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Von Mehrheiten und solchen, die es werden wollen

Wenn man zu jenen Menschen gehört, die linke Sichtweisen zur Einordnung gesellschaftlicher Entwicklungen zugrunde legen, anstatt mehr oder weniger unbewusst eine liberal-plurale Sichtweise1 auf die Geschehnisse in der westlichen Welt anzuwenden2, braucht man sich über die nachteilige Entwicklung in zentralen gesellschaftlichen Bereichen (Arbeit, Bildung, Gesundheit, Rente, Bürgerrechte, Frieden etc.) in Anbetracht doch eigentlich gestiegener Produktivkräfte und Möglichkeiten, zumindest nicht zu wundern und läuft vielleicht auch weniger Gefahr, sie zu verdrängen, zu verleugnen und ganz in die Vertrautheit und Verstehbarkeit des eigenen Nahumfeldes zu flüchten3. Aber auch als linksorientiertem Menschen kann es einem ob der zunehmend unverschämten Offensichtlichkeit und Plumpheit, mit der gegen die Interessen der Mehrheit agiert wird, häufiger schon die Sprache verschlagen. Wie lächerlich darf in Anbetracht der Verteilungsverhältnisse, Überwachungsmethoden und Bedrohungspropaganda die liberal-plurale Cover-Story eigentlich noch werden, damit endlich auch der massenmediale Mainstream sie den Leuten nicht mehr anzudrehen versucht?

Die Glaubwürdigkeit von “oben”

“Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken” (MEW 3). Auch wer der Aussage nur der Tendenz nach zustimmen mag4, jedoch die fortschreitende Schädlichkeit der Gedankenwelt der herrschenden Klasse, oder weniger theorielastig: der zunehmend abgeschottenen, bevölkerungsfernen Eliten5 erkannt hat, müsste doch stärker daran interessiert sein, in Erfahrung zu bringen, welche Übertragungs- und Erhaltungsmechanismen es sind, die trotz häufiger Widersprüchlichkeit, Doppelstandards und Geschichtsamnesie der Gedanken von “oben”, die gewünschte Wirkung erzeugen, indem sie die Menschen ruhig stellen, sie die direkten Nachteile für die eigene Situation nicht erkennen lassen, ihr Verhalten am Wahltag innerhalb bestimmter Grenzen halten oder sie bei Bedarf wiederum so beunruhigen, dass sie auch unliebsamen und Misstrauen erweckenden “Neuerungen” zustimmen.

Besonders als politisch Interessiertem fällt es einem zu Weilen doch sehr schwer daran zu glauben, dass die meisten Eliten selbst von der eigenen Agenda überzeugt sind, geschweige denn, dass die Bevölkerungsmehrheit an sie glauben kann. Doch in vielen Einzelfragen zumindest, tut letztere dies ja auch nicht, wie Umfragen etwa zu Mindestlohn, Reichensteuer oder Kriegseinsätzen gezeigt haben. Was diese Mehrheit häufig jedoch glaubt, ist, dass sie es glaubt. Ein Phänomen, das angewendet auf den Bereich von Regeln und Normen als pluralistische Ignoranz bezeichnet wird. Bevölkerungen sind eben keine Individuen, die unmittelbaren Einblick in die Summe und Überzeugungskraft der eigenen Gedanken (hier also der öffentlichen Meinung) haben. U.a. auf diese Weise sind sie allerdings auch anfälliger für Manipulationen als das einzelne Individuum, das doch relativ problemlos seine oder ihre eigenen Überzeugungen und Handlungsabsichten in Erfahrung bringen kann.

