die hier gemeinten Geschichten auch von Werten und Zielvorstellungen handeln, sollten sie nicht allein dazu dienen, sich selbst oder seinen Vertrauten durch wiederholte Erzählung ein wohliges Gefühl der Zusammengehörigkeit zu geben. Dies ist wohl ein schöner Effekt, warum sollte der Zweck aber nicht auch darin liegen, zugleich an einer Welt mitzuwirken, die zunehmend deckungsgleicher mit jener Welt wird, die Inhalt der eigenen Geschichten ist? Derartiges kann dadurch erfolgen, dass man die Mitmenschen von diesen oder zumindest ähnlichen Geschichten zu überzeugen versucht, so dass jene sich in ihrem Handeln verstärkt an ihnen orientieren und sie auf diese Weise soziale Realität werden lassen.

Hierzu aber bietet es sich an, dass man die aktuellen Geschichten, die jeden Tag Realität sind, weil so viele Menschen nach ihnen handeln oder sie verbreiten, in ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden zu den eigenen ergründet. Dies nicht nur, um das Verhalten der Mitmenschen besser einordnen oder abschätzen zu können, sondern auch, um jene Mitmenschen zu finden, zwischen denen und sich selbst man zunächst einen großen inhaltlichen Graben zu sehen glaubte, der jedoch zu einer Detailfrage zusammenzuschrumpfen begann, in Anbetracht des Canyons an ablehnenswerten bis abscheulichen Geschichten, denen gegenüber man gemeinsam auf der gleichen Seite stehend sich mehr und mehr gewahr wird.

Wer die eifrigsten Geschichtenerzähler_innen auf der anderen Seite sind, die so viel Aufmerksamkeit für ihre häufig auf reiner Wiederholung als Stilmittel setzenden Geschichten erhalten, ist kein Geheimnis, erkennt man erst die Gemeinsamkeiten, die hinter der Oberflächenpluralität von Parteienlabels, Rollenverteilungen, Herkunft, Rhetorik, Einzelforderungen etc. hindurchschimmern. Hierzulande verüben sie ihre hegemoniale Wirkung auf die Bevölkerung v. a. unter Rückgriff auf Medienkonzerne wie Springer, Bertelsmann, Holtzbrinck, Burda, Bauer, ProSiebenSat.1 und Co., indem sie sich ein reiches Angebot an Verblödungsformaten nutzbar machen, über das sie ihre Botschaften verbreiten, Weltbilder erzeugen und den scheuen Wunsch nach Weltverständnis mit Illusionen oder Ablenkungen[1] betäuben. Immerhin besteht die Wahl (nach der Vorauswahl), am Zeitungsständer oder auf der Fernbedienung selbst darüber zu entscheiden, durch welchen Inhalt man vom Pfad des Wesentlichen abgebracht werden will[2]. Von dieser Pseudowahl ist auch die Rede in einer der Geschichten, die sie gern erzählen: die der Freiheit.

Selbige beschreiben sie mit bedeutungsschweren Worten und verkünden, dass es sie gegen zahlreiche Feinde zu verteidigen gilt, so etwa gegen Erkenntnisse aus einem zwar nicht neuen, jedoch aus der Mode geratenen linken Denken[3]. Sie versuchen die Menschen durch Talkshowscheindebatten den rein negativen Gehalt ihres Freiheitsbegriffs nicht bemerken zu lassen. Freiheit ist ihnen zufolge die Abwesenheit von Totalitarismus und Diktatur, mehr nicht. Alle übrige Freiheit ist die Freiheit des Eigennutzes, die Freiheit der Konzerne die Dinge auf der Welt mit Preisen abzukleben[4], Umweltschäden zu externalisieren, menschliche Lebenszeit in prekäre Beschäftigung zu lenken, den Mehrwert hieraus zu stehlen, um ihn anschließend in abenteuerliche Finanzmarktaktivitäten zu jagen, bei denen etwa die Kaufkraft von Menschen in der Dritten Welt durch Nahrungsmittelspekulation um überlebenswichtige Kalorien reduziert wird[5]. Definiert sich der Freiheitsbegriff, von dem sie erzählen, zu Weilen nicht ex negativo, so meint er nur die Freiheit vor dem Drogeriemarktregal zwischen sieben unterschiedlichen Bodylotions zu wählen oder die Freiheit in einen Zug zu steigen, um die eigene Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zu erkunden. Die Geschichte einer Freiheit, die sich auch nach innen definiert, die auf Emanzipation, kritischem Denken, der Ergründung eigener Wünsche, Widerspruch, oder gar geförderter Nonkonformität gründet, die hierzu jedoch auch soziale Sicherheit und die Dämpfung von Existenzängsten durch Umverteilung benötigt, solch eine Geschichte erzählen sie nicht, weil sie dann um ihre auf der Unfreiheit anderer beruhenden Besitztümer und Privilegien fürchten müssten.

