Schon häufiger wurde hier auf Maskenfall über die zurückhaltende Lohnentwicklung, die einseitige und bewusste Exportorientierung, den schwachen Binnenmarkt, Teilzeitjobs sowie die niedrige Zahl der geleisteten Arbeitsstunden geschrieben. Dieser Artikel versucht speziell die mit der Agenda 2010 verknüpften Beschäftigungseffekte noch einmal genau zu beleuchten und übersichtlich darzustellen.
Viele Erwerbstätige, nicht so viel Arbeit
Dies sind typische Schlagzeilen der Medien zur aktuellen Situation auf dem Arbeitsmarkt. Doch wie es vielen bereits bekannt ist, sieht das Bild hinter diesen schönen in die Öffentlichkeit getragenen Zahlen (Arbeitlosenquote und Erwerbstätige) bescheidener aus. Damit ist nicht nur die von der Bundesgagentur für Arbeit selbst zugegebene höhere Unterbeschäftigung, das hohe Maß an Gängelung durch die Jobvermittlung, das hohe Niveau an befristeten und pro Stunde schlecht entlohnten Jobs und die mit all dem zusammenhängende flächendeckend schwache Lohnentwicklung gemeint, sondern vor allem auch der zeitliche Umfang der neuen Stellen. Überdurchschnittlich viele Teilzeitstellen wurden geschaffen. Seit 2008 sind die sogenannten “Mini-Jobs” in ihrem zahlenmäßigen Umfang nicht mehr wirklich gestiegen1, dafür der sozialversicherungspflichtige Beschäftigungssektor. Doch auch hier zeigen sich relativ mehr Zuwächse bei Teil- als bei Vollzeitstellen2. Dass hinter diesen ganzen Jobs kein großer Umfang an geleisteter Arbeit, und damit ein recht niedriges Niveau an erwirtschaftetem Einkommen steht, gibt die Zahl der “geleisteten Arbeitsstunden” (auch “Arbeitsvolumen” genannt) an3. Dementsprechend kann man zumindest in der langen Frist nicht von einem wirtschaftspolitischem Erfolg auf dem Arbeitsmarkt sprechen. Es handelt sich vielmehr um eine Umverteilung von Arbeit. Im Gegensatz zu Zeiten vor den 90ern kam es nicht zu generellen Arbeitszeitverkürzungen. Die Vollzeitarbeitszeiten sind relativ konstant geblieben, dafür sind ab dieser Zeit viele Vollzeitstellen in mehrere Stellen aufgeteielt worden4. Entsprechende Wünsche gab es jedoch von Seiten der Erwerbstätigen nur bedingt.
Möchte man speziell die Beschäftigungentwicklung im Zuge der Agenda 2010 herausstellen, dann eignet sich das Jahr 2002 als Ausgangspunkt, da bereits ab dem Jahr 2003 die ersten Hartz-Reformen umgesetzt wurden. Die letzte Reform griff ab dem 1.1.2005, so dass sie bereits im Jahr 2005 hätte Wirkung zeigen müssen. Schaut man auf die untere Statistik, fällt zuerst eine deutliche Schwäche bis einschließlich 2005 bei den besonders bedeutenden Arbeitsstunden auf. Erst danach hob sich die Zahl der Arbeitstunden empor, und konnte, nach guter/glücklicher Überwindung der Finanzkrise, seit 2014 erstmals wieder ein Niveau über dem Jahr 2000 erreichen. Der Anstieg blieb jedoch hinter dem Zuwachs der Erwerbstätigen zurück. Darüberhinaus ist die Anzahl der Erwerbspersonen5 seit dem Jahr 2005 kaum mehr gestiegen. Dass Deutschland seitdem seine Arbeitslosenquote im Vergleich zu anderen Ländern deutlich verringern konnte, ist also auch auf die demografische Entwicklung zurückzuführen. Erst die starke Zuwanderung seit dem Jahr 2011 erhöhte die Zahl wieder nennenswert. Da hinter der Einwanderung jedoch auch Geldströme stehen, die den privaten Konsum beleben, kann man davon ausgehen, dass die Zahl der geleisteten Arbeit davon ebenfalls profitiert hat.
Anstieg ab 2006 und Krisenbewältigung dank der Agenda 2010?
