Teil 2 der Artikelreihe warf einen Blick auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen in der Thatcher-Ära, sowie jene Zeit, die ihr vorausging. Wie die Dokumentation „Century of the Self“ darlegt, wurde bereits ab den 60er Jahren ein gesellschaftlicher Wandel hin zu einem verstärkten Streben nach Selbstverwirklichung in westlichen Ländern sichtbar, das zunächst aus dem Unternehmenssektor heraus aufgegriffen wurde und über ein identitätsstiftendes Konsumangebot auf ein kommerzielles Gleis zu setzen versucht wurde. Der hierdurch verstärkte Fokus auf die individuelle Identität gegenüber der kollektiven wurde dann von den Konservativen rund um Margret Thatcher und Ronald Reagan in ihrem politischen Ansatz aufgegriffen, um neue Wählergruppen durch einen negativen Freiheitsbegriff anzusprechen und die Wahlen für sich zu entscheiden. In der Folgezeit wurden sowohl in UK, als auch in den USA wirtschaftspolitische Maßnahmen eingeleitet, die heute als neoliberaler Putsch gelesen werden können, indem sie nicht nur zentrale gesellschaftliche Organisationen (v.a. Gewerkschaften) nachhaltig entmachteten, sondern auch die Mehrheit derjenigen, die direkt oder indirekt von Löhnen und Gehältern abhängig waren, indem sie diese durch Massenarbeitslosigkeit, Deindustrialisierung, Sozialabbau, Deregulierung etc. schlechter stellten. Es setzte sich also die Kapitalseite gegenüber den Arbeitnehmerinteressen durch, indem ökonomische Tatsachen geschaffen wurden, die jedoch nach außen als Prozess der „Modernisierung“ und „Befreiung“ des Individuums von der „Bevormundung“ durch den Staat1 dargestellt wurden.
“New Labours” selbsterfüllende Prophezeiung
Der Angriff auf Gewerkschaften und Arbeiterfamilien, die die klassische Machtbasis der Labour Party darstellten, leistete seinen großen Beitrag dazu, dass die Konservativen die Wahlen noch bis Mitte der 1990er Jahre für sich entscheiden konnten. Innerhalb der Labour Party konnten so die Stimmen lauter werden, die eine inhaltliche Neuausrichtung, sowie andere Wahlkampfmethoden, die auf den stärkeren Einsatz von Meinungsumfragen und PR hinausliefen, einforderten. Was kam, wurde unter der Bezeichnung – besser “Marke” – “New Labour” bekannt. Unter Rückgriff auf professionelle PR-Methoden sollten zusätzliche Wählersegmente – die berühmte “neue Mitte” – gewonnen werden, indem diese über den sog. “Dritten Weg” erreicht werden sollten, der eine Mischung aus konservativ-liberaler Angebotspolitik (Markt als Steuerungsinstrument, Schaffung von “Anreizen” und “Investitionsklima”, “Haushaltskonsolidierung”) und linksanmutender Sozialpolitik darstellt. Mit diesem Ansatz sollte der enormen Ungleichheit, wie sie durch die Verschärfung von Marktkräften und Konkurrenz unter der Ära von Thatcher geradezu explodierte, v.a. durch mehr Bildung, “Hilfe zur Selbsthilfe” und Chancen-, statt Verteilungsgerechtigkeit entgegengewirkt werden. Wie wir wissen, handelte es sich bei dem damals eingeführten politischen Ansatz um jenen, der sich heute in den meisten westlichen Ländern beobachten lässt. Sein “Vorteil” liegt sicherlich darin, dass er durch die Bedienung von Kapitalinteressen v.a. im Konzern- und Finanzsektor auf Befürwortung stößt, und somit auch im Medienmainstream als “wählbar” kommuniziert wird. Tatsächlich gewann die Labour Party 1997 mit ihrem Spitzenkandidaten Blair die Unterhauswahlen und zog nach rund zwei Jahrzehnten konservativer Regierungsführung wieder in die Downing Street ein. Als Konsequenz jedoch ist heute dokumentiert, dass der Ansatz von “New Labour” die Verschärfung der Ungleichheitsentwicklung gerade nicht aufhalten konnte und auch die Machtkonzentration auf der Kapitalseite sich noch wesentlich weiter verdichtet hat. Dabei gab der Ansatz den Kern ursprünglicher Ideen der Sozialdemokratie auf, um konservative Politik gerade im zentralen makroökonomischen Bereich nachzuahmen und insgesamt durch Inkohärenz und inhaltliche Aushöhlung aufzufallen.