Auch soziale Sicherheit ist in ihren Geschichten nur ein notwendiges Übel, das ja leider unter Ewigkeitsklausel in die Verfassung gesetzt wurde. Das Gnädige an Worten jedoch ist, dass sie mit vielerlei Inhalt gefüllt werden können und ihre Bedeutung sich beliebig weit von der ursprünglichen entfernen kann. So sind die Geschichtenerzähler_innen bemüht darum, auch hier gerade wieder den spärlichsten Begriff von sozialer Sicherheit zu etablieren. Einen Begriff, der nicht mehr enthält, als die Sicherheit nicht verhungern zu müssen. Sie setzen den Begriff ganz in den konservativen Kontext des Leistungsdenkens. Soziale Sicherheit nur insoweit, wie sie nicht jene, die den Mehrwert hervorbringen, durch verminderte Angst und das Ausbleiben von Demütigung darin bestärkt, nach dem Verbleib besagten Mehrwerts zu fragen. Soziale Sicherheit nur insoweit, wie man durch sie kein würdiges Leben erwarten darf, so dass ein jeder Mensch nur dann auf gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft zu hoffen wagt, wenn er sein Leben brav unter das Diktat einer von den Umfeldstrukturen erwarteten „Karriere“ stellt und in seiner Biographie nicht etwa tief ergründeten Wünschen, sondern assimilierenden Arbeitsmarktvorgaben folgt.

Auch die Geschichten von der Sicherheit im weiteren Sinne handeln nicht etwa von der Sicherheit am Ende des Lebens zurückzublicken und sich mit seinem Leben ehrlich identifizieren zu können oder von der Sicherheit, in einer Gesellschaft zu leben, die sich darum bemüht, verantwortungsvolle Geschöpfe hervorzubringen, denen über die konkreten und abstrakten, weltweiten Auswirkungen ihrer Handlungen nachzudenken, ein Notwendiges ist. Nein, der Begriff von Sicherheit in ihren Geschichten meint die Sicherheit, die es am Hindukusch zu verteidigen gilt, die Sicherheit, Handelswege für die heimische Wirtschaft mit Fregatten aufrecht zu erhalten. Er handelt von der Sicherheit, mit Geld Geld verdienen zu können, der Sicherheit, im Zweifelsfalle die gestern noch als enge Freunde gefeierten Nachbarn eher hungern zu lassen[6], als auch nur einmal an das heilige Eigentum heranzutreten, um Forderungen gegen Verbindlichkeiten zu streichen.