Trotzdem muss man konstatieren, dass sich das Arbeitsvolumen ab 2006 deutlich gesteigert hat. Die entscheidende Frage ist, ob diese Steigerung mit der Agenda 2010 und der schwachen Einkommensentwicklung zusammenhängt.
- Erstens kann man festhalten, dass Frankreich, das keine Lohnzurückhaltung betrieben hat, ebenfalls ab 2007 bis 2008 einen deutlichen Beschäftigungsanstieg hatte, so wie fast alle anderen vergleichbaren Länder in Europa auch. Vor allem die Dynamik vor 2006 sieht deutlich stabiler aus.
- Zweitens muss man schauen, welchen Verlauf die Lohnentwicklung, die bereits genannte Einwanderung, die Staatsausgaben, die Kreditexpansion von Privathaushalten sowie Unternehmen, Investitionen, der Export und die Sparquote genommen haben. Vor allem die bedeutende reale Lohnentwicklung war, nach ihrem katastrophalen Trend bis 2008, ab 2009 deutlich angemessener als zuvor, auch wenn sie eher durch glückliche Umstände wie niedrige Importpreise zugelegt hat. Dementsprechend kann sie neben der hohen Einwanderung und den durch vermutlich niedrige Zinsen gestiegenen Wohnungsbauinvestitionen sogar zu dem deutlichen Anstieg der Arbeitsstunden in 2014 beigetragen haben, und nicht etwa Nachwirkungen von der lohnsenkenden Agenda 2010.
- Drittens muss man überprüfen, welche der zuvor genannten Komponenten für die Beschäftigungsentwicklung in der langen Frist am bedeutendsten waren. Die neoklassische Arbeitsmarkttheorie, die viele der Ökonomen (insbesondere der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2002/20036) der Agenda 2010 zugrunde legten, ging davon aus, dass allein durch niedrigere Arbeitskosten die Bereitschaft der Arbeitgeber zur Einstellung weiterer Arbeitskräfte steigt. Sieht man einmal von den theoretischen Schwächen dieser Annahme ab7, müsste vor allem die Binnennachfrage als Folge der Reformen gestiegen sein. Schließlich gelten Arbeitsmarkttheorien der Volkswirtschaftslehre in der Regel für eine “geschlossene Volkwirtschaft”. Damit ist eine Volkswirtschaft gemeint, an die kein Ausland angrenzt, sondern die nur einen Binnenmarkt hat. Anhand der “Exportabhängigkeit der Erwerbstätigen” lässt sich relativ genau überprüfen, wieviele der geleisteten Arbeitsstunden tatsächlich zur Herstellung von Gütern zum Gebrauch auf dem Binnenmarkt gedient haben8. Dabei ergibt sich folgendes Bild.
Die Grafik zeigt eindeutig (auch wenn es leider nur Exportabhängigskeitsdaten bis 2012 gibt), dass die überwiegende Dynamik der Aufschwungs ab 2006 vom Export getragen wird. Genau genommen gibt es seit dem Jahr 1995 einen extrem einseitigen Treiber hinter den Arbeitsstunden. Dabei handelt es sich bei Weitem nicht um einen regulären Trend der Globalisierung, wie es mittels dieser Grafik der Exportquoten veranschaulicht werden kann. Die Binnenkonjunktur hat sich in den drei ersten Jahren der Arbeitsmarktreformen besonders schlecht gehalten, während in den Folgejahren eine minimale Besserung eintrat. Obwohl es für die Jahre 2013 und 2014 keine Daten zur Exportabhängigkeit der Erwerbstätigen gab, kann man über die “Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung” erahnen, dass die Binnenkonjunktur vor allem in 2014 kräftig infolge des privaten Konsums gewachsen ist.
Darüberhinaus muss sogar noch eine äußerst bedeutende Anmerkung zu der Aussagekraft der Exportabhängigkeit gemacht werden. Die Exportabhängigkeit berücksichtigt nur solche Erwerbstätigen, die direkt oder indirekt Güter produzieren, die in das Ausland exportiert werden. Damit sind auch solche Güter gemeint, die von exportierenden Firmen in Deutschland nachgefragt werden, und in die Herstellung eingehen. Es werden jedoch nicht solche Erwerbstätigen berücksichtigt, die erst durch die Kaufkraft und die Steuern der im Export Beschäftigten einen Job im Binnenmarkt erhalten können, obwohl ihre Arbeitsstunden ebenfalls nur mit der Hilfe des gestiegenen Exports entstanden sind. Eine solche erweiterte Abhängigkeit habe ich versucht in der nächsten Grafik über eine einfache Schätzung darzustellen. Dabei bin ich davon ausgegangen, dass der Binnenmarkt zu dem Anteil am Exportsektor hängt, wie es Exportabhängige Erwerbstätige gibt9.