Die vielleicht fatalste Konsequenz der Neuausrichtung der Labour Party – sowie ihrer Schwesterparteien in anderen Ländern – besteht jedoch darin, dass die Partei ihren eigentlichen Daseinsgrund als Gegengewicht zur Macht der Kapitalinteressen aufgegeben hat, und dadurch dem Mantra der “Alternativlosigkeit” seine widerstandsbrechende, bedrückende Glaubwürdigkeit verschafft hat. Philipp Gould, der damalige Wahlkampfberater der Labour Party gehörte zu jenen, die den “Dritten Weg” beschreiten und den Kampf um die “neue Mitte” führen wollten, weil sie durch ihre Methoden der Meinungsforschung ausgemacht zu haben glaubten (oder glauben wollten), dass dies die einzige Möglichkeit sei, überhaupt wieder Mehrheiten für die Partei gewinnen zu können. Gould meinte beobachtet zu haben, wie die WählerInnen den politischen Bereich immer stärker aus der Rolle des individuellen Konsumenten heraus sahen, der für Steuern eine bestimmte staatliche Leistung erhält, von der er oder sie möglichst direkt profitieren müsse, wodurch also das Solidarprinzip in den Hintergrund getreten sei.
Schaut man sich hier Umfrageergebnisse aus dem British Social Attitudes Survey an, wie sie seit den 1980er Jahren vorliegen, lässt sich tatsächlich beobachten, dass der Anteil derjenigen in der wahlberechtigten Bevölkerung, die sich für höhere staatliche Sozialausgaben aussprechen, seit Ende der 80er Jahre rückläufig ist (1989: 60%, 1995: 50%, 2014: 30%)2. Außerdem ergibt sich insgesamt das Bild, dass die Bereitschaft für die Aufwendung von Leistungen gegenüber Arbeitslosen abgenommen hat. Der Anteil derjenigen, die Sozialausgaben in diesem Bereich als prioritär ansehen, sank nicht nur (1980er: ca. 30%, 2000er: ca. 10%)3, sondern auch immer mehr Befragte betrachteten Leistungen für Arbeitslose als „too high and discourage work“ (Anstieg von rund 30% auf über 50%)4. Ein interessanter Effekt lässt sich jedoch darin beobachten, dass die Abnahme der Bereitschaft von Aufwendungen für Arbeitslose gerade in den Jahren erfolgte, die dem Wahlsieg von “New Labour” nachfolgten, also genau in jener Zeit, als das neue Leistungs- und Anreizdenken auch aus der klassischen Organisation der Arbeitnehmerinteressen heraus offensiv verbreitet wurde. Speziell bei den Befragten, die sich mit der Labour Party identifizierten, stieg der Anteil derjenigen, die die Leistungen für Arbeitslose als zu hoch und Hinderungsgrund für die Arbeitssuche betrachteten von 17% im Jahr 1997 sprunghaft auf 39% im Folgejahr.5
Was nun die Einstellung zu staatlichen Ausgaben und Steuerpolitik insgesamt anbelangt, lässt sich in der öffentlichen Meinung in UK über die Anfangsphase der Thatcher-Jahre hinweg sogar ein deutlicher Anstieg in der Forderung nach einer aktiveren Rolle des Staates erkennen. Der Anteil der Befragten, die sich für höhere Steuern und Staatsausgaben aussprachen, stieg von knapp über 30% im Jahr 1983 auf rund 60%, um dann auf diesem Niveau bis in die 2000er Jahre hinein zu verharren. Erst ab dem Jahr 2003 setzte hier ein Wandel ein, bei dem die Forderung nach erhöhten Ausgaben und Steuern wieder rapide zurückging6. Feststellen lässt sich hierbei jedoch insgesamt, dass über die Jahrzehnte hinweg unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse bei den Forderungen nach mehr Steuern und staatlichen Ausgaben sich nicht etwa mit Forderungen nach weniger abwechselten, wie sie zum Leitmotiv von Reagan und Thatcher gehörten, sondern lediglich damit, dass Phasen eintraten, in denen der Anteil derjenigen, die diesbezüglich die Verhältnisse nicht verändern wollte, zunahm. Der Anteil derjenigen, die i.S. der Neoliberalen einen „schlankeren Staaten“ forderten, kam über die gesamte betrachtete Zeit hinweg nie über 9% hinaus und betrug im Durchschnitt der Jahre lediglich rund 5% der Befragten.