Vertrautheit als Quelle wahrgenommener Mehrheiten

Sozialpsychologische Experimente zur Quelle der Einschätzung von öffentlichen Meinungen zeigen, dass die Vertrautheit, die man gegenüber bestimmten Meinungspositionen empfindet, bzw. die Leichtigkeit, mit der man diese Positionen aus dem Gedächtnis abrufen kann, als starker Faktor bei der Einschätzung der Verteilung von Meinungen fungiert6. In einem der durchgeführten Experimente sollten die Versuchspersonen etwa die Mehrheitsverhältnisse in Abtreibungsfragen bei einer fiktiven neuen Partei einschätzen. Hierzu wurde ihnen mitgeteilt, dass sie zufällig ausgewählte Emails von Mitgliedern der Partei zu sehen bekämen. Ein Teil der Versuchspersonen erhielt hierbei eine Emailaussage in dreifacher Wiederholung (vom gleichen fiktiven Absender) dargeboten, so dass den Versuchspersonen deutlich wurde, dass es sich um einen bloßen Computerfehler handelte. Dennoch schätzten diese Versuchspersonen die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Partei für diese Position anschließend als höher ein, als jene Versuchspersonen, die der Vergleichsbedingung mit nur einer Darbietung zugeordnet waren. In anderen Experimenten, die jeweils unterschiedliche Situationen zur Mehrheitsbeurteilung erzeugten, war das Befundmuster das gleiche. Reine Wiederholungen einzelner Positionen oder Argumente, auch wenn sie von ein und dem gleichen Urheber ausgingen, führten dazu, dass die Versuchspersonen die Mehrheitsverhältnisse stärker in Richtung eben dieser Meinung wahrgenommen haben. Da Wiederholungen, die vom gleichen Urheber ausgehen, bzw. sogar als bloßer Darbietungsfehler erkannt werden, keine Quelle sinnvoller Faustregeln zur Einschätzung tatsächlicher Mehrheitsverhältnisse darstellen, scheint es so zu sein, dass Vertrautheit und Verfügbarkeit allein genügen, um Wahrnehmungen von Mehrheitsverhältnissen zu beeinflussen.

Wahrgenommene Mehrheiten, die Mehrheiten und Legitimität erzeugen

Derartig falsch wahrgenommene Mehrheiten, die besonders von einem medialen Apparat erzeugt werden können, der aufgrund diverser Faktoren weitgehend (und dabei den meisten Akteuren unbewusst) im Interesse herrschender Eliten operiert7, tragen wiederum das Potential in sich, über Konformitätsdruck oder auch bloße Bequemlichkeit, allmählich Mehrheiten auch bei Einzelfragen herbeizuführen, die vormals noch von einer Mehrheit abgelehnt wurden. Besonders bei solchen Angelegenheiten, in denen der Bevölkerung wenig Gelegenheit zur Aneignung von Rahmenwissen geboten wird (wie dies z.B. in außenpolitischen oder makroökonomischen Fragen der Fall ist)8, und somit dem oder der Einzelnen i.d.R. wenig bis keine gefestigten Argumente gegen bestimmte vehement kolportierte Auffassungen (z.B. “demographischer Wandel erzwingt Rentenkürzung”, “wir haben über unsere Verhältnisse gelebt”, “Arbeitslosigkeit ist ein Problem persönlicher Motivation”, “die NATO ist unerlässlich für die Sicherheit”) einfallen mögen, ist es doch leichter, sich der anfangs, vielleicht noch fälschlich, wahrgenommenen Mehrheitsmeinung anzuschließen, so dass der Rechtfertigungsdruck der eigenen Meinung, die sich evtl. auch außerhalb eines vermeintlichen Konsenses befinden könnte, von den Schultern genommen wird.9

Eine Studie von Todorov und Mandisodza10 zeigt für die US-amerikanische Öffentlichkeit spannende Zusammenhänge auf, was die Wahrnehmung der öffentlichen Meinung und die eigene Einstellung zu außenpolitischen Fragen betrifft. Vor die Frage gestellt, ob die Vereinigten Staaten bei der Lösung internationaler Probleme eher als “herausgehobener Weltführer” (“preeminent world leader”, Antwort 1) fortfahren sollen oder eher ihren “angemessenen Anteil” (“fair share”) in Anstrengungen mit anderen Staaten übernehmen sollen (Antwort 2) oder sich aus den meisten internationalen Problemen zurückziehen sollen (Antwort 3), wählten 16,4% der Befragten Antwortkategorie 1, während die Mehrheit von 71,1% Antwortkategorie 2 zustimmte. Wurden die Befragten dazu aufgefordert, einzuschätzen, wie die Mehrheitsverhältnisse bei diesen Antwortkategorien in ihrer eigenen Bezugsgruppe (US-Bevölkerung) aussehen, wurde Kategorie 1 im Durchschnitt mit 35,3% deutlich überschätzt. Auch bei den anderen Fragen zu einem unilateralen vs. multilateralen außenpolitischen Vorgehen der Vereinigten Staaten überschätzten die Befragten im Durchschnitt das Vorherrschen unilateraler Positionen in ihrer eigenen Bezugsgruppe systematisch. Hierbei wurde zusätzlich aufgezeigt, dass gerade jene Befragten, die in der Bevölkerung eine Mehrheit für ein unilaterales Vorgehen der Vereinigten Staaten sahen, dem zum Zeitpunkt der Erhebung kurz bevorstehenden völkerrechtswidrigen Irak-Krieg in ihren Antworten deutlich weniger Ablehnung entgegenbrachten. Dies galt sowohl für diejenigen, die als persönliche Position ein unilaterales Vorgehen der Vereinigten Staaten grundsätzlich befürworteten, als auch für diejenenigen, deren persönliche Position einer multilateral ausgerichteten Außenpolitik entsprach. Insgesamt legen die Ergebnismuster der Studie nahe, dass die Menschen in den USA die Befürwortung einer US-amerikanischen Außenpolitik, die weniger Rücksicht auf die Belange anderer Länder nimmt, einerseits in der Bevölkerung deutlich überschätzen und dass andererseits mit dieser Überschätzung eine stärkere wahrgenommene Legitimität für unilaterales und kriegerisches Agieren einhergeht.

