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Von Sonne, Zäunen und Würde

Wir veröffentlichen den Beitrag einer jungen Leserin zu einem Thema, das es unserer Tage wohl so gut wie kein anderes versteht, die Gesellschaft Bekanntschaft mit sich selbst machen zu lassen, und viele Erzähler in Zweifel über ihre eigenen Erzählungen zu bringen. Lisa N. versteht es mit ihrem Gedicht, den Mensch an das Menschsein zu erinnern. Oder um es mit den Worten von Alexander Eilers zu sagen: “Lyrik ist Logopädie im Zeitalter der Sprachlosigkeit.”

Vorgetragen von Lisa N. auf einer öffentlichen Veranstaltung in Geretsried:

Sie stehen in der untergehenden Sonne.
Warten auf die nächste fallende Bombe
oder auch einfach nur
auf ein Stück
Freiheit.

*

Gehen Sie noch ohne Pfefferspray auf die Straße?
Ich nicht, und ich habe
auch schon eine Pistole zuhause
denn man weiß ja nie, was da so kommt
aus irgendeinem fremden Land
wo man keine Sitten, keinen Anstand kennt
und Frauen nur die Lustobjekte ihrer Männer sind,
wo statt Recht und Ordnung religiöser Wahn den Alltag bestimmt
– ausgelegt so, wie es gerade passt.

*

Sie stehen im Regen.
Warum spannen sie sich nicht selbst einen Schirm auf?

*

Ich wage nicht zu schreiben
über den Fluch der Flucht
und den Wunsch zu bleiben
nicht über den Schmerz, zu gehen
und zurückzulassen
nicht nur Menschen und Sachen
und Orte
sondern vielleicht auch ein Stück
von mir selbst
denn dort muss ich eine Andere sein.

Aber ich musste nicht fliehen.

Und doch, weil nicht die Mauern,
nicht die Meter und Kilometer zählen,
und nicht die Straßen und nicht die Wellen,
die zwischen uns liegen,
sondern nur die Gedanken, die sich
– nein, die wir –
zwischen uns schieben
und die viel weniger wanken
als bewaffnete Mauern und bewachte Schranken.

Und weil integrieren
nicht bloß anpassen heißt,
sondern leben
– und zwar nicht nur mit Deutschen,
sondern mit jedem
– auch wenn der auf der falschen Seite des Zaunes geboren
wurde
und deshalb verloren hat
im Spiel um ein Leben in menschlicher Würde.

*

Jedenfalls, wenn wir
Menschen töten, die Menschen töten und leider zufällig aus Versehen gleichzeitig auch Menschen töten, die keine Menschen töten
oder wenn wir
mit geschlossenen Augen oder heimlichem Blinzeln oder selbstbewusst – nein, selbstverliebt –
mit offenen Augen
Schokolade aufs Brot und Bohnen und Kiwis und Zitronen und Boyfriend-Jeans im Extra-used-look kaufen
– dann ist es doch verständlich, wenn wir uns wehren
dagegen, dass die, die uns den ganzen Luxus bescheren
ihren angestammten Arbeitsplatz aus Unmut verlassen
und sich nun als Wirtschaftsflüchtlinge von uns durchfüttern lassen?!

Überhaupt:
Wirtschaft – oder wir schaffen das?!
Immer öfter denke ich, naja, wir lassen das
besser mal,
denn wenn die deutschen Qualitätswaffen wegfallen
kann man nur noch zweitklassig morden
– und wo bleibt denn dann der ganze Spaß?

*

Oder aber wir können es wagen
statt den Menschen vor der Nase die Tür zuzuschlagen
ihrer Würde die Rechnung zu tragen
und sie zu uns einzuladen
als Gäste
– oder Menschen
die bleiben.

(Je öfter ein Weg zurückgelegt wird,
desto leichter lässt es sich gehen
und ankommen in einem anderen Regen
unter der selben Sonne.)

Jascha Jaworski

3 Kommentare

  1. Ja, es zeigt den Zustand unserer Gesellschaft, aber leider nur in Schwarz -Weiß. Aber genau das ist ja der Zeitgeist. Hintergründe, Ursachen, Komplexität haben da keinen Raum.

  2. Auch ich finde grau
    per se nicht lau
    sehe aber in dem kürzesten Gedicht nie weniger (sogar echte!) Farben als in einem Roman.
    Dennoch kann “ein Gedicht ]..[ mein Messer ” * sein.
    Und der (böse?) Zeitgeist mag es auch nicht, Konturen offen zu legen …. hinter Schimmer verschwimmt so Manches.
    Formale Betrachtungen helfen mir zuweilen die Implikationen grausamer Realitätskomplexe mit guter Laune lebendig bleibend auszuhalten.
    Eine schwarze Linie scheidet eben zwei Flächen voneinander.
    Ein (Wieder-) Zusammenfinden von diesen, kann sie, Formfreiheit vorausgesetzt (keine Gerade), bestenfalls erzählen, nie selbst erwirken.
    Sokrates sprach von Mäeutik, an die ich hierbei denke.
    * Wolfgang Weyrauch

  3. ja – die schwarze Linie..das ist ja gerade der Beweis, schwarz auf weiß
    aber reicht das Wort um Berührungspunkte zu entzünden ? Ohne Befragung
    der Materie und Weitertragen der Flamme zu einer offenen Bühne werden
    wir an der ästhetischen Form hängenbleiben..

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