Das Resultat ist beschämend, denn unter den geschätzten erweiterten Abhängigkeitsumständen gelingt erst auf dem schwachen Niveau von 2008 eine Stabilisierung der Binnenkonjunktur, die um ca. 20% gegenüber 1995 geschrumpft ist.
Selbst diese Zahl verdeutlicht noch nicht einmal die gesamte Exportabhängigkeit! Investitionen in Kapazitäten für den Export zählen trotzdem zur Binnenachfrage. Daher ist sogar die Bodenbildung zwischen 2006 – 2008 nur das Resultat der hauptsächlich gestiegenen Ausrüstungsinvestitionen als Ergebnis des Exportanstieges.
Das grandiose Scheitern: es wurde nur vorübergehend exportiert
Da die Unternehmen weder unabhängig vom Export mehr investiert, noch anderweitig Arbeitsstunden im Binnenmarkt geschaffen, sondern massiv weniger investiert, und deutlich Arbeitsstunden abgebaut haben, kann bei der Agenda 2010 (und der hinter ihr stehenden neoklassischen Arbeitsmarkttheorie) nur von einem hochgradig kontraproduktiven Fehlschlag die Rede sein. Dieser hat überdies noch den kleinen und mittleren Unternehmen10 besonders geschadet, da sie nur sehr bedingt vom Außenhandel profitieren11. Ausschließlich über die anfangs genannte Umverteilung von Arbeit, den schwachen Erwerbspersonenzuwachs und den besonders kräftigen Export, der ganz entschieden von der niedrigen Lohnentwicklung profitiert hat (Siehe hier für die begünstigende Lohnentwicklung und hier für die angeblichen Qualitätsargumente), konnte die Katatstrophe innerhalb der eigenen Volkswirtschaft über eine recht angenehme Arbeitslosenquote verdeckt werden. Erst seit 2013 ist es vor allem die Binnenkonjunktur, die das Arbeitsstundenwachstum treibt. Es wundert nicht, dass die Einkommensentwicklung seitdem deutlich günstiger verläuft, und sich somit von dem Grundgedanken der Agenda 2010 entfernt. Von einer sicheren & bewussten Trendwende sollte man in Anbetracht des noch immer großen Aufholpotentiales, der glücklichen Importgüterpreisentwicklung und den politischen Rahmenbedingungen allerdings nicht sprechen.
Die Agenda 2010 war nie ein Erfolg hinsichtlich der Beschäftigungentwicklung, sondern noch dazu eine Zumutung für die abhängig Beschäftigten, aber ebenso für das Ausland. Die Exportorientierung ist ein besonders tragischer Faktor für andere Länder, denen Deutschland über seine breit aufgestellte Exportwirtschaft Marktanteile abnimmt. Damit hat man zu allem Übel die Beschäftigung in Deutschland noch dem großen Risiko des Handelskrieges ausgesetzt. Andere Länder werden Gegenmaßnahmen zur Rückgewinnung ihrer Marktanteile ergreifen, die selbst die als binnenkonjunkturellen Ausgleich gewonnene Beschäftigung im Exportsektor langfristig gefährden, so dass am Ende der Agenda 2010 neben Lohneinbußen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch noch kräftige Arbeitsverluste stehen werden. In den USA, der EU, Großbritannien, Frankreich und Südeuropa ärgert man sich bereits heftig, oder hat bereits Gegenmaßnahmen ergriffen. Besonders unfassbar ist, dass man dann noch eine Anpassung der schwächeren Länder an das deutsche Beispiel von Seiten der EU, der EZB und Deutschland (Bundesbank und CDU) fordert.