Das öffentliche Bewusstsein als Adressat gesellschaftlichen Wandels

Die beobachtbar verzerrte Wahrnehmung öffentlicher Meinungen, die wohl besonders aus Wiederholungen und Dauerbotschaften ressourcenstarker Interessensgruppen resultiert, die Methoden derartiger Beeinflussungsinstanzen i.A. jedoch, sind Mittel, mit denen soziale und ökonomische Realitäten geschaffen werden, die nicht als Ergebnis demokratischer Prozesse gelten können, in denen sich die grundlegenden und langfristigen Bedürfnisse der meisten Menschen widerspiegeln. Sie weisen jedoch auf die Dringlichkeit der dauerhaften Auseinandersetzung mit den Prinzipien der öffentlichen Meinungsbildung hin, die in gesellschaftskritischen Kontexten meinem Eindruck nach doch noch deutlich zu kurz kommt. Ausgefeilte Argumente und Faktenberge, die das liberal-plurale Weltbild wieder und wieder seiner Unangemessenheit überführen und zugleich schlagende Fehlentwicklungen, sowie die politischen Alternativen zum Bestehenden aufzeigen, sind sicherlich notwendig, um sich des eigenen Anliegens sicher zu sein und auf die Zustimmung vieler Menschen hoffen zu dürfen. Dies alles wird sich jedoch erst dann in die Richtung einer gesellschaftlichen Gegenrealität verändern lassen, wenn sich Wissen und Ansichten auch so weit verbreiten, dass sie glaubwürdige Alternativen für weite Bevölkerungsteile darstellen. Damit dies in Anbetracht der aberwitzig asymmetrischen Macht- und Ressourcenverteilung jedoch gelingen kann – allein das Pentagon verfügte laut Zeitungsberichten 2009 über 27000 PR-Angestellte und 4,7 Mrd. US-$ finanzieller Mittel, um auf Medien und öffentliche Meinung einzuwirken -, braucht es neben Organisierung und der Suche nach Bündnispartnern auch die Ausarbeitung von konzertierten Strategien, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen. Kommerziellem Trommelfeuer, gesellschaftlicher Fragmentierung, umfassenden Propagandaanstrengungen, wirkmächtigen Falscherzählungen und dem nachvollziehbaren Bedürfnis nach Flucht ins Private muss hierbei Rechnung getragen werden, wenn man der Agenda einflussreicher Interessen nicht nur hinterherlaufen möchte und dabei mit ansehen will, wie Schritt für Schritt und unaufhaltsam weitere tiefgreifende Missstände zementiert werden11.