Die Geschichtenerzähler_innen greifen jedoch ebenso auf sehr konkrete Begriffe und Formulierungen zurück, um ihr Anliegen zu transportieren. Dies sind spätestens die Stellen, an denen man ihnen nachweisen kann, dass sie nicht bloß Geschichten mit unbestimmbarem Wahrheitsgehalt erzählen, sondern waschechte Märchen. So verkünden sie, dass die Vermögenskrisen unserer Zeit in Wahrheit Schuldenkrisen seien. Sie verkünden in Anbetracht jahrzehntelanger Verteilung von unten nach oben[7], die zu einem Geldvermögen führte, das bei sinkender Nachfrage[8] als natürliche Folge entweder sinkende Investitionen in Produktionskapazitäten, Privatverschuldung oder Auslandsverschuldung nach sich zog, und somit wiederum zahlreiche Probleme, diese Probleme doch nun dadurch zu lösen seien, dass wieder gespart werden müsse. Als wären es nicht per Konstruktion die „Ersparnisse“ hauptsächlich der Systemprofiteure, die die Gegenbuchung zu den Schulden des Staatssektors oder ganzer Volkswirtschaften darstellen. Die akkumulierten und realitätsfernen Privatvermögen sind so zwar das deutlichste Symbol der verpassten Möglichkeit von Menschen weltweit, am wachsenden Einkommensstrom teilzunehmen, um gerechtfertigte Bedürfnisse zu befriedigen, doch in den Geschichten der Systemträger und -profiteure kommen sie nicht vor. Sind diese Vermögen dann doch einmal gezwungenermaßen Bestandteil jener Fragen, die besagten Geschichtenerzähler_innen gestellt werden, greifen diese sogleich tiefer in die Märchenkiste und lassen jene Menschen, die häufig allein per Erb- und Eigentumsrecht an den Gegenwert für gar hunderttausende von Erwerbsleben gelangt sind, die anderen Menschen um selbigen Faktor transzendieren, um so berechtigte Kritik in platten Neid umzudeuten. Oder sie weisen denjenigen, die sonst irgendwann fragen würden in ihren Geschichten vorbeugend die Rollen sozialer Kontrahenten zu, um sie auf dem Schlachtfeld der Verteilung für ein paar abgenagte Knochen gegeneinander antreten zu lassen. Teile und herrsche!

Die eifrigsten unter den Geschichtenerzähler_innen wären hierbei jedoch nicht mehr als Störrauschen, gäbe es da nicht den geistigen Nährboden, auf dem die von ihnen abgesonderten Luftschwingungen erst ihre Bedeutung entfalten. Denn erst am Endpunkt, d. h. im einzelnen menschlichen Geist entstehen die eigentlichen Geschichten und es ist auch dieser Geist, der den Geschichten ihren Beitrag am Leid ermöglicht, indem er etwa Krieg führende Regierungen nicht abwählt oder für die Armen und Hungernden nicht stellvertretend ihr Recht einfordert. Agitierende Minderheiten mit ihren Institutionen haben so ein leichtes Spiel, ist die Mehrheit durch die Geschichten erst betäubt. Dieser Mehrheit jedoch gilt es durch alternative Erzählungen vor Augen zu halten, dass die Geschichten, die sie tagtäglich hören und zu Weilen auch tradieren, nicht mit der Welt identisch sind. Hierzu aber braucht es konsistent auftretende Minderheiten, um das Gedröhne der großen Geschichtenerzähler_innen zu durchbrechen und der Mehrheit eine Brücke über den weltanschaulichen Graben zu bauen, bevor er noch größer wird und immer mehr Menschen den Boden entzieht.

 


[2] Wesentlichkeit versteht sich hier als eine Näherung, die sich etwa darin äußern mag, dass einem gesellschaftliche und politische Entwicklungen, die das Leben sehr vieler Menschen betreffen, immer erklärlicher werden, ohne dass dieser Umstand auf eine psychotische Zufallsblindheit zurückgeführt werden könnte.

[7] beobachtbar an gesunkenen Lohn- und Staatsquoten, schieferen Einkommensverteilungen und noch schieferen Vermögensverteilungen

[8] Je weiter nach oben Geld verteilt wird, desto weniger kommt es durch herkömmliche Nachfrage in den Wirtschaftskreislauf zurück, da sich irgendwann Geld nur noch sparen oder eben in Vermögenswerten (häufig Preistreiberei von Vermögenswerten (siehe Goldkurs)) anlegen lässt.

Jascha Jaworski

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