Eines ist wohl sicher, die EU-Länder (und somit wir) sind konfrontiert mit einer ganzen Reihe großer und sich überlagernder Probleme. Das Tragische ist – denn es leiden schließlich viele Menschen darunter -, dass die Probleme nicht etwa aus physischer Notwendigkeit oder objektivem Mangel heraus bestehen. Sie sind politisch gemacht. Allerdings auch auf eine solche Weise, dass Lösungswege auch durch gesellschaftliche Geisteshaltungen erschwert sind. Wer den miesen Umgang mit Griechenland etwa auf reine Propaganda zurückführt, vergisst, dass Propaganda nur insoweit wirken kann, wie sie auf entsprechende Charaktermerkmale in der Gesellschaft stößt. Das ist auch, worauf die Rechten mit ihren Lauffeuer-Gerüchten bei der Hetze gegen Flüchtlinge aufbauen, und das ist, worauf die Regierungen bei ihrer Rücksichtslosigkeit in der Durchsetzung entdemokratisierender Reformen aufbauen können. Umso wichtiger wäre es, dass die Spirale aus Hetze, reaktionärem Gesellschaftscharakter, Falschlösungen, Problemverschärfung, noch mehr Hetze und reaktionärem Potential etc. durchbrochen wird, um die vorhandenen Kräfte für ein positives Projekt zu nutzen. Denn nie war der Reichtum größer (wenn auch grotesk verteilt), nie waren die Menschen gebildeter, und nie waren sie vernetzter als heute. Da muss doch etwas anderes möglich sein, als Wirtschaftskrise, Perspektivlosigkeit, Flüchtlingselend und Rassismus.
Einer, der sich darum bemüht, der vernetzt und für ein positives Zukunftsprojekt, ein soziales und demokratisches Europa eintritt, ist Yanis Varoufakis. Er versucht mit seinen Erfahrungen und Analysen auf die eigentlichen Strukturprobleme hinzuweisen: keine mangelnde Arbeitsmarktflexibilisierung, sondern eine katastrophale Makroökonomie und eine Demokratie, die sich der ökonomischen Krise immer mehr unterwerfen soll. In letzter Zeit war er hierzu in zahlreichen Vorlesungssälen unterwegs. Auf seinen Vortrag mit anschließendem Interview an der Wirtschaftsuniversität Wien sei hier verwiesen:
“>>Money and Power<<, a lecture by Yanis Varoufakis @WU” (4.11.2015)
Nachfolgend eine Übersetzung aus einem Teil seines Vortrags, in dem er noch einmal wesentliche Aspekte des Umgangs mit Griechenland zusammenfasst und deutlich macht, worin die Grundproblematik besteht. Den Tathergang sollte man genau vor Augen haben, da in der gesamten Eurokrise die Probleme natürlich allenfalls vorläufig unter die Decke gekehrt wurden. Wer ein anderes Europa will, sollte hierüber möglichst andere aufklären, damit sich am Ende vielleicht doch jene Ideen durchsetzen können, die auf eine wirkliche Lösung hinauslaufen, und zwar eine positive.
Am Ende des Artikels dann noch ein paar Grafiken, die das Gesagte mit Daten unterlegen.