Wer es mit dem Anliegen einer Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse hierzulande und anderswo ernst meint und die Überzeugung in sich trägt, dass viele Fehlentwicklungen nur durch einen Wandel im Großen aufzuhalten und umzukehren sind, sollte jedenfalls verstärktes Augenmerk auf Strategien richten, mit denen sich die vorhandenen Schnittmengen der sozialen und friedensorientierten Alternativen zum Bestehenden dauerhaft im öffentlichen Bewusstsein verankern lassen. Ideen leben von den Trägerinnen und Trägern, die sie verbreiten und ihnen zur Handlungswirksamkeit verhelfen. Hier wäre auch über verschlungenere Pfade nachzudenken. Die Propaganda-Schurken jedenfalls taten und tun es (als vielleicht berühmtestes Beispiel sei etwa auf Edward Bernays verwiesen). Auch wenn man sich ihrer anti-aufklärerischen Methoden nicht bedienen will, so gilt es doch, diese systematisch in den Blick zu nehmen und Gegenmaßnahmen zu erproben. Eines aber kann jede und jeder bereits sofort zu den gesellschaftlichen Alternativen beitragen: ihre oder seine Meinung darstellen, wieder und wieder, denn öffentliche Meinung leidet unter schlechtem Gedächtnis und verengter Aufmerksamkeit, verlässt sich jedoch stark auf ein Gefühl der Vertrautheit. Ob diese Meinungsdarstellungen nun wohl formuliert daherkommen oder holprig anmuten, ihr Vorhandensein allein, so zeigen die Studien, steigert bereits die Wahrnehmung dafür, dass es auch andere Positionen gibt, als jene, die man aufgrund bloßer Dauerwiederholungen mit der entschlossenen Position einer Mehrheit oder gar Notwendigkeit verwechselt.

 

  1. = Mehrheitsinteressen setzen sich durch, Politik betreibt weitgehend “Gemeinwohloptimierung” in einer Welt, die “eben sehr kompliziert ist” etc. etc., man könnte es auch die politische Theorie der gymnasialen Oberstufe nennen []
  2. Ein Theorieansatz, der für die Vereinigten Staaten nun sogar anhand der doch so gehypten Methode von Modellrechnungen entkräftet werden konnte, siehe Gilens & Page (forthcoming), Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens []
  3. Ein Phänomen das auch als Cocooning bezeichnet wird. []
  4. Bei nahumfeldfernen Themen wird sie aufgrund des mangelnden alternativen Ideenangebots sicherlich umso gültiger []
  5. Auch wenn diese Gleichsetzung ein No-Go für viele Marxist*innen darstellen dürfte []
  6. Siehe Weaver, Garcia, Schwarz & Miller (2007), Inferring the Popularity of an Opinion From Its Familiarity: A Repetitive Voice Can Sound Like a Chorus []
  7. Hier werde ich nicht müde, auf das umfassende Propagandamodell von Herman und Chomsky zu verweisen: “A Propaganda Model” (S. 257), das, obwohl 1988 anhand zahlreicher empirischer Befunde für die Vereinigten Staaten aufgestellt, zwar einige Modifikationen zur Übertragbarkeit auf andere Länder und die heutige Zeit benötigt, jedoch, trotz gewisser Einschränkungen, hoch plausible Mechanismen zur Erklärung der in wesentlichen Fragen stark reduzierten Pluralität und nicht selten befangenen Darstellungsweise, z.B. bei der Thematisierung weltpolitischer Ereignisse, anbietet, wie es in den Mainstreammedien beobachtet werden kann. []
  8. Je entfernter und abstrakter Themen wirken, desto schwieriger wird es Menschen fallen, Motivation und Zeit auf diese zu verwenden, doch ist dies natürlich auch eine Frage institutioneller Bildung, die im demokratischen Auftrag doch auch besonders auf diese kausal wesentlichen Themenfelder ausgerichtet sein könnte. Dies ist sie in Anbetracht bestehender Verhältnisse und interessensbasierter Beschränkungen jedoch gerade nicht, schließlich müssten hierzu jene gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Institutionen vornehmlich und in letzter Instanz den Interessen der Mehrheit zu dienen hätten, ja erst einmal bestehen. []
  9. Hier sei auch auf die Theorie der Schweigespirale der Allensbachforscherin Noelle-Neumann verwiesen, in der jedoch spezifischere Annahmen gemacht werden. Die Überzeugung von der Anwendbarkeit ihrer Theorie auf den SPD-Wahlkampf in den 60er und 70er Jahren braucht man sicherlich nicht teilen, um dennoch plausible Elemente der Theorie im Allgemeinen würdigen zu können. []
  10. Siehe Todorov und Madisodza (2004), Public Opinion On Foreign Policy – The Multilateral Public that Perceives Itself as Unilateral []
  11. So etwa das neoliberale “economic governance”-System, das im Zuge der Finanzkrise innerhalb der EU implementiert wurde; die geplanten umfassenden “Frei”handelsabkommen (TiSA, CETA, TTIP), die selbst noch die Formaldemokratie zu suspendieren drohen; die Neuauflage der Ost-West-Konfrontation oder die Militarisierung deutscher Wirtschaftsinteressen []

Jascha Jaworski

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