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Konsumboykott zu Weihnachten?

Immer wieder berichten Medien trotz gigantischer Exportüberschüsse von einem angeblich die Wirtschaft tragenden Binnenkonsum im vermeintlichen Krisengewinnerland Deutschland. Zu Weihnachten macht der grundsätzlich wachsende Konsumrausch im Einzelhandel jedes Jahr wieder Schlagzeilen. Im vergangenen Jahr allerdings gingen Umsatzerwartungen und Realität so weit auseinander, dass Meldungen über diese Diskrepanz es in die Presse schafften, ohne dass selbige diesen Widerspruch allerdings auflöste.

Rückblick

Ende November schrieb der Nachrichtensender n-tv im Hinblick auf die Erwartung der Einzelhandelsumsätze zur Weihnachtszeit: “Geld sitzt zu Weihnachten locker” und begründet dies mit  “der sich abzeichnende Erholung der heimischen Wirtschaft und dem stabilen Arbeitsmarkt”, laut Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), so n-tv weiter, sei zudem die Sparneigung der Konsumenten so niedrig wie seit der Wende nicht mehr.

Ein Handelsblatt-Artikel titelte noch Anfang November großspurig: “Rekordumsatz im Weihnachtsgeschäft erwartet”. Der Handelsverband Deutschland bringt es in seiner dortigen Meinungsäußerung fertig, die seiner Meinung nach zu erwartenden moderaten Umsatzzuwächse zur Weihnachtszeit mit gestiegenen Heizkosten, also über die Ausgabenlast der Konsumenten zu begründen. Gleichzeitig werden zu viele kundenabweisende Streiks durch ver.di als Ursache für das Ausbleiben stärkerer Umsatzzuwächse bemängelt, womit die Rolle des Einkommenszuwachses (auf den ver.di ja gerade hinarbeitet) bei der Umsatzsteigerung über eine Kaufkrafterhöhung somit indirekt ins Gegenteil verkehrt wird.

Die FAZ nimmt die Jubelmeldungen für bare Münze1 und mutiert in ihrem Artikel zum Konsumkritiker. Das Motto ist hier: “Was sollen die Deutschen denn noch alles konsumieren, damit diese Kritiker der deutschen Exportüberschüsse endlich verstummen?” Der Autor hält den Konsum offenbar ausschließlich für eine Willensentscheidung und nicht für eine Frage der Kaufkraft, also der Reallöhne.

Gegenwart

Ende Januar titelte nun n-tv überrascht “Einzelhandel erlebte böse Bescherung – Mieses Weihnachtsgeschäft”.  Die Umsätze im Einzelhandel waren im Weihnachtsmonat im Vergleich zum November um 2,5% (preisbereinigt) gesunken. Der Autor und seine Stichwortgeber versuchen, außer mit der Pleite von Max Bahr und Praktiker als Grund für Probleme in den Bereichen Baubedarf und Einrichtung2, erst gar nicht über weitere Gründe zu nachzudenken. Als ginge es bei der Entwicklung des Einzelhandelsumsatzes um einen zufälligen Prozess, bei dem man die Augen zukneift, gebannt auf ein gutes Ergebnis hofft und es nochmals probiert, falls es nicht eingetreten ist, sprechen der zitierte Ökonom und der Branchenverband lieber von ihren ungebrochen optimistischen Zukunftserwartungen.

Realität

Hatte vielleicht aufgrund der milden und schneelosen Vorweihnachtszeit keine weihnachtliche Schenkfreude  eingesetzt? Oder waren die Kinder in diesem Jahr einfach nicht brav genug? Oder handelt es sich gar um einen Weihnachtsboykott, mit dem viele Bürger gegen die Konsumgesellschaft demonstrierten?

Warum sinken die Umsätze im Einzelhandel aber dann eigentlich tendenziell seit 20 Jahren?

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Oder liegt diese Entwicklung vielmehr an Dingen wie: massiver Lohnzurückhaltung, rasch wachsender Einkommensungleichheit, rasanter Dezimierung der Mittelschicht und starker Zunahme des Armutsrisikos?

Wie die Darstellung der Lohnentwicklung zeigt, lag der durchschnittliche(!) Stundenlohn in Deutschland 2013 auf dem Wert von 2003, während die Produktivität der ArbeitnehmerInnen, also die von ihnen stündlich geleistete Wertschöpfung, stark zugenommen hat. Selbst die Tariflöhne haben im gesamten Verlauf viel häufiger stagniert als zugenommen, so dass auch diese immens hinter der Produktivität der gesamten ArbeitnehmerInnenschaft zurück geblieben sind. Dies bedeutet eine Abkehr von der damaligen Praxis der Bundesrepublik in Sachen Lohnentwicklung, nach der der jährliche Wohlstandszuwachs  zwischen abhängig Beschäftigten und Arbeitgebern gleichmäßig aufgeteilt wurde3.

Eine Lohnzurückhaltung von 1,5 Billionen Euro führt natürlich zu starken Umwälzungen im Lohngefüge und gerade bei den unteren und mittleren Einkommensgruppen zu starken Kaufkraftverlusten. Passenderweise hatte das IAB kürzlich ermittelt, dass bis zu 4,9 Mio. Menschen in Deutschland im Einkommensbereich der verdeckten Armut leben, also trotz Anspruchsberechtigung auf zusätzliche ALG-II-Leistungen, diese nicht beantragen. Viele Menschen haben bereits Schwierigkeiten ihre Lebensmittel zu finanzieren (1 Million Nutzer der Tafeln), und natürlich auch nicht genug Geld für Weihnachtsgeschenke, wichtige Haushaltsgeräte, Strom oder Heizung.

Zusatz Jascha:

Passend zum Thema der enormen Lohnlücke, die sich seit mehr als einem Jahrzehnt in Deutschland aufgetan hat, kommentiert Michael Schlecht, MdB und wirtschaftspolitischer Sprecher von DIE LINKE die jüngsten Lippenbekenntnisse von Sigmar Gabriel:

“Gabriel versucht sich als Freund der Gewerkschaften darzustellen. Aber was macht er, um ihnen in der Tarifpolitik zu helfen? Soll jetzt Befristung abgebaut werden, denn befristet Beschäftige trauen sich in der Regel nicht zu streiken? Nein! Soll jetzt die Leiharbeit konsequent reguliert werden, denn auch mit Leiharbeitern sind Arbeitskämpfe kaum möglich? Na ja, in homöopathischen Dosen. Sollen die Gewerkschaftsrechte gestärkt, die Tarifflucht konsequent unterbunden werden? Nein, alles Fehlanzeige. Von den vielen Wahlversprechen der SPD ist in der GroKo fast nichts übrig geblieben.”

Siehe: “Gabriel für höhere Löhne – aber nur verbal”

Ergänzung Johannes:

Oder die dazugehörige Rede im Bundestag:

  1. kritisiert allerdings den in den Jubelarien zum Ausdruck kommenden Konsumfetisch []
  2. Bem.: Aha, Umsatzeinbußen liegen also natürlich einmal mehr allein am Angebot! []
  3. = Reallohnsteigerung gemäß Produktivitätssteigerung, was als Minimalvoraussetzung einer “sozialen” Marktwirtschaft gelten kann, in der natürlich weiterhin der Mehrwert der Arbeit anderer von Kapitalbesitzern abgeschöpft wird. []

Johannes Stremme

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