Der demokratische Riss im System
Dies ist nur ein kleiner, jedoch nicht unbedeutender Ausschnitt aus dem Bereich Wirtschaftspolitik, der nahe legt, dass die Labour Party selbst es war, die eine Verschiebung der öffentlichen Meinung weg von ihrem klassischen wirtschaftspolitischen Ansatz und hin zum neoliberalen „Angebots“denken bewirkt hat. Gleichwohl scheint sich dieses Denken in weiten Teilen der Bevölkerung von UK nur thematisch umgrenzt durchgesetzt zu haben, indem z.B. nachwievor eine wirtschaftspolitisch aktive Rolle des Staates gefordert wird.
Hier kommt nun Jeremy Corbyn ins Spiel, der außergewöhnliche Anwärter für das Amt des Parteivorsitzender der Labour Party. Über zwei Jahrzehnte lang hat die Partei viele ihrer klassischen UnterstützerInnen von sich entfremdet durch den “Dritten Weg”, durch den aggressiven und verheerenden Kriegskurs an der Seite der USA, durch den zunehmenden Einsatz von PR-Methoden und Personenshows anstelle pluraler Debatten und politischer Alternativen. Selbst die bisherige Parteiführung sprach in Bezug auf ihre Wählerbasis von „disconnected“ und „disengaged“, versuchte jedoch die Ursachen hierfür in die von ihr gewünschte Richtung zu deuten (nach rechts). Doch nun erscheint mit Jeremy Corbyn ein jahrzehntelanger Abgeordneter von der linken Seite der Partei als Spitzenkandidat im Rennen, der sich selbst und den klassischen Werten der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung stets treu geblieben ist, indem er z.B. hunderte Male im Unterhaus gegen die eigene Fraktionsmehrheit stimmte.
Jeremy Corbyn schaffte es nur ganz knapp, die für seine Nominierung nötigen 35 Stimmen von Labour Abgeordneten im Unterhaus auf sich zu vereinigen, die als eine Art Eingangsfilter für die Kandidatenauswahl im neuen, reformierten Wahlverfahren der Labour Party dienten. Das Spannende ist nun, dass im nächsten Schritt im Rahmen des neuen Wahlverfahrens das Prinzip des „ein Mitglied, eine Stimme“ gilt, während vorherige Wahlen des Parteivorsitzenden der Basis lediglich ein Drittel der Stimmen gewährten, und das zweite Drittel von den Ober- und Unterhausabgeordneten, sowie den EU-Parlamentsabgeordneten der Partei, sowie das letzte Drittel durch die Mitgliedsorganisationen der Partei (u.a. Gewerkschaften) gestellt wurde. Das neue Wahlverfahren innerhalb der Partei wurde also demokratisiert. Resultat war, dass Jeremy Corbyn innerhalb kurzer Zeit zum Favoriten der Parteibasis wurde.