Ohne den Reformkurs hätte es aller Wahrscheinlichkeit nach einfach nur einen etwas schwächeren Export und einen stattdessen stärkeren Binnenmarkt gegeben. Auch die Gesamtbeschäftigung könnte heute durchaus höher und zukunftssicherer sein. Die Leistungsbilanz und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wären im Großen und Ganzen vermutlich recht ausgeglichen. Wer heute behauptet, die Agenda sei damals gut und richtig gewesen, der gibt nur zu, dass er ihre ursprünglichen Absichten nicht kennt, keine Kenntnisse von der tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung besitzt und/oder nicht einmal einen Maßstab für in einer Demokratie angemessene wirtschaftspolitische Ziele hat. Man versuchte den Binnenmarkt zu stärken, schwächte ihn jedoch zu Gunsten des Exports. Dann stürzte man 2009 über die hohe Exportabhängigkeit in eine tiefe Finanzkrise, die in ihrem Ausmaß nicht vorausgesehen wurde. Ebenso wenig wurde ab 2010 die schnelle Erholung vorausgesehen. Diese Erholung lag nicht in den Händen Deutschlands, sondern in denen unserer ausländischen Absatzmärkte, die durch glückliche Umstände die richtigen Maßnahmen in der Krise ergriffen, und daraufhin unsere Güter wieder kauften. Wer zu keinem Zeitpunkt wusste was er tut, aber im Nachhinein meint, obwohl er nur mit viel Glück, unnötiger realer Lohndrosselung und einer Schädigung der ausländischen Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr als einen – sogar zukünftig äußerst unsicheren – Beschäftigungseinstand erkämpft hat, alles richtig gemacht zu haben, ist ein lupenreiner Narr.
- Seit 2015 hat der Mindestlohn zudem bewirkt, dass viele Mini-Jobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umgewandelt wurden, um die Entgeld-Grenze von 450€ nicht zu überschreiten. Die Folge war sogar ein deutlicher Anstieg der Steuereinnahmen. [↩]
- Bei der Bundesagentur für Arbeit tut man sich mit diesem unangenehmen Trend allerdings etwas schwer, denn man sucht eine ganze Zeit, bis man die Unterteilung in der Statistik findet. [↩]
- Die geleisteten Arbeitstunden rechnen die von allen Selbstständigen, Voll- und Teilzeitstellen gearbeiteten Stunden zu einer großen Summe zusammen. Sie gibt die wirtschaftliche Wertschöpfung an, die durch die Menge an geleisteter Arbeit entsteht. Die geleisteten Arbeitsstunden sind damit ein Teil des realen Wirtschaftswachstums. Zieht man die Produktivität pro Stunde von dem Wirtschaftswachstum ab, erhält man das Arbeitsvolumen. Das Ganze funktioniert logischerweise auch umgekehrt, um die Produktivität pro Stunde zu erhalten. [↩]
- Dazu beigetragen haben die Mini-Job ab Anfang und Mitte er 90er, das Ehegattensplitting, dank dem Partner mit einem Teilzeiterwerbstätigen relativ viel Steuern sparen können, sowie zunehmende steuerliche Subventionen für Mini-Jobs und sozialversicherungspflichtige Jobs im unteren Einkommensbereich mit den Hartz-Reformen Anfang der 2000er. [↩]
- Erwerbstätige + Erwerbslose nach dem ILO-Konzept [↩]
- Siehe Inhaltverzeichnis [↩]
- Warum sollten Arbeitgeber mehr Arbeitskräfte einstellen, wenn sie keine Erwartungen haben, die durch die zusätzlichen Arbeits- und Vorleistungskosten entstandenen Güter auf einem Markt abzusetzen? Ohne höhere Absätze würden Mehrkosten zur Verschuldung beitragen, da die Gewinnmarge eines Gutes in der Regel kaum höher als bei 10% liegt. [↩]
- Bei einer Exportabhängigkeit von 25%, würde die “Binnenabhängigkeit” dementsprechend 75% betragen, also 100% – Exportabhängigkeit. [↩]
- Bei einer Exportabhängigkeit von 20% hängen von dem Binnenmarkt (80%) wiederum 20% an den Exportabhängigen, so dass effektiv 20% + 16% = 36% der Beschäftigten im weitesten Sinne exportabhängig wären. [↩]
- Unternehmen bis einschließlich 249 Mitarbeitern zählen zu den kleinen und mittleren Unternehmen (“KMU” genannt). [↩]
- Siehe Schaubild 7 in dem verlinkten Beitrag. [↩]
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