Das nachfolgende Zitat baut auf Ausführungen auf, in denen Varoufakis an die Finanzkrise von 2008 erinnert. Sie beendete ein Wirtschaftsmodell, das stark auf Auslandsverschuldung beruhte. In den USA gab es eine Immobilienblase, in der Hausbesitzer ihre Verschuldung ausdehnten, in dem Glauben, ihr Haus würde weiter rasch im Wert steigen. Mit dem Geld konnte Konsum realisiert werden, der aufgrund stagnierender Einkommen ansonsten ausgeblieben wäre. In Spanien war es ähnlich. In Griechenland wurde auch über den Staat viel Geld ausgegeben. In Deutschland wurde hingegen die durch Lohnstagnation ausbleibende Nachfrage dadurch kompensiert, dass die steigende Nachfrage der anderen Länder über Außenhandelsüberschüsse ausgenutzt wurde. Ich erinnere daran, dass es sich insgesamt um zwei Seiten des neoliberalen Modells handelt, das stagnierenden Konsum, der durch ungleiche Einkommensverteilung oder eben Lohnstagnation einträte, über zusätzliche Verschuldungs- und Kreditvergabemöglichkeiten ausgleicht (für die Interessierten, siehe z.B. hier). Als die Modelle in sich zusammenbrachen und die Banken aufgrund der lockeren Kreditvergabe einander nicht mehr vertrauten, wurden diese schließlich gerettet. Dann jedoch, als auch einzelne Staaten nicht mehr hätten zahlen können, wurden sie ein zweites Mal gerettet, dies jedoch, wurde anders dargestellt…
Übersetztes Zitat aus dem Vortrag von Varoufakis:
“Uns wurde der größte Kredit in der Menschheitsgeschichte gegeben, damit wir heucheln und ausdehnen konnten [„pretend and extend“]. Heucheln, dass wir die Rückzahlungen leisten könnten, um so die Krise in die Zukunft auszudehnen. Aber tatsächlich ist es schlimmer. Gegenüber Frankreich würde der skrupellose Banker niemals auf die Idee kommen, zu sagen: >>Weißt du, Frankreich, ich werde dir einen extend-and-pretend-Kredit geben unter der Bedingung, dass du dein Einkommen verminderst.<< Das würde man niemals tun, weil das völlig irrational und verrückt wäre. Ja, aber das ist, was sie mit Griechenland gemacht haben. Die 110 Milliarden, die Griechenland geliehen wurden im Mai 2010 kamen mit Austeritätsauflagen, die mit mathematischer Präzision das Nationaleinkommen Griechenlands massiv vermindern würden. Am Ende war es mehr als ein Viertel, mehr als ein Viertel!
Also… könnt ihr das fassen? Ich würde zu euch sagen: >>Ich weiß, dass ihr euer Kreditkartendarlehen nicht bezahlen könnt, also gebe ich euch eine andere Kreditkarte, mit der ihr Geld abheben könnt, um die erste Kreditkarte unter Bedingungen zu begleichen, die euer Einkommen vermindern.<< Wenn ich das sagen würde, würdet ihr denken, dass ich völlig meschugge bin, und ihr würdet mich in irgendeine Einrichtung für Verrückte einliefern. Aber das ist, was mit Griechenland passiert ist.
Nun, niemand ist hirnverbrannt, niemand tat dies etwa, weil sie nicht verstanden, was sie taten. Der einzige Grund, warum dies passierte, lag darin, dass der Bundestag einen 500 Milliarden Bail-out für die deutschen Banken ein Jahr zuvor genehmigt hatte. Und die deutsche Bundesregierung war politisch nicht bereit dazu, zum Bundestag zurückzukehren und zu sagen: >>Hört zu, ich weiß, dass wir gerade Frankfurt 500 Milliarden zugesagt haben, aber zur Zeit gehen die Griechen Pleite und sie schulden den Frankfurter, sowie den französischen Banken eine Menge Geld. Und die französischen Banken schulden wiederum den deutschen Banken Geld. Also, wisst ihr, wenn wir Griechenland zahlungsunfähig werden lassen, dann werden wir, der Deutsche Bundestag, den Banken ein weiteres großes Darlehen geben müssen.<<
Das erste Mal als Kanzlerin Merkel zum Bundestag ging, um jene 500 Millarden für die Banken zu sichern, war es politisches Gift für sie. Sie konnte dies nicht ein weiteres Mal tun. Also ging sie stattdessen dorthin und sagte: >>Die Grashüpfer des Südens, die Griechen, gaben zu viel aus, sie verletzten die Regeln, und nun müssen wir sie retten. Das widerstrebt uns, aber zum Zwecke des Erhalts der Eurozone und der europäischen Solidarität, werden wir ihnen 110 Milliarden geben1, ein Bail-out für Griechenland.<<
Es war kein Bail-out für Griechenland, es war ein Bail-out für die Deutsche Bank, Finanzbank BNP Paribas und Société Générale. 90% des Geldes ging an die Banken. Wisst ihr wie viel… wie hoch der Anteil im jüngsten Bail-out war, jenes, das ich im Juli nicht unterzeichnete (der Grund, weswegen ich hier bin als Griechenlands ehemaliger Finanzminister, da ich es nicht unterzeichnete)? Von den 85 Milliarden, dem dritten Kredit, wisst ihr, wie viel an den griechischen Staat gehen wird? Es ist eine radikale Zahl: Null. Also, wenn wir über Bail-outs sprechen, sollten wir analytisch darin sein, worüber wir exakt sprechen. Was die Zielperson des Bail-outs anbelangt, wessen Schulden werden übernommen? Im Mai 2010 waren es ganz klar die Schulden der Banken Nordeuropas.”