Gründe hierfür können einerseits darin gesehen, dass die verbliebenen drei MitbewerberInnen (Yvette Cooper, Liz Kendall und Andy Burnham) alle in zwar unterschiedlichen Graden, doch aber zum Lager der Blairisten und VertreterInnen von “New Labour” gezählt werden. Sie alle stehen mehr oder weniger für Austeritätspolitik, wenn auch in milderer Form als die Tories es tun, sie alle betonen Chancen- gegenüber Verteilungsgerechtigkeit, sie alle befürworten eine Außenpolitik, die auf Militärinterventionen setzt etc. Ein zweiter Grund für den bisherigen Erfolg von Corbyn dürfte wohl darin bestehen, dass innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Personen der Labour Party beigetreten sind, um ebenfalls über den Spitzenkandidaten abstimmen zu können. Besaßen bei der letzten Unterhauswahl im Mai 2015 nach Angaben von Labour noch rund 200 000 Personen die Parteimitgliedschaft, ist diese Zahl bis zum August auf rund 300 000 gestiegen. Hinzu kamen tausende registrierte UnterstützerInnen (Personen, die für wenig Geld in der Parteivorsitzendenwahl abstimmen dürfen), sowie affiliierte UnterstützerInnen (Personen, die aufgrund einer Zugehörigkeit zu einer Labour nahe stehenden Organisation abstimmen dürfen). Wie die Labour Party berichtet, kamen auf diese Weise allein in den letzten 24 Stunden, in denen man sich noch für die Wahlabstimmung registrieren konnte, viele tausend Personen hinzu. Hierdurch wurde dann der Ruf laut, dass Labour von Personen „infiltriert“ werde, die gar nicht wirklich für die Partei eintreten, sondern nur Einfluss auf die Wahl des Vorsitzenden nehmen wollen, etwa aus dem Motiv heraus, die Partei zu schädigen. Mittlerweile wurde eine Untersuchung der neuen Mitgliedschaften eingeleitet – zu viel Demokratie in ungewünschte Richtungen will man offenbar nicht einfach auf sich sitzen lassen – die bereits dazu führte, dass mehr als 3000 neue UnterstützerInnen, aus der Wahlberechtigtenliste entfernt wurden, z.B. weil sie ehemals Mitglied anderer Parteien waren.
Der Unradikale in radikalen Zeiten
Ein dritter Grund für die Popularität von Jeremy Corbyn liegt nicht zuletzt in seiner gestiegenen Bekanntheit auch aufgrund der (teils panischen) Diskreditierungsversuche seitens jener Labour Vertreter, die sich zum verlässlichen Teil des Establishments zählen dürfen. So hat Tony Blair selbst interveniert, um die Wählerbasis davor zu warnen, durch die falsche Kandidatenwahl eine “althergebrachte linke Plattform” zu etablieren, die “nicht funktioneren könne”. Hier liegt insgesamt die zentrale Abwehrstrategie derjenigen, die Labour auf dem bisherigen Rechtskurs halten wollen, obwohl mit diesem doch die letzten zwei Unterhauswahlen verloren gingen und auch die Parteibasis noch bis vor Kurzem auf einem noch niedrigeren Stand war, als nach dem dramatischen Abfall im Zuge der Thatcher-Jahre. Es ist also beobachtbar, wie hohe Parteifunktionäre im Verbund mit den Eliten aus Politik, Medien und Wirtschaft wieder einmal zur bekannten Technik greifen, das Spektrum des „gerade noch Zulässigen“7 zu definieren, indem sie Ängste schürend darauf hinweisen, dass die Positionen Jeremy Corbyns einerseits radikal sind und andererseits die Partei damit niemals Wahlmehrheiten gewinnen könne.
