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Lohnentwicklung ab 1970 – Teil 2: Arbeitgeber ziehen sich aus Sozialbeiträgen zurück

Im vorherigen Teil des Artikel wurde nochmals die Auseinanderentwicklung von Bruttolöhnen und Produktivität, also die sogenannte Primärverteilung, die die aktuellen Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit beschreibt, thematisiert. Wie wir gezeigt haben, hängen diese allerdings fundamental zum Beispiel von der politischen Gestaltung des Arbeits”markts” ab.

Naturgemäß wird der politische Einfluss der Interessenvertreter der Arbeitgeber / Vermögenden allerdings auf allen möglichen Verteilungsebenen entfaltet. So werden mit Hilfe des negativen Bedeutungswandels des Begriffs der Lohnnebenkosten auch die Beiträge der Arbeitgeber zu den Sozialversicherungen seit langem zur Manövriermasse erklärt. Durch die propagierte Senkung selbiger wurde die Illusion erzeugt, es existiere ein für den Arbeits”markt” heilsames (neoklassisches Mantra) Einsparpotential bei den Sozialversicherungen. Letztlich müssen aber die fehlenden Beträge bei den Sozialversicherungen von den Arbeitnehmer*innen direkt oder indirekt übernommen werden, was einer Lohnkürzung entspricht. Durch Abbau von Leistungen und gezielter staatlicher “Förderung” sollen Menschen zur privaten Vorsorge getrieben werden (fragt sich nur, wer hierbei eigentlich gefördert wurde).

Nach über 56 Jahren paritätischer (anteilsgleicher) Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung wurde der Arbeitgeberanteil zur gesetzliche Krankenversicherung 2005 derart verändert, dass dieser nun um 0,9 Prozentpunkte geringer ausfällt als der Arbeitnehmerbeitrag. Der Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung sieht es zudem vor, den Arbeitgeberbeitrag bei seinem jetzigen Wert von  7,3 % einzufrieren und somit bei jeglicher Erhöhung der Krankenkassenbeiträge die Arbeitnehmer*innen im Stich zu lassen. Offenbar sollen die Euroländer weiterhin keine Luft zum Atmen in Sachen Wettbewerbsfähigkeit erhalten, denn auch dadurch, dass man den “Faktor Arbeit” möglichst weiter von Gesundheitskosten “befreit”, lassen sich Wettbewerbsvorteile gegenüber den Handelspartnern erzielen.1

Im Folgenden wird die Entwicklung der real gezahlten Sozialbeiträge (pro Arbeitsstunde) der Arbeitnehmer*innen mit denen der Arbeitgeber verglichen. Zu den Sozialbeiträgen der Arbeitgeber gehören einerseits die Beiträge zu der Sozialversicherung als sogenannte tatsächliche Sozialbeiträge, andererseits die sogenannten unterstellten2. Hierbei handelt es sich etwa um Lohn- und Gehaltsfortzahlung, Pensionen oder Abfindungen vom Arbeitgeber, die direkt an gegenwärtige oder früher beschäftigte Arbeitnehmer*innen oder sonstige Berechtigte gezahlt werden.3
sozbetAb 1970 waren die Sozialbeiträge der Arbeitgeber (blaue Kurve) zunächst etwas stärker angestiegen als die der Arbeitnehmer*innen (rote Kurve), dies kehrte sich jedoch in der 80ern um, so dass die  Zuwachsraten (in Bezug auf 1970) 1991 identisch waren. In der BRD nach der Wende galt dies zunächst ebenfalls, danach nahmen die Beiträge der Arbeitnehmer etwas stärker zu als die Arbeitgeberbeiträge. Als die Arbeitgeberbeiträge dann ab 2004 erstmalig seit 1970 merklich abfielen, enfernten sich die steigenden Arbeitnehmerbeiträge auffällig und aufgrund der genannten Reformen scherenartig von diesen.

Die in der Abbildung dargestellte schwarze Kurve beschreibt die fiktive Entwicklung der Sozialbeiträge, bei der das Verhältnis von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag durchgehend dem Verhältnis von 1970 entspricht und dabei die selbe tatsächliche  Gesamtsumme der Sozialbeiträge erzielt.4

Hätten die Sozialbeiträge (pro Arbeitsstunde) die dargelegte Entwicklung nachvollzogen, so würde der Sozialbeitrag der Arbeitnehmer*innen 2013 um 11,7% niedriger ausfallen und der Sozialbeitrag der Arbeitgeber um 9,2% steigen. In dieser modellhaften Betrachtung würde sich für die Arbeitnehmer*innen ein um 3% höherer Nettostundenlohn ergeben.

Wer die Senkung der Lohnnebenkosten zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit (und zum Nachteil der ArbeitnehmerInnen, die in dieser Perspektive ja von vornherein als reiner Kostenfaktor betrachtet werden)5 fordert, müsste zumindest einen Mechanismus nennen, der den Unterbietungswettkampf um die geringsten Lohnnebenkosten beendet und irgendwo ein Halteseil einzieht. Darüber will man in den oberen Wirtschafts- und Politiketagen jedoch offenbar nicht nachdenken. Warum auch, dort sind ArbeitnehmerInnen ja reine Kostenfaktoren, und die gilt es zu senken, je weiter, desto besser.

  1. Kinderlose Arbeitnehmer*innen (ab 23 Jahren) müssen seit 2005 für die gesetzliche Pflegeversicherung des Weiteren 0,25 Prozentpunkte zusätzliche Beiträge bezahlen. []
  2. ohne „spezielle Deckungsmittel“, d.h. ohne entsprechende Einnahmen aus Umlagen und dgl. oder aus Erträgen aus der Auflösung von Rückstellungen []
  3. Daten aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) des Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen []
  4. Dies soll nicht als Empfehlung verstanden werden an der Senkung der Sozialbeiträge festzuhalten, sondern die Arbeitgeber wieder stärker in die Pflicht zu nehmen, was die Finanzierung der Sozialbeiträge anbelangt. []
  5. Abgesehen davon, dass man sich hierdurch auch bereits auf dem Holzweg des “Wettkampfs der Nationen” befindet []

Johannes Stremme

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