(Yanis Varoufakis, “Money and Power”, Vortrag an der Wirtschaftsuniversität Wien, 4.11.2015, min. 27:10, Übers. Maskenfall)
Hier eine Grafik, die noch einmal aufzeigt, wie verrückt die Austeritätsbedingungen bisher gewesen sind, indem sie Griechenland erst so richtig die Möglichkeit nahmen, die Kreditgelder je wieder zurückzuzahlen (schwarze Linie: BIP):
Wie zu sehen ist, ist Griechenlands jährliches Exportdefizit (grün) zwar deutlich zurückgegangen und wird 2015 voraussichtlich nahe Null sein, doch wer meint, dass hierhinter ein lebendiger Export (rote Linie) steht, wird eines besseren belehrt. Der Rückgang der jährlichen Außenhandelsverschuldung basiert fast ausschließlich darauf, dass die Importe aufgrund der Kürzungspolitik einbrachen. Sollte Griechenland je wieder aus der Stagnation bis Rezession herauskommen, dürften die Importe wieder rasch ansteigen, wodurch das Land weiterhin als Ganzes Verschuldung gegenüber dem Ausland aufbauen würde, ohne diese unter den gegebenen Voraussetzungen durch Exportüberschüsse abtragen zu können.
Das machen auch die Zahlen zu den Investitionen deutlich (siehe nachfolgende Grafik). In Griechenland wird nicht etwa aufgrund gesenkter Löhne und Sozialleistungen jetzt kräftig investiert, so dass Produktivität und Rückzahlungsfähigkeit steigen. Im Gegenteil, die Investitionen sind dramatisch eingebrochen (blau) und der ganze Kapitalstock fährt auf Verschleiß (negative Nettoanlageinvestitionen, d.h. Abschreibungen sind höher Investitionen, rote Linie):
Man hätte ein Aufbau- statt Abbauprogramm vornehmen müssen, wenn es einem um die Rückzahlung von Steuergeldern gegangen wäre. Doch darum ging es Frau Merkel und Herrn Schäuble offenbar nicht. Vielmehr ging es wohl darum, an dem Land ein Exempel zu statuieren und das eigene Klientel (Großbanken und Vermögende) zu schützen. Hierzu noch einmal der Verweis auf eine Grafik von Hannes2:
Und hier noch einmal die Auflistung, wie es von 2010 bis 2014 dazu kam (die “Hilfsgelder”, die eben hauptsächlich nicht an die Griechinnen und Griechen, sondern Banken flossen):
Ich erinnere abschließend an die grandiose Leistung unserer Leitmedien, die diese ganzen Entwicklungen mit Applaus begleiteten. Dazu noch einmal ein Zitat aus dem heute Journal vom Juli, es bringt auf den Punkt, wie grundlegende Probleme unter Propagandaeinwirkung tatsächlich erst gemacht werden:
„Guten Abend, Mittwoch, 8. Juli, im sechsten Sommer der Griechenland-Krise. Noch nie waren wir dem Grexit, Athens Austritt aus der Eurozone, so nah. Es sei denn, Tsipras hat nur geblufft und präsentiert morgen einen Plan, der drastischer ist, als das, was die Gläubiger zuletzt von ihm verlangten, als das, wozu sein Volk so donnernd „Nein!“ stimmte. Oder, andersrum, es sei denn, Europa hätte geblufft, und knickt bis Sonntag ein, verbiegt die Regeln ein weiteres Mal und zahlt am Ende jeden Preis, wenn nur die Eurozone intakt bleibt.
Und so trat Tsipras heute in Straßburg in spannungsgeladene Luft und warb noch einmal um Hilfe vor dem Europäischen Parlament, einer Versammlung wütender Gegner, enttäuschter Freunde und einiger bis heute unverdrossener Anhänger der Tsipras-Varoufakis-Sicht auf Welt und Finanzwelt.“(ZDF heute journal, 8.7.2015)
SOS! Gegenkräfte dringend nötig!
Noch mehr Desinformation als beim heute Journal geht dennoch. Was twitterte Dieter Nuhr am 5.7.2015?
“Meine Familie hat demokratisch abgestimmt: Der Hauskredit wird nicht zurückgezahlt. Ein Sieg des Volkswillens!”
Papageien-Humor im Flug ums nationale Stammesfeuer!