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UK: Vom Individualismus zur Individualitis, und wieder zurück? – Teil 2: Thatcher-Ära und Konsumentendemokratie

In Teil 1 wurde angesprochen, wie die Strategie einer personellen Zentrierung dazu geeignet ist, von politischen Inhalten und Hintergründen abzulenken, da wir als Menschen sowohl eine besondere Neigung dafür, als auch alltägliche Gewohntheit darin haben, unsere Aufmerksamkeit auf Personen und ihre leicht zugänglichen Eigenheiten zu richten. Dies kann im parteipolitischen Kontext nicht nur die Rolle von Funktionsträgern und Repräsentanten in einem von einflussreichen und einschlägigen Interessen durchsetzten System verdecken, sondern ebenso pluralen Schein dort erzeugen, wo eine große Variation der Personen eine kleine Variation der Positionen zu überspielen sucht.

Wegen der gesteigerten Bedeutung der parteipolitischen Personalisierungsstrategie war es im Falle des Wahlkampfes der Labour Party 2005 auch für die Wahlkampfmanager so wichtig, die „Marke“ des „verlogenen und arroganten Tony“ umzubilden, um enttäuschte und wütende Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen. Tatsächlich wiesen viele Aussagen der untersuchten Zielgruppenmitglieder darauf hin, dass sie ein inniges persönliches Verhältnis zu „ihrem Tony“ aufgebaut hatten, das es nun durch gezielte, an den untersuchten Bedürfnissen ausgerichtete Inszenierung der Person Blair wiederherzustellen galt. Auf diese Weise konnte die Labour Party 2005 dann noch einmal mit knapper Mehrheit die Unterhauswahlen für sich entscheiden, ohne wirkliche Korrekturen an ihrer inhaltlichen Ausrichtung vorzunehmen.1

‘Selbstverwirklichung’ in der Variante des „There is no such thing as society“

Ein zweiter Umstand unserer leidenschaftlichen Neigung für die Beschäftigung mit Personen, der sich auf demokratische Gegebenheiten auswirkt, lässt sich im Zusammenhang mit der eigenen Person sehen. Was trug nämlich dazu bei, dass sich die heutigen politischen Inhalte von Parteien in wesentlichen – v.a. den zentralen wirtschaftspolitischen – Inhalten so aneinander anglichen, dass man einen politischen Einheitsbrei beklagen muss, der sich hinter einer Fixierung auf Kandidaten zu verstecken sucht?

Hier verweise ich auf eine BBC Dokumentation von Adam Curtis, die schon in anderen Artikeln von uns behandelt wurde. Sie zeigt das Zusammenwirken von Politik, Psychologie und PR-Industrie beginnend im angloamerikanischen Raum des 20. Jahrhunderts bei der Erprobung und Ausarbeitung bestimmter psychologischer Techniken, die für politische und kommerzielle Ziele nutzbar gemacht wurden. Adam Curtis dokumentiert in seiner vierteiligen Reihe „The Century of the Self“2, wie ungefähr zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung eine gesellschaftliche Entwicklung hin zu einem stärkeren Bedürfnis nach Selbstverwirklichung zu beobachten war und schließlich von der kommerziellen Wirtschaft aufgegriffen wurde, um immer mehr Menschen davon zu überzeugen, dass sie durch die Möglichkeiten des modernen Konsums individuelle Identitätsbildung, Nonkonformismus und eben auch Selbstverwirklichung erfahren würden. Bedient und zugleich ausgenutzt wurde also auch hier die Leidenschaft für das Denken und Fühlen in Kategorien der Person, die sich durch ihren individuellen Lebensweg, ihre individuellen Ziele und ihre individuellen Werte auszeichnet. Mittel zu deren Entfaltung sollte hierbei der Konsum sein, der es den Menschen ermöglichen sollte, durch die Wahl aus einem reichen Angebot an Waren und Dienstleistungen ihre Eigenheiten auszudrücken und sich selbst zu “erfinden”. Vermarktet wurden Lifestyles, die die Konzentration ganz auf die Welt des Persönlichen ermöglichten. Hierbei wurde also ein gesellschaftlicher Wandel hin zu dem stärkeren Streben nach Selbstverwirklichung in einer Weise kanalisiert, die mit den ursprünglichen Anliegen und Ideen rund um dieses Konzept nur noch oberflächlich zu tun hatte, da das Streben nicht nur zu Gunsten von Profitinteressen, sondern auch auf Kosten der kollektiven Identität, die die Menschen jenseits der Konsumentenrolle an gemeinsame Ziele, Werte und Handlungen bindet, instrumentalisiert wurde.