Dabei entsprechen die Positionen von Corbyn weitgehend dem, was einst eine eher gewöhnliche Position in Labour ausmachte. So sieht er sich selbst als demokratischen Sozialisten, der jedoch zunächst nicht mehr anstrebt, als anstelle von Austeritätspolitik eine keynesianisch orientierte Politik zu verfolgen, die auf mehr staatliche Investitionen zum Ausbau der Infrastruktur, sowie zur Schaffung von Arbeitsplätzen u.a. im sozialen, im Umwelt- und Bildungsbereich abzielt. Er möchte die wirtschaftliche Produktivität in UK durch einen Prozess der Reindustrialisierung steigern, um zugleich durch den Ausbau neuer Energien und Umwelttechniken einen Wachstumsprozess anzustoßen, der darum bemüht ist, einen positiven Beitrag für die Umwelt zu leisten und durch die Zunahme von staatlichen Einnahmen (und nicht eben Kürzungen) zu einer langfristigen Reduktion der Staatsschulden zu gelangen. Um diese Maßnahmen zu verwirklichen, will er vornehmlich an die Regulierung der Finanzoasen (Cayman Islands, Kanalinseln etc.) und Steuerschlupflöcher für Unternehmen gehen, sowie die Möglichkeit einer eigenständigen Währung dazu nutzen, um Kredite für realwirtschaftliche Aktivitäten zu ermöglichen. In der Außenpolitik spricht er sich deutlich gegen Kriege als vermeintliche Problemlösungen aus, da diese, wie ja spätestens die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte gezeigt haben, gerade erst Probleme wie zerfallende Staaten, Terrorismus und Fluchtursachen hervorrufen. Er ist für die nukleare Entwaffnung von UK, spricht sich strikt gegen Rüstungsexporte und gegen die Unterstützung von gewalthaften Gruppierungen aus Gründen des Regime-Change aus. Er strebt den Austritt von UK aus der NATO und einen verstärkten Dialog mit Russland an, da er den ursprünglichen Daseinsgrund des Militärbündnisses seit dem Ende des Warschauer Paktes für nicht mehr gegeben und die Neudefinition seines Auftrags (weltweiter militärischer Zugriff) für einen klaren Eskalationsfaktor hält.
Wie The Independent ausführt, kann Jeremy Corbyn bereits bei einer ganzen Reihe an politischen Ideen mindestens der Richtung nach auf eine Bevölkerungsmehrheit zählen (Wiederverstaatlichung der Eisenbahn, 75% Spitzensteuersatz für Einkommen über einer Million Pfund, Abbau von Nuklearwaffen etc.). Was Corbyn aus Sicht der etablierten Kräfte in UK so gefährlich macht, und weshalb ihr Widerstand leidenschaftlich bis hysterisch ausfällt, ist jedoch nicht, dass eine öffentliche Meinung, für die über Jahrzehnte der Raum des politisch Möglichen mit immer beengenderen Stellwänden ausgestattet wurde, ihn gleich auf Händen in eine Welt jenseits von Neoliberalismus und Neoimperialismus tragen würde. Was ihn so gefährlich macht, ist, dass überhaupt wieder größere politische Alternativen zum Bereich dessen gezählt werden, worüber sich ernsthaft und mit guten Argumenten gesellschaftliche Debatten führen lassen, nein, worüber sie zwingend geführt werden müssen. Sind die etablierten Kräfte doch gewohnt durch Demagogie, Wiederholung und Meinungskartelle einfach innerhalb jener gesetzten stillschweigenden Annahmen zu operieren, innerhalb derer sie den Kurs der Machtaneignung und -erhaltung durch die Wenigen fortsetzen können.
Eine weitere große Gefahr, die Corbyn aus Sicht dieser etablierten Kräfte darstellt, ist natürlich darin zu sehen, dass er die Labour Party wieder zum Kristallisationspunkt von Gegenmacht werden lassen könnte. Bereits jetzt unterstützen ihn die größten Gewerkschaften innerhalb der Labour Party, die relative Mehrheit der Wahlbezirke, zahlreiche NGOs, sowie zahlreiche britische und internationale Personen des öffentlichen Lebens (so etwa Emma Thompson, Kate Pickett, Richard Wilkinson, Lord Skidelsky, Costas Lapavitsas (ehemals SYRIZA), Pablo Iglesias (Podemos), Joseph Stiglitz). Seine UnterstützerInnen an der Basis zeichnen sich laut einer Auswertung von YouGov – die zugleich die Botschaft transportieren soll, dass es sich um ein realitätsfernes Außenseitertum handelt – durch ein starkes politisches Engagement, hohe Internetaffinität und mehrheitlich linksorientierte Vorstellungen aus.