Thatcher und Reagan griffen in ihrem öffentlichen Auftreten genau diesen neuen Individualismus auf, um Wählergruppen zu gewinnen, die bislang nicht konservativ gewählt hatten:

„Some socialists seem to believe, that people should be numbers in a state computer. We believe, they should be individuals. We’re all unequal, no one thank heavens is quite like anyone else, however much the socialists may pretend otherwise. And we believe that everyone has the right to be unequal. But to us every human being is equally important. A man’s right to work as he will, to spend what he earns, to own property, to have the state as servant and not as master, they are the essence of a free economy and on that freedom all our other freedoms depend.“3

(Margret Thatcher, 1975 auf dem Parteitag der Conservative Party)

Mit der Verbreitung des hier anklingenden negativen Freiheitsbegriffs wurden Wahlkampferfolge erzielt, die es der Regierung Thatcher anschließend ermöglichten, durch die Demontage gesellschaftlicher Strukturen das berühmte „There is no such thing as society“ zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden zu lassen und den Weg vom Individualismus zur Individualitis zu bereiten. Vermögen PR-Techniken nämlich wirksam in Hinblick auf Wahlerfolge oder den Ausbau des Konsumverhaltens sein, so sind es erst die ökonomischen Strukturen, die langfristig das Denken und Handeln der Menschen tiefgreifend prägen.

Der ökonomische Hebel zum gesellschaftlichen Wandel

Um dem Neoliberalismus zu seiner Durchsetzung zu verhelfen, musste die konservative Regierung jedoch zunächst die einflussreichsten Organisationen, die dem im damaligen UK entgegenstanden, entmachten. Hierzu muss man sich vor Augen führen, wie zentral die Rolle der Gewerkschaften vor der Regierung Thatcher gewesen ist. Schlüsselindustrien waren ganz (Kohle, Strom, Gas, Eisenbahn) oder teilweise (Stahl) in staatlicher Hand, die gesamtwirtschaftliche Gewerkschaftsbindung lag zwischen 45 und 50%. Besonders zur Zeit der Ölkrisen in den 70er Jahren wiesen die britischen Gewerkschaften eine enorme Streikbereitschaft auf, um gegen Werkschließungen und Gesetzesvorhaben, jedoch ebenso für drastische Lohnsteigerungen zur Kompensation der hohen Inflationsraten einzutreten. Abbildung 1 macht durch den Vergleich zum streikfreudigen Frankreich deutlich, wie groß der Widerstand der Gewerkschaften in UK gewesen ist.

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Die durchgesetzten Lohnforderungen verschärften natürlich die hohen Inflationsraten im Zuge der Ölpreissteigerung gewaltig, wie der deutliche Zusammenhang zwischen nominalen Lohnstückkosten und Inflationsraten in Abbildung 2 zeigt.

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Verlor der konservative Regierungschef Edward Heath 1974 bereits eine Auseinandersetzung mit der einflussreichen National Union of Mineworkers, konnte sich auch der ab 1976 amtierende Labour Regierungschef James Callaghan, der Kredite vom IWF beantragt hatte und im Gegenzug mit wirtschaftlichen Kürzungsauflagen bedacht wurde, nicht gegen den Widerstand der Gewerkschaften durchsetzen und trat 1979 schließlich zurück (siehe „Winter of Discontent“). In dieser Atmosphäre der ökonomischen Krise, die durch Ölpreisschocks ausgelöst wurde und 1974/75 zur Rezession führte, sowie starker Gewerkschaften, die mit teils problematischen Forderungen nicht gerade eine konstruktive Rolle in der Krisenzeit einnahmen, erzielte Margret Thatcher dann ihren Wahlsieg und propagierte ihre ökonomische, von Denkern wie Milton Friedman bis ins Detail ausgearbeitete Freiheitsvorstellung, die das Land voranbringen und den Staat zum „Diener“ machen sollte, was gleichbedeutend mit umfassender Privatisierung (Wasser, Transport, Energie), Deregulierung und der Demontage des Sozialstaats war.4

Die National Union of Mineworkers und die Gewerkschaftsbewegung insgesamt hatte sie durch das Ziel umfassender Werksstilllegungen und der Abwicklung des Kohlebergbaus zerschlagen wollen, was ihr 1985 schließlich auch weitgehend gelang. Eine empfehlenswerte Dokumentation von Michael Reitz (SWR2) beschreibt die brutale Vorgehensweise und die schwerwiegenden Konsequenzen dabei auf sehr informative Art und Weise:

“Erst im Januar 2014, als bis dahin geheime Kabinettsprotokolle der Regierung Thatcher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, wird deutlich, was 1984 als Gerücht existierte. Der neoliberale Flügel der Konservativen hat die Auseinandersetzung mit den Bergarbeitern über Jahre hinweg wie einen Feldzug geplant. Die Polizei wird aufgerüstet, Spezialeinheiten, die in der Aufstandsbekämpfung im nordirischen Bürgerkrieg erfahren sind, werden in den Kohlerevieren stationiert. […]”

(Der Streik britischer Bergleute 1984 und der Aufstieg des Neoliberalismus, SWR2 Dokumentation von Michael Reitz, November 2014)

Der Monetarismus, der unter Thatcher seine Blütezeit erlebte und zu einer Hochzinspolitik, sowie dem Rückzug des Staates auch aus seiner Stabilisierungsfunktion gegenüber dem Wirtschaftsgeschehen führte, leistete seinen Beitrag zu weiteren Rezessionsphasen (Abb. 3) und dem raschen Aufbau der Massenarbeitslosigkeit (Abb. 4, blaue Linie).

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UK erhielt in der Thatcher-Ära seinen ersten eindrucksvollen Deindustrialisierungsschub (Abb. 5, Vergleich zu Frankreich). Dies trug bei zu einem raschen Abfall des gewerkschaftlichen Organisationsgrades (Abb. 4, orange Linie) und insgesamt der dramatischen Schwächung jener Organisationen, die als Gegengewicht zu den neoliberalen Kapitalfraktionen im Land hätten fungieren können.

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Verbunden mit der Deregulierung des Finanzmarktes, der dann große Möglichkeiten privater Bereicherung mit sich brachte, sowie dem Abbau des Sozialstaates wundert es nicht, wie UK seit dieser Zeit einen sagenhaften Anstieg im Ausmaß der Ungleichheit erfuhr. In Abbildung 6 wird deutlich, wie bis 1990 die Zunahme der Ungleichheit hier in etwa dem zweifachen Ausmaß dessen entsprach, was viele Jahre später in Deutschland mit der Agenda 2010 hervorgerufen wurde.

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Durch das marktfanatische Programm der Regierung Thatcher, das die Gewerkschaften entmachtete, die Ungleichheit explodieren ließ, sozialstaatliche Schutzmechanismen demontierte und Konkurrenz und Kommerz zu den Leitprinzipien machte, die möglichst alle Lebensbereiche durchdringen sollten, wurden die kollektiven Strukturen in UK aufgebrochen. Das Individuum sollte zum einzig sinnvollen Selbstverständnis für die Menschen werden und die hierfür nötige Realität wurde auf ökonomische Weise hervorgerufen:

“What’s irritated me about the whole direction of politics in the last 30 years is that it’s always been towards the collectivist society. People have forgotten about the personal society. And they say: do I count, do I matter? To which the short answer is, yes. And therefore, it isn’t that I set out on economic policies; it’s that I set out really to change the approach, and changing the economics is the means of changing that approach. If you change the approach you really are after the heart and soul of the nation. Economics are the method; the object is to change the heart and soul.”5

(Margret Thatcher, Economics are the method: the object is to change the soul, Interview mit der Sunday Times, Mai 1981)

Thatcher wusste, was sie tat, als sie die Stunde des Neoliberalismus schlagen ließ, der auch in anderen Ländern übernommen wurde und sich tief in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingravierte, so dass er bis heute und trotz seines sagenhaften Scheiterns seinen Siegeszug feiert. Wie in “The Century of the Self” dargelegt wird, ließ sich auch eine deutliche Veränderung des Selbstverständnisses bei den Wählerinnen und Wählern beobachten. Der Wahlkampfstratege Philipp Gould, der die Labour Party vor den Unterhauswahlen 1987 und 1992, die weiterhin die Konservativen für sich entscheiden konnten, sowie in den späteren, für (New) Labour erfolgreichen Wahlen, beraten hatte, kam aufgrund seiner Erhebungen an Fokusgruppen – wie sie seit jeher in der Marktforschung eingesetzt wurden – zu dem Ergebnis, dass sich das Selbstverständnis als individueller Konsument auch auf den Bereich des Politischen ausdehnte:

“And what Gould discovered, was a fundamental shift in people’s relationsship to politics. They no loger saw themselves as part of any group but as individuals who could demand things from politicians in return for paying taxes. Just as business has taught them to do as consumers.”6

(The Century of the Self – Eight People Sipping Wine in Kettering, Teil 4, BBC, 2002)

Ein Anti-Thatcherismus mit Aussicht auf Erfolg?