Die Gegenseite steht geschlossen
Die Kräfte, die sich ihm entgegenstellen, stammen natürlich aus dem Bereich des Medienmainstream, besonders die rechte Presse rund um Rupert Murdochs The Times, The Sun und The Sunday Times, aber auch TV-Sender wie Channel 4 oder die staatliche BBC. Die Medien transportieren dabei nicht nur bereitwillig die Ausgrenzungskampagne aus den führenden rechten Kreisen der Labour Party, sondern stellen sich selbst als verlässliche Wächter dar, die kritische Energie offenbar mit diskreditierender Energie verwechseln. Die großen Unternehmen und der Finanzsektor können allein aufgrund der von Corbyn verfolgten Politik der Regulierung zu seinen schärfsten Gegnern gezählt werden. Und auch die Königsfamilie wird es nicht gut mit ihm meinen, da Corbyn selbst die Monarchie abschaffen möchte (wenngleich er sich damit abfindet, dass dies momentan keine Mehrheiten in der Bevölkerung finden könnte).
Wer sich ein wenig mit Jeremy Corbyn auseinandersetzt, erkennt schnell, dass es sich entgegen den Darstellungen in weiten Teilen des Medienmainstream keineswegs um einen „linken Träumer“ oder „Radikalen“ i.S. einer Person handelt, die vom Durchschnitt der Bevölkerung völlig entrückte Positionen vertritt. „Radikal“ ist er in dem Sinne, dass seine Positionen unter den heutigen Machtverhältnissen einen grundlegenden Wandel einfordern, wobei er sich offenbar darüber im Klaren ist, dass dieser einen langen Atem braucht. Er zielt dabei primär auf eine gesellschaftliche Debatte und starke demokratische Beteiligung der Bevölkerung ab. Sein Auftreten zeichnet sich – ganz entgegen der Rhetorik von Thatcher – durch eine Betonung des kollektiven Handelns, sowie des positiven Freiheitsbegriffs8 aus. Er richtet sein Hauptaugenmerk dabei auf jene Dinge, die das direkte Lebensumfeld der Menschen betreffen, versäumt es jedoch nicht, positive Gesellschaftsideen zu wecken und den größeren politischen Rahmen darzustellen, über den entschieden werden kann. Er will nach eigenem Bekunden anstelle von Personen wieder Inhalte in den Vordergrund stellen, die zudem deutlich von der vorherrschenden Politik unterscheidbar sind. Hierbei ist er sich des Umstandes bewusst, dass ein großes Bedürfnis nach Wandel in der Bevölkerung vorhanden ist, das es möglichst zu bündeln gilt.
Die Unterhauswahlen 2015 haben anhand der hohen Gewinne der Scottish National Party gezeigt, dass man auch mit einer deutlich sozialer ausgerichteten Politik und wirtschaftspolitischen Alternativvorstellungen Wählermehrheiten in großen Teilen von UK gewinnen kann (und in den letzten Jahren eine deutliche Schwäche der Labour Party gerade darin bestand, die Wählerbasis in Schottland vernachlässigt zu haben). Über das mittlerweile erreichte Maß an Ungleichheit in UK sind selbst große Teile der WählerInnen von UKIP besorgt, wie Umfragen zeigen, wenngleich sie i.d.R. einen großen Skeptizismus gegenüber dem Staat an den Tag legen und eine fremdenfeindliche Einstellung aufweisen.9 Gleichwohl, die Austeritätspolitik der adligen Millionärsregierung von David Cameron, die nicht schwer erkennbar die Krisenkosten gerade auf die einkommensärmeren Bevölkerungsteile abwälzte (Sozialkürzungen, Erhöhung der Studiengebühren, Ausgabenreduktion im Gesundheitsbereich), hat bislang weniger Veränderungen im öffentlichen Meinungsbild bezüglich der Forderung nach Steuern und Staatsausgaben hervorgerufen, als man dies vielleicht erwarten würde (siehe erneut Abbildung 1). Doch gerade hier wären eben Kräfte gefragt, die den Widerstand bündeln und verhindern, dass unterschiedliche betroffene Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt werden.
Die größten Stärken jener Ideen und jenes politischen Ansatzes, den Jeremy Corbyn repräsentiert, bedingen zugleich seine größten Gefahren. Die alten Kräfte wissen, wie sehr sie abgewirtschaftet haben, sie wissen, wie sie selbst keine glaubwürdigen Erzählungen mehr anzubieten haben, unter denen Widerstandspotential innerhalb kalkulierbarer Bahnen bliebe. Zugleich wissen sie, wie viel schwieriger, in einer Welt vernetzter Ökonomien, von vertraglich zementiertem Freihandel und Kapitalverkehrsfreiheit, sowie der deregulierten internationalen Finanzmärkte, es geworden ist, einen wirtschaftspolitischen Kurs zu verfolgen, der sich nicht dem Diktat der großen Kapitalinteressen unterwirft.
Und sie sind umso bemühter darum, sich zusammenzuschließen, um nirgendwo auch nur den Hauch von Alternative erkennen zu lassen. So war es erst im Falle der griechischen SYRIZA-Regierung und ihres alternativen politischen Ansatzes beobachtbar geworden, dessen einzige Radikalität darin bestand, die neoliberale Radikalität der Etablierten aufzuzeigen. Hier kannte dann die Abwehrpropaganda keine Grenzen mehr und es wurde offen autoritär, und demokratiefeindlich gegen eine ganze Bevölkerung vorgegangen. So würden sich auch die etablierten Kräfte inner- und außerhalb von UK gegen eine Partei richten, die unter einem neuen Vorsitzenden und unter Beteiligung einer organisierten Basis das umzusetzen versuchte, womit Jeremy Corbyn in seinen Reden die Menschen zu überzeugen weiß: eine soziale und demokratische Politik, die sich in unseren Zeiten als so unerhört herausnimmt, dass sie trotz historischer Bewährtheit als gefährliche Phantasterei dargestellt werden kann. Auch Margret Thatcher würde sich wohl im Grabe umdrehen, wie ihr Lebenswerk abgewickelt werden soll.
Zusatz:
Am 12.9. wird er bekannt gegeben, der neue Parteivorsitzende der Labour Party.
Wer sich so oder so weiter mit dem Phänomen Corbyn auseinandersetzen will, sei auf ein Interview verwiesen, in dem sehr schön deutlich wird, wie eifrig (und vergeblich) sich der Fragensteller darum bemüht, jenen wunden Punkt zu finden, der den ZuschauerInnen endlich aufzeigt, dass der Interviewte sich außerhalb des Zulässigen bewegt:
“Jeremy Corbyn with Marr – plus Alex Salmond on Jeremy and #INDYREF2” (YouTube Kanal von Peter Curran, Juli 2015)
Wer einen tieferen Einblick in die politischen Ansichten des Labour Kandidaten wünscht, sei auf einen Auftritt in Brighton verwiesen:
“Jeremy Corbyn – Quiz Corbyn Q&A Brighton – July 18th 2015” (YouTube Kanal von Diwonisojo)
- Gemeint war natürlich der Sozialstaat, da „Sicherheits-“ und Repressionsstrukturen keineswegs abgebaut wurden. [↩]
- siehe „British Social Attitudes 32“, Kapitel „Benefits and welfare“, S. 6, NatCen Social Research [↩]
- siehe „British Social Attitudes 32“, Kapitel „Benefits and welfare“, S. 8, NatCen Social Research [↩]
- siehe „British Social Attitudes 32“, Kapitel „Benefits and welfare“, S. 10, NatCen Social Research [↩]
- siehe „British Social Attitudes 32“, Kapitel „Benefits and welfare“, S. 18, NatCen Social Research [↩]
- Als Hypothese hierzu sei an den Irak-Krieg in diesem Jahr erinnert, den die Bevölkerung in UK mit deutlicher Mehrheit ablehnte [↩]
- siehe hierzu z.B. „Warum schweigen die Lämmer? – Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagement“, Rainer Mausfeld, Juni 2015 [↩]
- “Befähigung zu”, anstatt “Freiheit von” [↩]
- siehe „British Social Attitudes 32“, Kapitel „Benefits and welfare“, S. 10, NatCen Social Research [↩]