Erst im dritten und letzten Teil der Artikelserie soll nun der seit Mai 2015 kandidierende Anwärter für das Amt des Parteivorsitzenden der Labour Party, Jeremy Corbyn, behandelt werden. Mit seinem offensiven Auftreten gegen die Austeritätspolitik  und für eine deutliche Stärkung des Gemeinwesens, u.a. durch eine keynesianische Wirtschaftspolitik, aber auch aufgrund seiner deutlich kritischen Haltung gegenüber Monarchie und NATO, sticht er nicht nur als Linker innerhalb der Labour Party heraus, sondern lässt sich auch als wahrhaftiger Anti-Thatcher lesen, der mit all dem aufzuräumen versucht, was im Kampf um die “neue Mitte” unter den Regierungschefs nach Thatcher, gleich ob konservativ oder sozialdemokratisch im Sinne der New Labour, als Alternativlosigkeit an die Bevölkerung von UK unter Schützenhilfe der Mainstreammedien verkündet wurde. Kein Wunder, dass er massiven Gegenwind erhält, und ebenso wenig erstaunlich, dass er die Hoffnungen so vieler Menschen weckt, die nicht aufgehört hatten, auch unter kollektivistischen Gesichtspunkten, jenseits einer als individueller Konsument anmutenden Rolle, und wissend um die einschlägigen mächtigen Interessen im Hintergrund, sich für Politik zu interessieren.

 

  1. Da in UK ein Mehrheitswahlsystem besteht, genügt eine knappe Mehrheit in den einzelnen Wahlbezirken, um im Parlament schließlich eine komfortable Sitzmehrheit zu erzielen. []
  2. siehe „Happiness Machines“ (Teil 1, BBC, 17. März 2002)

    „The Engineering of Consent“ (Teil 2, BBC, 24. März 2002)

    „There is a Policeman Inside All Our Heads: He Must Be Destroyed“ (Teil 3, BBC, 31. März 2002)

    „Eight People Sipping Wine in Kettering“ (Teil 4, BBC, 7. April 2002) []

  3. Übers. Maskenfall: “Manche Sozialisten scheinen zu glauben, dass Menschen Zahlen in einem Staatscomputer sein sollten. Wir glauben, dass sie Individuen sein sollten. Wir sind alle ungleich, niemand, dem Himmel sei Dank, ist irgendeinem anderen wirklich ähnlich, wie sehr auch immer die Sozialisten vorgeben mögen, dass dies der Fall sei. Und wir glauben, dass jeder das Recht hat, ungleich zu sein. Aber für uns ist jeder Mensch gleich bedeutsam. Das Recht des Menschen zu arbeiten, wie er will, auszugeben, was er will, Eigentum zu besitzen, den Staat als Diener und nicht als Herren zu haben, das ist die Essenz einer freien Wirtschaft und auf dieser Freiheit beruhen alle unsere anderen Freiheiten.” []
  4. Wie ihre Vorstellung von Demokratie hierbei aussah, zeigte sich an ihrer Begeisterung für Diktator Pinochet, der mit dem Militärputsch gegen Präsident Allende ihrer Vorstellung nach erst die “Demokratie nach Chile brachte”. []
  5. Übers. Maskenfall: “Was mich bei der gesamten Richtung der Politik über die letzten 30 Jahre irritiert hat, ist, dass sie stets auf die kollektivistische Gesellschaft gerichtet war. Und man sagt: zähle ich, spiele ich eine Rolle? Worauf die kurze Antwort ist, ja. Und daher machte ich mich nicht wegen der Wirtschaftspolitik auf den Weg; ich machte mich auf den Weg, um wirklich den Ansatz zu verändern, und die Wirtschaft zu verändern, ist das Mittel, um den Ansatz zu verändern. Wenn man den Ansatz verändert, geht es einem wirklich um Leib und Seele der Nation. Wirtschaft ist das Mittel; Leib und Seele zu verändern, ist das Ziel.” []
  6. Übers. Maskenfall: “Was Gould entdeckte, war ein grundlegender Wandel in der Beziehung der Menschen zur Politik. Sie sahen sich selbst nicht weiterhin als Teil irgendeiner Gruppe, sondern als Individuen, die etwas von der Politik verlagen können als Gegenleistung dafür, dass sie Steuern zahlen. Gerade so, wie die Unternehmen es ihnen als Konsumenten beigebracht haben.” []

Jascha Jaworski

2 Kommentare

  1. Was meistens vergessen wird, ist, dass just zu der Zeit als Thatcher und Reagan an die Macht kamen, Frankreich die Sozialisten wählte mit einem linkssozialdemokratischen Programm wie aus dem Lehrbuch. Doch schon eineinhalb Jahre später war davon so gut wie nichts mehr übrig, als der tournant de la rigueur einsetzte. Ich finde es merkwürdig, dass dieser Episode französischer Politik so wenig Beachtung geschenkt wird.

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